Lehrstuhl für Bürgerliches Recht,
Handels- und Wirtschaftsrecht
Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M.
Wiss. Ang. Stefanie Hart
Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14
Fall 20
Der 17jährige Auszubildende L darf von seiner Ausbildungsbeihilfe monatlich 100 € als Taschengeld zurückbehalten. Mittlerweile hat er 600 € angespart, um sich einen Motorroller zu
kaufen, mit dem er täglich zu seiner Ausbildungsstätte fahren will. Eines Tages bietet ihm
sein Kollege A einen fast neuwertigen Motorroller zum angemessenen Preis von 1.600 € an. L
antwortet darauf, dass er lediglich 600 € bar zahlen könne, aber bereit sei, den Rest in monatlichen Raten von 100 € abzuzahlen, wenn A noch etwas vom Preis nachließe. A, der L für
volljährig hält, gibt nach und bietet ihm den Roller für 1.200 € an. L akzeptiert. Nach Empfang der Anzahlung i.H.v. 600 € übergibt A dem L den Motorroller. Die Eltern des L halten
das Fahren mit Rollern jedoch für viel zu gefährlich und lehnen daher das Geschäft ab.
Kann A von L oder dessen Eltern Zahlung der restlichen 600 € verlangen? Kann A den Motorroller zurückverlangen?
Lösungshinweise Fall 20
A. Anspruch A gegen L auf Zahlung von 600 € gem. § 433 II
A hat gegen L einen Anspruch auf Zahlung des restlichen Kaufpreises in Höhe von 600 €
gem. § 433 II, wenn zwischen A und L ein Kaufvertrag zustande gekommen ist.
I. Ein Kaufvertrag kommt durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen - Angebot und
Annahme - zustande.
1. Angebot
a) Zunächst hat A dem L den Roller zum Preis von 1.600 € angeboten. Allerdings war
dem L der Roller zu diesem Preis zu teuer, so dass er das Angebot abgelehnt hat, das
somit gem. § 146 erloschen ist.
b) Daraufhin hat A dem L ein weiteres Angebot zum Kauf des Rollers, und zwar zum
Preis von 1.200 € gemacht.
Dieses Angebot müsste dem L gegenüber auch wirksam geworden, dh zugegangen
sein.
(1) Zugang gegenüber Eltern
Gemäß § 131 II 1, I wird eine Willenserklärung erst wirksam, wenn sie den gesetzlichen Vertretern des Minderjährigen zugeht. Gesetzliche Vertreter des Minderjährigen sind gem. §§ 1626, 1629 die Eltern des Minderjährigen. Vorliegend
ist das Angebot zur Übereignung den Eltern jedoch nicht zugegangen, vielmehr
wurde es allein dem L gegenüber erklärt.
(2) Zugang gegenüber L
Das Angebot könnte aber gem. § 131 II 2 bereits gegenüber L wirksam geworden
sein, wenn es dem L einen „lediglich rechtlichen Vorteil“ geboten hätte. § 131 II 2
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ist inhaltsgleich mit § 107 auszulegen.1 Eine Willenserklärung beinhaltet einen
„lediglich rechtlichen Vorteil“ für den Minderjährigen, wenn sie ihn nicht unmittelbar zu etwas verpflichtet und somit zu einem rechtlichen Nachteil führt. Ein
Angebot schafft für den Minderjährigen keine Pflichten, sondern eröffnet ihm positiv die Möglichkeit, einen Vertrag abzuschließen. Ein wirksames Angebot des A
liegt also vor.
2. Dieses Angebot müsste der L angenommen haben. Die Annahme ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die mit Zugang wirksam wird. Sie muss sich inhaltlich mit
dem Angebot decken.
a) L hat die Annahme des Angebots des A tatsächlich erklärt.
b) Fraglich ist jedoch, ob die Annahmeerklärung des L rechtlich wirksam ist, da dieser
gem. § 2 minderjährig und damit gem. §§ 106 ff. in seiner Geschäftsfähigkeit beschränkt ist.
aa) Gem. § 107 bedarf der Minderjährige zu einer Willenserklärung, durch die er
nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters.
(1) Ein lediglich rechtlicher Vorteil liegt vor, wenn der Minderjährige durch die
Willenserklärung seine Rechtsstellung verbessert, ohne gleichzeitig eigene
Rechte zu verlieren oder zu mindern bzw. eine Verpflichtung einzugehen. Vorliegend kommt durch die Willenserklärung des L ein Kaufvertrag zustande,
durch den er zur Zahlung eines Kaufpreises verpflichtet wird. Die Annahmeerklärung ist daher nicht lediglich rechtlich vorteilhaft.
(2) Damit ist gem. § 107 grundsätzlich die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters, hier gem. §§ 1626, 1629 der Eltern, erforderlich. Eine Einwilligung, d.h.
eine vorherige Zustimmung (§ 183), der Eltern wurde nicht erteilt, weder gegenüber A noch gegenüber L.
bb) Allerdings könnte die Erklärung des L gem. § 110 oder § 113 wirksam sein.
(1) Die Annahmeerklärung des L wäre gem. § 110 wirksam, wenn L die ihm obliegende Leistung „mit seinem Taschengeld bewirkt“ hätte.
Exkurs: Der Zweck des „Taschengeldparagraphen“ § 110
Zweck des § 110 ist es, einen Ausgleich zwischen dem Erfordernis einer gewissen wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit und dem Schutz des
Vermögens des Minderjährigen zu erreichen. Dabei ist umstritten, wie
genau § 110 wirkt. Auf diese Frage kommt es dann an, wenn die Mittelverwendung durch die Eltern nur eingeschränkt, nicht aber umfassend vorherbestimmt wird. (zum Streitstand anschaulich Brehm,
1
Singer, in: Staudinger BGB, Neubearbeitung 2011, § 131 Rn 5.
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6. Aufl. 2008, Rn. 295 ff.;
§ 110 Rn. 2 ff.)
umfassend
Knothe
in:
Staudinger,
Nach wohl h.M. stellt § 110 einen Sonderfall der konkludent erklärten
Generaleinwilligung dar. Durch die Mittelüberlassung willigen die Eltern in Verpflichtungsgeschäfte ein, die der Minderjährige mit diesen
Mitteln erfüllt. Die Einwilligung kann erst greifen (und damit das
Verpflichtungsgeschäft erst wirksam werden), wenn der Minderjährige es mit den überlassenen Mitteln erfüllt. Diese Ansicht wirft allerdings die Frage auf, warum im Falle einer Einwilligung durch Mittelüberlassung ein Vertrag erst durch Erfüllung wirksam werden soll. Ein
etwas anderer Ansatz geht davon aus, dass es sich bei der Vorschrift
um eine Auslegungsregel handelt, die besagt, dass die bloße Mittelüberlassung im Zweifel keine Generaleinwilligung darstellt, sondern
lediglich eine Zustimmung zu den Geschäften vorliegt, die mit diesen
Mitteln auch erfüllt werden.
Nach anderer Ansicht folgt aus dem Wortlaut des § 110, dass eben gerade keine Zustimmung – auch keine konkludente – vorliegt und auch
nicht vorliegen muss. Die Wirksamkeit des Geschäfts ergibt sich danach aus dem Gesetz und ist nicht Folge einer Zustimmung der Eltern.
Diese willigen danach nicht in das fragliche Verpflichtungsgeschäft,
sondern in das zur Erfüllung notwendige Verfügungsgeschäft ein
(durch Überlassung der Mittel). Mit dessen Vornahme gilt dann kraft
Gesetz das zugrundeliegende Verpflichtungsgeschäft (rückwirkend)
als wirksam.
Im vorliegenden Fall ist dieser Streit jedoch nicht entscheidend, denn L hat
seine Leistung noch nicht „bewirkt“, da er den Kaufpreis noch nicht vollständig an A gezahlt hat. Somit liegt nach allen Ansichten kein Fall des § 110 vor.
(2) Trotz Fehlens der elterlichen Einwilligung könnte die Annahme des L jedoch
gem. § 113 I 1 wirksam sein.
(a) Die §§ 112, 113 sehen für bestimmte Sonderfälle vor, dass der Minderjährige für Rechtsgeschäfte im Rahmen eines Erwerbsgeschäftes oder Dienstbzw. Arbeitsvertrages voll geschäftsfähig ist, während er im übrigen in der
Geschäftsfähigkeit beschränkt bleibt (sog. Teilgeschäftsfähigkeit). Soweit
die Voraussetzungen der §§ 112, 113 vorliegen, kann (und muss) der Mj. also selbständig handeln, seine Eltern sind nicht zur Vertretung befugt.
(b) Wird der beschränkt Geschäftsfähige von seinem Vertreter ermächtigt, in
Dienst oder in Arbeit zu treten, so ist er für solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, welche die Eingehung oder Aufhebung eines
Dienst- oder Arbeitsverhältnisses der gestatteten Art oder die Erfüllung der
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sich aus einem solchen Verhältnis ergebenden Verpflichtungen betreffen
(§ 113 I 1).
(c) Der Kauf eines Motorrollers gehört sicherlich nicht zum Kreis der von
§ 113 erfassten Rechtsgeschäfte, denn er dient weder der Eingehung noch
der Aufhebung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses noch der Erfüllung
der sich aus einem solchen Verhältnis ergebenden Verpflichtungen. Es liegt
allenfalls ein mittelbarer Bezug vor, der aber keinesfalls ausreichend ist.
Hinzu kommt, dass nach h.M. Berufsausbildungsverhältnisse nicht unter
§ 113 fallen, da hier der Ausbildungszweck gegenüber der Erwerbstätigkeit
überwiegt (h.M., vgl. z.B. Palandt/Heinrichs, § 113, Rn. 2).
cc) Da sich die Wirksamkeit der Erklärung des L auch nicht aus den §§ 110, 113
ergibt, ist sie schwebend unwirksam, d.h. die Wirksamkeit des Vertrages hängt
von der Genehmigung (§ 184) des Vertreters ab. Die Eltern haben die Genehmigung aber verweigert. Damit ist die Annahmeerklärung des L endgültig als rechtlich nicht wirksam anzusehen. Das hat zur Folge, dass der Kaufvertrag zwischen
A und L nicht zustande gekommen ist.
II. Ergebnis: A hat keinen Anspruch gegen L auf Zahlung von 600 € gem. § 433 II.
B. Anspruch des A gegen die Eltern des L auf Zahlung der restlichen 600 €
I. Anspruch aus Kaufvertrag gem. § 433 II
Voraussetzung eines solchen Anspruches wäre ein Kaufvertrag zwischen A und den Eltern
des L. Willenserklärungen wurden jedoch lediglich zwischen A und L abgegeben. Auch
handelte L nur in eigenem Namen, also nicht als Stellvertreter (§ 164) seiner Eltern. Mangels Kaufvertrages mit den Eltern kommt ein Anspruch aus § 433 II deshalb nicht in Frage.
II. Schadensersatzanspruch
Unabhängig von der Anspruchsgrundlage (eventuell sog. culpa in contrahendo, §§ 280 I,
311 II) kann ein solcher Schadensersatzanspruch nicht bestehen, da die Eltern keine Verpflichtung haben, zu einem Rechtsgeschäft des Minderjährigen ihre Zustimmung zu erteilen, auch wenn das Rechtsgeschäft für den Minderjährigen wirtschaftlich vorteilhaft wäre.
Zudem würde ein solcher Schadensersatzanspruch dem Schutzgedanken des Minderjährigenrechts widersprechen.
C. Kann A von L den Roller zurückverlangen?
I. Anspruch aus § 985
1. L = Besitzer des Rollers
L müsste Besitzer des Rollers sein.
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Besitzer ist nach § 854 I, wer die tatsächliche Sachherrschaft über die Sache ausübt. L
hat den Roller mitgenommen, er übt somit die tatsächliche Sachherrschaft aus. L ist
Besitzer nach § 854 I.
2. A = Eigentümer des Rollers
Weitere Voraussetzung eines Anspruches aus § 985 wäre, dass A noch Eigentümer des
Motorrollers wäre.
Ursprünglich war A Eigentümer des Rollers.
a) Eigentumserwerb des L nach § 929 S. 1
A könnte allerdings sein Eigentum an gem. § 929 S. 1 an L verloren haben.
aa) Einigung
Dafür müssten sich A und L zunächst über den Eigentumsübergang geeinigt
haben. Eine Einigung nach § 929 S. 1 kommt zustande durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen, Angebot und Annahme.
(a) Angebot des A
Spätestens mit der Übergabe des Rollers bot A dem L zugleich konkludent
die Übertragung des Eigentums an.
Dieses Angebot müsste dem L gegenüber auch wirksam geworden sein.
Auch hier gilt wieder § 131. Das Angebot könnte gem. § 131 II 2 wirksam
geworden sein, wenn es dem L einen „lediglich rechtlichen Vorteil“ geboten
hätte. Ein Angebot auf Einigung schafft für den Minderjährigen keine
Pflichten, sondern eröffnet ihm positiv die Möglichkeit, einen Vertrag abzuschließen. Ein wirksames Angebot des A liegt also vor.
(b) Annahme des M
L müsste das Angebot des A angenommen haben. L nimmt den Roller entgegen, darin liegt eine konkludente Annahmeerklärung des Einigungsangebots.
Fraglich ist, ob die Annahme durch den L rechtlich wirksam ist.
(1) Einwilligung der Eltern, § 107
Eine Einwilligung der Eltern vor Abgabe seiner Willenserklärung für
den Abschluss des dinglichen Vertrages lag nicht vor.
(2) lediglich rechtlicher Vorteil
Die Annahmeerklärung könnte jedoch für L einen lediglich rechtlichen Vorteil im Sinne des 107 darstellen. Die Annahmeerklärung des
L führt im Rahmen des § 929 S.1 lediglich zum Eigentumserwerb. Eine Verpflichtung des L entsteht daraus nicht. Mithin ist die Willenserklärung des L lediglich rechtlich vorteilhaft. Da sie dem A auch zugegangen ist, ist die Annahmeerklärung des L wirksam.
Zwischenergebnis zu a): Eine Einigung zwischen A und L liegt vor.
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b) Übergabe der Sache
Verschaffung der Sachherrschaft liegt durch Übergabe des Rollers vor.
c) Berechtigung des A
A als ursprünglicher Eigentümer war zur Übereignung auch berechtigt.
Ergebnis: Die Einigung zwischen A und L war wirksam. A hat sein Eigentum an L verloren.
L ist Eigentümer des Motorrollers geworden. Ein Anspruch des A aus § 985 kommt deshalb
nicht mehr in Betracht.
II. Anspruch aus § 812 I 1, 1.Alt.
1. etwas erlangt
L hat etwas erhalten, und zwar Eigentum und Besitz am Motorroller.
2. durch Leistung
Leistung im Sinne des § 812 I 1 1. Alt ist definiert als die bewusste zweckgerichtet
Mehrung fremden Vermögens. Dabei ist ein Vermögensvorteil stets anzunehmen,
wenn sich das Vermögen des Schuldners verbessert hat. A übergab den Roller dem L
zur Erfüllung seiner Verpflichtung aus dem Kaufvertrag. Indem er also dem L den Besitz an der Sache verschaffte, mehrte er dessen Vermögen bewusst und zweckgerichtet.
3. Ohne rechtlichen Grund
Es dürfte kein schuldrechtlicher Grund bestehen, aufgrund dessen L zum Besitz des
Rollers berechtigt ist. Da der Kaufvertrag zwischen L und A wegen fehlender Einwilligung der Eltern des L rechtlich unwirksam war, besteht kein rechtlicher Grund für den
Besitz des Rollers.
4. L ist deshalb verpflichtet, den Motorroller dem A zurück zu übereignen (§ 929) und dem
A den tatsächlichen Besitz zu verschaffen (§ 854).
Literaturhinweise:
 Leipold BGB AT, 6. Auflage 2010, § 11.
 Brox/Walker AT, 34. Auflage 2010, § 12.
 Rolf Schmidt BGB AT, 10. Auflage 2014, S. 263 ff.
 Brauer, Vertragsschluss und Zugang bei Verträgen mit Minderjährigen, JuS 2004,
S. 472 ff.