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TRENDS
16. August 2016
GLOBALISIERUNG AUF DEM PRÜFSTAND
von Dr. Jörn Quitzau
Die Globalisierung steckt in einer Imagekrise. Angesichts
der beachtlichen Performance der Weltwirtschaft in den
vergangenen zwei Dekaden ist dies – mindestens auf den
ersten Blick – erstaunlich. Mit Wachstumsraten von durchschnittlich 3,5 % zwischen 1995 und 2015 hat sich die
Weltwirtschaft sehr dynamisch entwickelt und damit die
materielle Situation vieler Menschen spürbar verbessert.
Entgegen den ursprünglichen Befürchtungen vieler Globalisierungskritiker haben nicht nur die wohlhabenden Industrieländer, sondern insbesondere die Schwellenländer
profitiert.
Trotzdem kommt keine Begeisterung auf. Vielmehr machen sich erneut globalisierungskritische Tendenzen breit.
Um die Jahrtausendwende rekrutierten sich die Gegner der
Globalisierung noch überwiegend aus dem eher kleinen
Lager derjenigen, denen Marktwirtschaft und Kapitalismus
schon immer suspekt waren. Heute ziehen sich die ablehnenden Haltungen quer durch die Gesellschaft. Beispiele
für Probleme, die mit der Globalisierung in Verbindung
gebracht werden können, gibt es genug: 1. Das Votum der
Briten, die Europäische Union zu verlassen, wird von vielen Beobachtern auch als Votum gegen die Globalisierung
interpretiert. 2. Beide US-Präsidentschaftskandidaten, Hillary Clinton und Donald Trump, gelten nicht als Freunde des
internationalen Handels.1 Offensichtlich lasten beide Kandidaten wirtschaftliche und gesellschaftliche Fehlentwicklungen zumindest teilweise der Globalisierung an. Unabhängig vom Wahlausgang werden die USA die Globalisierung künftig also tendenziell ausbremsen. 3. Das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP trifft in der Bevölkerung – insbesondere in Deutschland – auf heftigen Widerstand. Selbst in einer Exportnation wie Deutschland ist eine
weitere Liberalisierung des Handels offenkundig kein
Selbstläufer. 4. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnet
die Flüchtlingskrise als „historische Bewährungsprobe in
Zeiten der Globalisierung“.
Vgl. dazu auch Mickey Levy, US presidential candidates‘ economic platforms, Berenberg Economics vom 28. April 2016,
S. 11.
Was ist Globalisierung?
Globalisierung bezeichnet die weltweite wirtschaftliche und
gesellschaftliche Verflechtung. Schon in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts begann eine erste Globalisierungsphase2 – ohne dass sie damals als solche bezeichnet wurde.
Obwohl internationaler Handel und wirtschaftliche Verflechtung schon sehr alte Phänomene sind, hat sich der
Begriff Globalisierung erst in den 1990er Jahren durchgesetzt. Noch zu Beginn des Jahrzehnts tauchte der Begriff in
den Medien kaum auf, erlebte dann aber eine rasante Popularität (siehe Abb. 1). Im Jahr 1993 wurde das Wort Globalisierung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung insgesamt
34 Mal genannt. Nur acht Jahre später, also 2001, waren es
1.136 Nennungen – das ist eine Steigerung von über
3.200 Prozent. In dieser Zeit muss also etwas passiert sein,
was der internationalen Verflechtung von Wirtschaft und
Gesellschaft einen grundlegend neuen Charakter gegeben
hat und wofür ein prägnantes Schlagwort gefunden werden
musste.
Abbildung 1: Die „Karriere“ des Begriffs Globalisierung
Jährliche Nennungen des Begriffs Globalisierung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
(FAZ). Quelle: FAZ.
Ursachen der Globalisierung
Im Wesentlichen hat die Globalisierung drei Ursachen:
1. Abbau von Handelshemmnissen: Die politisch vorangetriebene systematische Liberalisierung der Güter-,
1
1
Vgl. Berenberg/HWWI (2014), Freihandel, Strategie 2030, Band
20, S. 31 ff.
2
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Finanz- und Arbeitsmärkte bildet bereits seit Jahrzehnten die Grundlage für die internationale Verflechtung.
2. Die politische Ost-West-Entspannung um das Jahr
1990 herum ermöglichte die globale Ausbreitung des
marktwirtschaftlichen Systems. Kommunismus und
Sozialismus hatten abgewirtschaftet. Wo zuvor noch
der Eiserne Vorhang für die Marktwirtschaft quasi „das
Ende der Welt“ bedeutete, waren die Grenzen nun
plötzlich offen. Aus internationalem Handel wurde
globaler Handel.
3. In den 1990er Jahren begann eine neue technologische
Revolution mit der rasanten Ausbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologie. Damit einher
ging ein drastischer Verfall der Transaktionskosten. So
sanken beispielsweise die Kosten für ein 3-minütiges
Telefonat von New York nach London zwischen 1990
und 1999 um fast 95 Prozent.
Zwei der drei Faktoren fallen auf die Zeit seit 1990. Zusammengenommen haben diese unterschiedlichen Faktoren
eine ungeheure Dynamik entwickelt. Gleichzeitig hat sich
dadurch aber auch das Gesicht des internationalen Handels
verändert.
Mobilität von Gütern und Produktionsfaktoren
Internationaler Güterhandel wird traditionell mit international bestehenden Preisunterschieden erklärt. Jedes Land
hat bei der Produktion bestimmter Güter relative Kostenvorteile – sei es wegen reichlich vorhandener natürlicher
Ressourcen, wegen überlegener Produktionstechnologie
oder wegen billiger Arbeitskräfte. Gemäß Lehrbuch spezialisieren sich die Länder auf die Produktion derjenigen Güter, bei denen sie relative Kostenvorteile haben, um anschließend Handel mit den Ländern zu treiben, die sich auf
andere Güter spezialisiert haben. Am Ende geht es allen
Ländern dank der Spezialisierung, also dank der internationalen Arbeitsteilung, besser.
Bis in die 1990er Jahre war es der Regelfall, dass die Arbeitskräfte – abgesehen von höher qualifizierten Spezialisten – international nur wenig mobil waren. Die Produktion
fand im Inland statt und die Güter wurden anschließend ins
Ausland exportiert. Seit den 1990er Jahren hat sich dieses
Bild gewandelt: Arbeitnehmer wurden zunehmend mobil
und gehen inzwischen viel selbstverständlicher dorthin, wo
die Arbeitsplätze sind – auch ins Ausland.
Ökonomisch betrachtet ist es kein Unterschied, ob Angestellte der hiesigen Automobilindustrie mit billigen Arbeitskräften der Automobilindustrie in Asien konkurrieren oder
ob auf deutschen Baustellen inländische Bauarbeiter auf
„Billigkonkurrenz“ aus Osteuropa treffen. Psychologisch ist
es dagegen sehr wohl ein großer Unterschied, ob man denjenigen quasi Auge in Auge gegenübersteht, mit denen man
um Arbeitsplätze, Löhne und Sozialleistungen konkurriert.
Die Globalisierung hat eine Reihe von Facetten, die in den
theoretischen Modellen ökonomischer Lehrbücher nicht
oder nur unzureichend berücksichtigt werden (können).
Effizienz vs. Fragilität
Dass die Globalisierung zu mehr Effizienz, zu mehr
Wachstum und zu mehr verteilbarem Wohlstand führt, ist
unbestritten. Wo Handelshemmnisse beseitigt werden,
können die Produktionsfaktoren effizienter genutzt werden. In den vergangenen Jahren ist aber deutlich geworden,
dass die höhere Effizienz von zunehmender Instabilität
begleitet wird. Um es zuzuspitzen: Der Preis für höhere
Wachstumschancen ist zunehmende Fragilität. Wäre die
Wirtschaft international nicht so stark vernetzt, dann wären
die großen globalen Krisen der letzten Jahre wohl nicht
über den Status regional begrenzter Probleme hinausgekommen.
So konnte die amerikanische Subprime-/Lehman-Krise nur
deshalb zur Gefahr für das globale Finanzsystem und die
Weltwirtschaft werden, weil die Problemkredite zuvor mittels innovativer Finanzprodukte portioniert und in die ganze Welt exportiert worden waren. Auch die griechische
Staatsschuldenkrise hätte sicher einen anderen Verlauf genommen. Griechenland hätte einen Staatsbankrott hingelegt und die Gläubiger Griechenlands hätten einen Großteil
ihres Geldes verloren. Viel mehr wäre wohl nicht geschehen – wäre da nicht die starke internationale Vernetzung,
die Mitgliedschaft Griechenlands in der Europäischen
Währungsunion und die vorausgegangene tiefe Verunsicherung der internationalen Finanzmärkte wegen der Subprime-/Lehman-Krise gewesen.
Die Weltwirtschaft ist also anfälliger geworden. Probleme
am anderen Ende der Welt können zur nennenswerten
Gefahr für die heimische Konjunktur werden. So entsteht
zuweilen der Eindruck eines permanenten Krisenmodus,
ohne dass es dafür hausgemachte Gründe gibt. Für den
Bürger kann sich in einer solchen Gemengelage das Gefühl
einstellen, unverschuldet aus dem Gleichgewicht geraten zu
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sein. Lang bewährte Gewissheiten geraten wegen der wirtschaftlichen Fragilität ins Wanken, Lebenspläne geraten in
Gefahr. Beim einzelnen Bürger wächst der Unmut, selbst
wenn die gesamtwirtschaftlichen Kennzahlen noch zufriedenstellend ausfallen. Die Globalisierung wird in Zweifel
gezogen.
Unzutreffende Problemdiagnose
Nicht immer ist dabei die Problemdiagnose richtig. In unserer komplexen, unübersichtlichen Welt fällt es dem Einzelnen zunehmend schwer, die Ursachen für Fehlentwicklungen zutreffend zu identifizieren. So haben alle negativen
Folgen, die aus dem demografischen Wandel resultieren,
herzlich wenig mit der Globalisierung oder mit dem anderen Generalverdächtigen dieser Tage, der Europäischen
Union, zu tun. Wenn beispielsweise der Zins sinkt, weil der
demografische Wandel mehr Vorsorgesparen erfordert und
wenn zudem das Renteneintrittsalter angehoben werden
muss, dann ist beides nicht der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung anzulasten. Dennoch werden sowohl die
Globalisierung als auch die Europäische Union (als Teilaspekt der Globalisierung) heute gern zu Sündenböcken für
alle möglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen gemacht. Gleiches gilt für den wirtschaftlichen Wandel, der aus der Digitalisierung resultiert.3 Der
technische Fortschritt würde auch ohne Globalisierung
stattfinden, wahrscheinlich nur nicht ganz so schnell. Aufklärung über wirtschaftliche Zusammenhänge kann hier in
Grenzen Abhilfe schaffen.
Verteilungskonflikte / Sozialstaatliche Regelungen
Die Auswirkungen der Globalisierung auf die Einkommensverteilung wurden in der Vergangenheit nicht ausreichend bedacht. Für Ökonomen sind wirtschaftspolitische
Maßnahmen bereits dann von Vorteil, wenn die daraus
resultierenden Gewinne einer Gruppe die Verluste einer
anderen Gruppe übersteigen. Denn prinzipiell könnten die
Gewinner ja die Verlierer für ihre Verluste kompensieren
und es bliebe immer noch ein Nettogewinn übrig – so die
wohlfahrtsökonomische Logik. Ob die Verlierer tatsächlich
kompensiert werden, spielt in der wohlfahrtsökonomischen
Theorie allerdings keine Rolle, es reicht die prinzipielle
Kompensationsmöglichkeit. Außerhalb des volkswirtschaftlichen Lehrbuchs ist für die Menschen aber sehr wohl von
Bedeutung, wie sich durch wirtschaftspolitische Maßnah-
men ihre absolute und relative Einkommensposition ändert. Die abnehmenden Zustimmungswerte zur Globalisierung deuten darauf hin, dass sich ein nennenswerter Teil
der Bevölkerung von der dynamischen Globalisierung und
dem strukturellen Wandel abgehängt fühlt.
Aktuell kommt insbesondere in Deutschland erschwerend
hinzu, dass der Sozialstaat, der die Folgen des Strukturwandels für den Einzelnen abfedern soll, auf absehbare Zeit
auch die finanziellen Folgen der Flüchtlingskrise bewältigen
muss. Selbst der inländische Sozialstaat wird also inzwischen von den Folgen internationaler Krisen beansprucht.
Der daraus resultierende Verteilungskonflikt wird momentan zum Glück durch die konjunkturbedingt sprudelnden
Steuereinnahmen entschärft.
In Großbritannien wurde das Referendum über den Verbleib in der Eurozone maßgeblich durch die Sorge bestimmt, EU-Ausländer könnten massenweise nach Großbritannien kommen, um dort Sozialleistungen zu beziehen.
Unabhängig davon, ob diese Sorgen berechtigt waren, zeigt
das Beispiel, welchen Stellenwert Verteilungsfragen inzwischen haben.
Ein richtig konzipierter Sozialstaat ist ein wichtiger volkswirtschaftlicher Produktivfaktor, gerade auch im globalen
Wettbewerb. Der Sozialstaat unterstützt nicht nur die wirklich Hilfsbedürftigen, ein aktivierender Sozialstaat erhöht
auch die wirtschaftliche Dynamik, weil die Risikobereitschaft gestärkt wird. Wenn unternehmerisches Scheitern
nicht den Fall ins Bodenlose bedeutet, steigt die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen. Nach den
Vordenkern der Sozialen Marktwirtschaft gewinnt der Leistungswettbewerb seine Legitimation sogar dadurch, dass er
durch die soziale Absicherung der Beteiligten, die in diesem
Wettbewerb nicht mithalten können, ergänzt wird.
Ausblick
Die Globalisierung ist wirtschaftlich ein Segen. Allein der
Blick auf den deutschen Außenhandel zeigt, wie global die
deutsche Wirtschaft heute ausgerichtet ist (siehe Abb. 2).
Dabei wird vor allem deutlich, dass gut zwei Drittel des
deutschen Außenhandels innerhalb Europas stattfindet.
Somit ist klar, dass aus wirtschaftlicher Sicht der Zusammenhalt Europas an erster Stelle stehen muss.
Vgl. Berenberg/HWWI (2014), Digitalökonomie, Strategie
2030, Band 21.
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Abbildung 2: Deutscher Außenhandel
Deutscher Außenhandel 2013 nach Ländergruppen (in %). Äußerer Kreis: Ausfuhren, innerer
Kreis: Einfuhren. Quelle: Statistisches Bundesamt.
Ohne die Zustimmung der Bevölkerung wird der weitere
Globalisierungsprozess erhebliche Reibungen und damit
Kosten verursachen. Die Politik kann und soll die Globalisierung nicht stoppen. Aber sie kann in Grenzen das Tempo mitbestimmen und sie kann die Globalisierung gestalten.
Künftig werden Verteilungsaspekte ein größeres Gewicht
erhalten.
Zudem muss künftig viel mehr Acht darauf gelegt werden,
dass die Globalisierung „fehlerfreundlicher“ gestaltet wird.
Störfälle, die zweifellos auch in Zukunft auftreten werden,
müssen besser verkraftbar sein und dürfen nicht – wie so
oft in den vergangenen Jahren – gleich zu Weltuntergangsstimmung führen. Ein Baustein ist die Stärkung internationaler Institutionen. Überall dort, wo grenzüberschreitende
Problemlagen bestehen oder auftreten können, sind Institutionen mit grenzüberschreitenden Lösungskompetenzen
erforderlich. Finanzkrisen oder der Klimawandel machen
nicht an nationalen Grenzen halt. Oft sind bei wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen dezentrale Lösungen (Kommunal-, Länder- oder Bundesebene) optimal.
Aber dort, wo nationale Institutionen überfordert sind,
braucht es europäische oder gar globale Institutionen. Entscheidend ist, die Reichweite der handelnden Institutionen
mit der Reichweite der zu bewältigenden Probleme in
Übereinstimmung zu bringen. Wenn dies gelingt, sollte
auch die Imagekrise der Globalisierung überwunden werden können.
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