Neuanfang besiegelt

Land & Wirtschaft
LAND & WIRTSCHAFT
Spezial
Mittwoch, 10. August 2016,
Nr. 185
n Seite 3: Turbo-Monopoly: Saatgut- und Pestizidkonzerne unter Fusionsdruck. Von Andreas Riekeberg n Seite 4: Land
and Freedom: Fehlender Zugang zu Anbauflächen ist noch immer ein Haupthindernis auf dem Weg zu einer sozialen
und ökologischen Agrarwende. Von Uwe Hoering n Seite 7: Unbefangene Behörde? Die Debatte um das Pflanzengift
Glyphosat und das Bundesinstitut für Risikobewertung. Von Peter Clausing n Seite 8: Bauernopfer für die Autoindustrie:
TTIP und Landwirtschaft. Von Mute Schimpf
Wut in Brüssel: Im September vergangenen Jahres protestierten rund 6.000 Bauern aus ganz Europa gegen die EU-Agrarpolitik und fehlende Unterstützung für notleidende Milchbauern und Mäster
JACKY NAEGELEN/REUTERS
Bauernlegen 4.0
Die Milchpreiskrise hat zu massenhaftem Höfesterben geführt. »Hilfen« aus Brüssel verschärfen die Situation
in der EU – und tragen zur Vernichtung von Existenzen in Entwicklungsländern bei. Von Jana Frielinghaus
A
uch Burkhard Schultz
denkt ans Aufhören.
»Diese Verluste, die wir
hier täglich erleiden, das
hält niemand durch«,
sagt der Chef der Landwirtschaftlichen
Produktions- und Dienstleistungsgenossenschaft Biesen nahe Wittstock. In
dem 1.500-Hektar-Betrieb im Nordwesten Brandenburgs werden täglich 300
Kühe gemolken. Seit zwei Monaten
bekommt der Betrieb weniger als 20
Cent pro Liter Milch ausgezahlt. Schon
im Herbst 2014 sanken die Preise von
damals 37 bis 40 Cent stark ab. Kurz
nach dem Fall der EU-Milchquote Ende
März vergangenen Jahres brachen sie
weiter ein auf 25 bis 29 Cent, verharrten
lange auf diesem längst nicht kostendekkenden Niveau und stürzten seit April/
Mai noch einmal ab.
Burkhard Schultz ist sicher, »dass
man weder mit 20 noch mit 22 Cent pro
Liter die Milcherzeugung nachhaltig
rentabel organisieren kann«. Niemand
könne das in Deutschland. »Für uns
wären 35 bis 37 Cent kostendeckend,
um nachhaltig produzieren zu können«,
sagt er. Das bedeutet, dass auch anfallende Ersatzinvestitionen eingerechnet
sind: Bausubstanz muss erhalten, veraltete und marode Technik ausgetauscht
werden. In seinem Betrieb sind derzeit
20 Menschen in Lohn und Brot. Wird
die Milchviehhaltung eingestellt, stünden mindestens acht von ihnen ohne
Job da. Warum die Kühe noch da sind?
»Wir haben schon in den 90er Jahren
eine Tochtergesellschaft gegründet, in
der Mutterkühe gehalten und Mastrindkälber aufgezogen werden«, berichtet
Burkhard Schultz. »Weil wir uns auch
als Zuchtbetrieb einen Ruf erarbeitet
haben, können wir Tiere oft zu einem
guten Preis verkaufen. Weil wir dieses
weitere Standbein haben, kommen wir
zur Zeit trotz dieser wirklich katastrophalen Krise noch über die Runden.«
Das Problem für Milchviehhalter: Sie
haben Ställe, die vor zehn, 20 oder 30
Jahren mit Hilfe von langfristigen Darlehen gebaut wurden. Der Pachtzins für
die bewirtschafteten Flächen steigt seit
Jahren parallel zu den Bodenpreisen.
Denn nach der Finanzkrise 2007/2008
entdeckten Spekulanten Ackerland als
sichere Anlage. Dazu kommt: »Die
Milch muss jeden Tag weg, um frisch
verarbeitet zu werden«, so Burkhard
Schulz. Man kann sie nicht wie Getreide
zurückhalten und auf einen besseren
Preis warten.
Wegen der Krise haben viele Bauern
inzwischen weitere Kredite aufgenommen – in der Hoffnung auf in absehbarer
Zeit bessere Verhältnisse. Sie stecken
längst in einer Art Schuldknechtschaft
nicht nur gegenüber Banken, sondern
auch gegenüber Maschinen-, Futter-,
Saatgut-, Düngemittel- und Spritzmittelhändlern fest. Viele müssen ihre Ernte schon vor der Saat bei Lieferanten
verpfänden.
Aktuell kommt hinzu, dass der Preis
von Weizen, Gerste und Co. trotz eines international sinkenden Angebots
an den Börsen offenbar künstlich klein
gehalten wird. Burkhard Schultz: »Die
Getreidepreise sind derzeit um 20 bis
30 Prozent niedriger als im vergangenen
Jahr. Dazu kommt, dass bei uns auch
der Ertrag deutlich schlechter ausfallen
wird.«
Die Zwangslage der Milchviehhalter
strahlt unterdessen längst auf die erwähnten Handelspartner aus, unter denen zahlreiche kleine und mittlere Bauund Handwerksbetriebe sind. Sie führt in
erheblichem Umfang zu Kurzarbeit und
Entlassungen im ländlichen Raum.
Kosten der
Milcherzeugung:
www.europeanmilkboard.org/de/specialcontent/produktionskosten-der-milch.html
Aktuelle Daten zu Milchmengen und -preisen in
der EU: www.milk.de
Forschungsprojekt
zur Wirtschaftlichkeit
einer Milchviehhaltung
ohne Kraftfutter:
www.landforscher.de
Preiskrieg
Neoliberale Diktate zwingen viele Landwirte in der BRD und weltweit in eine Art
Schuldknechtschaft: nicht nur gegenüber
Banken, sondern auch gegenüber Agrokonzernen. Fusionsdruck bei der Saatgutund Pestizid­industrie verschärft die Situation, Umweltschutz wird zur Nebensache.
Datensammlung zur
Lage der Landwirtschaft:
www.bauernverband.
de/situationsbericht-2015-16
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1947 · MITTWOCH, 10. AUGUST 2016 · NR. 185 · 1,50 EURO (DE), 1,70 EURO (AT), 2,20 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
WWW.JUNGEWELT.DE
Verfolgungsfuror
Zweitjob
Stromgitarren
Staatsumbau
3
5
11
12
KPD-Verbot vor 60 Jahren: Der
­empfindlichste Schlag gegen die
Linke seit Gründung der BRD
Große Verdienste: Wie sich Bundestagsabgeordnete mit Nebeneinkünften die Taschen füllen
Massenvergnügung im Feuchtgebiet:
Das war das Wacken Open Air
2016. Von Rüdiger Wartusch
Über die politische Landschaft der
Türkei nach dem gescheiterten
Putsch vom 15. Juli
Welle rechter Gewalt
Vorerst keine EU-Strafen
gegen Portugal und Spanien
Brüssel. Die Finanzminister der
Europäischen Union sind dem
Vorschlag der EU-Kommission gefolgt, gegen Spanien und Portugal
trotz überhöhter Haushaltsdefizite
vorerst keine Strafzahlungen zu
verhängen. Das teilte der Europäische Rat am Dienstag mit. Den
beiden Ländern wurden neue Fristen gesetzt, um die von der EU als
»Fehlentwicklungen« bezeichnete
Haushaltspolitik zu korrigieren.
Portugal soll nunmehr sein Defizit
bis Ende dieses Jahres unter die
Dreiprozentmarke senken – eine
Fristverlängerung von einem Jahr.
Spanien wird dafür bis 2018 Zeit
gegeben – eine Verlängerung von
zwei Jahren. Beide Länder sollen
konkrete Pläne zur Erreichung
dieses Ziels bis zum 15. Oktober
vorstellen.
(Reuters/jW)
Pöbeleien, Übergriffe, Brandstiftungen: Rassistischer Terror gehört in Deutschland
zum Alltag. Von Michael Merz
D
Nach Brandanschlag in Berlin-Buch: Christian Schmidt (Mitte), Direktkandidat der NPD Pankow, am Tatort (8.8.2016)
ten auch den Nachmittag nach dem
Anschlag eiskalt für ihre Publicity,
hängten vor dem Heim Wahlplakate
mit dem Spruch »Deutschland uns
Deutschen« auf. Berlins Innensenator
Frank Henkel (CDU), der sonst ohne
Tatverdacht die Verantwortung für jedes brennende Auto der Stadt sofort
»gewaltbereiten Linksextremen« in die
Schuhe schiebt, mahnte zur Zurückhaltung: »Ich empfehle jedem, beim
jetzigen Stand der Ermittlungen keine
Vorfestlegung in irgendeine Richtung
zu treffen.« Das BKA hat laut Statistik
vom 2. August in diesem Jahr bereits
665 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte registriert, davon waren »613
eindeutig rechts motiviert«. Im ersten
Halbjahr 2015 waren es »nur« 202
Attacken. Von den 665 Delikten dieses Jahres waren 55 Brandstiftungen,
in vier Fällen das Herbeiführen einer
Sprengstoffexplosion. 6.548 Straftaten
von Neonazis zählte die Bundesregierung insgesamt zwischen Januar und
Juni (2015: 5.496).
Neben lebensgefährlichen Anschlägen sind Pöbeleien und Übergriffe
bundesweit an der Tagesordnung. Teilnehmer des Sommercamps der KZGedenkstätte Mittelbau-Dora in Thüringen sind am Sonnabend mit rassistischen Sprüchen beschimpft worden.
Wie die Gedenkstätte am Dienstag mitteilte, wurden die Jugendlichen aus Mexiko, Russland und Schweden auf dem
Altstadtfest in Nordhausen mit »Hasssprüchen« aufgefordert, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Währenddessen übt sich der Bundesgerichtshof in
Karlsruhe in Nachsicht mit Neonazis.
Die Urteile gegen vier Mitglieder der
Autonomen Nationalisten Göppingen
wegen Propaganda, Hetze, Drohungen
und Angriffen auf politische Gegner
wurden bereits am 31. Mai aufgehoben,
wie erst gestern bekannt wurde. Zwei
von ihnen sollten zwei Jahre und vier
Monate in Haft bleiben. Bei Razzien
hatte die Polizei unter anderem Schlagund Schusswaffen sichergestellt. Eine
ihrer Losungen soll laut Stuttgarter
Zeitung gewesen sein, »das Filstal zu
nazifizieren und braun zu halten«.
Neuanfang besiegelt
Russischer Präsident Putin empfängt türkischen Amtskollegen Erdogan in St. Petersburg
A
m Dienstag sind in St. Petersburg Russlands Präsident Wladimir Putin und sein türkischer
Amtskollege Recep Tayyip Erdogan
zusammengekommen. Sie haben einen
Neuanfang der Beziehungen beider
Staaten besiegelt. Es war ihr erstes Treffen seit dem Abschuss eines russischen
Kampfjets durch die türkische Luftwaffe im November vergangenen Jahres.
Putin sagte zur Begrüßung, beide
Seiten wollten den »Dialog und die
Beziehungen wieder aufnehmen«. Außerdem würdigte er mit Blick auf den
kürzlich gescheiterten Putschversuch in
der Türkei ausdrücklich, dass Erdogan
trotz der »sehr komplizierten innenpolitischen Lage« nach Russland gekommen sei. Erdogan sagte, das türkische
Volk sei sehr »glücklich«, dass Putin
der Türkei nach dem Putschversuch
seine Unterstützung zugesichert habe.
Beiden Staaten würden nun in eine neue
Phase ihrer Beziehungen eintreten.
Auf der Agenda des Treffens in
St. Petersburg standen auch Wirtschaftsthemen wie die Pläne für die
Erdgaspipeline »Turkish Stream«, die
im vergangenen Jahr auf Eis gelegt
worden waren. Ein weiteres bilatera-
les Projekt ist das erste Atomkraftwerk
der Türkei, das ein türkisch-russisches
Konsortium in Akkuyu im Süden des
Landes bauen will.
Bundesaußenminister Frank-Walter
Steinmeier (SPD) sagte in der Dienstagausgabe von Bild, es sei »gut«, dass
es »wieder eine Annäherung gibt«. Er
glaube aber nicht, »dass das Verhältnis
zwischen beiden Ländern so eng wird,
dass Russland der Türkei eine Alternative zur Sicherheitspartnerschaft der
NATO bieten kann«. Ähnlich äußerte
sich Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU): »Ich habe
keinen Zweifel daran, dass die Türkei
genau weiß, auf welche Seite sie gehört.«
Der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, widersprach am Dienstag im Deutschlandfunk der These, mit dem Besuch des
türkischen Präsidenten beim russischen
Staatschef könnte ein neues gegen Europa gerichtetes Bündnis entstehen. Der
SPD-Politiker sagte, es läge im »europäischen Interesse«, »dass diese Eiszeit
zwischen der Türkei und Russland beendet wird«. (AFP/dpa/Reuters/jW)
Siehe Kommentar Seite 8
SEBASTIAN KAHNERT/DPA-BILDFUNK
Mehr Zurückweisungen
an deutscher Grenze
CHRISTIAN MANG
ie rechte Gewalt eskaliert, aber
gerät immer mehr aus dem
Blickfeld der Öffentlichkeit.
Während Anschläge am laufenden
Band verübt werden, die Täter mittlerweile den Tod von Menschen billigend
in Kauf nehmen, beschwichtigen Politiker, und die Justiz hebt Urteile gegen
Neonazis auf. »Wir haben ein rassistisches Terrorproblem«, erklärte Karl
Kopp von Pro Asyl am Dienstag gegenüber jW. »Und die Gefahr ist groß, dass
diese Normalität zu Gleichgültigkeit
wird, während die rechtspopulistische
Agenda auf dem Vormarsch ist.«
Nachrichten wie die vom 17jährigen
Flüchtling aus dem Berliner Stadtteil Adlershof, in dessen Fenster am
Montag abend ein »pyrotechnischer
Gegenstand« flog, gelten weithin bereits als nicht mehr berichtenswert. Es
war bereits die zweite Attacke mit einem Brandsatz an diesem Tag in der
Hauptstadt. Am frühen Montag morgen kurz nach drei Uhr war in einem
Containergebäude in Berlin-Buch Feuer gelegt worden. Zeugen sollen laut
Berliner Kurier ausgesagt haben, dass
ein Molotow-Cocktail durchs Fenster
geflogen sei. Die Flammen brachen im
Erdgeschoss aus, wo Kinderwagen abgestellt waren. Schnell griffen sie über
bis in den dritten Stock. Die Bewohner
wurden evakuiert, sechs Menschen erlitten Rauchvergiftungen. Polizei und
Staatsschutz gehen von vorsätzlicher
Brandstiftung aus. »Ein Angriff auf ein
bewohntes Haus ist ein Angriff auf das
Leben von Menschen«, erklärte Katharina Müller vom Flüchtlingsrat Berlin
am Dienstag.
Das Containerdorf in Berlin-Buch
war seit seiner Eröffnung im April
2015 mehrmals von Neonazis attackiert
worden. NPD-Sympathisanten nutz-
Berlin. Immer mehr Flüchtlingen
wird an der deutschen Grenze
die Einreise verweigert. In den
ersten sechs Monaten des Jahres
gab es nach Angaben des Innenministeriums 13.324 sogenannte
Zurückweisungen. Im gesamten
Jahr 2015 waren 8.913 Menschen
an Grenzen oder Flughäfen an
der Einreise gehindert worden.
Das geht aus der Antwort auf eine
parlamentarische Anfrage der
Linken hervor, über die zuerst
die Neue Osnabrücker Zeitung
(Dienstag) berichtet hatte. Im
September 2015 hatte die Bundesregierung die Grenzkontrollen wiedereingeführt. An der
deutsch-österreichischen Grenze
sind von Anfang Januar bis Ende
Juni 10.629 Menschen abgewiesen wurden. Etwa jeder vierte der
Abgewiesenen war Afghane, gefolgt von Syrern, Irakern, Iranern
und Marokkanern. Aus der Antwort geht auch hervor, dass im
ersten Halbjahr 13.743 Menschen
aus Deutschland abgeschoben
wurden. (dpa/jW)
wird herausgegeben von
1.862 Genossinnen und
Genossen (Stand 4.7.2016)
n www.jungewelt.de/lpg