Horizonte 2050 • Kinder MacHen zuKunft

Ausgabe 5 | Sommer-Herbst 2016
Magazin der Zentrifuge
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Horizont
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in der fünften Ausgabe widmen wir uns dem
Thema Begegnungen – die Studierenden
der TH Nürnberg haben sich im Fachbereich
Verbale Kommunikation gemeinsam mit
ihrem Professor Max Ackermann auf die Suche
gemacht nach Projekten, in denen Menschen
unterschiedlicher Kulturen zusammen kommen
und miteinander weltgestaltend und zukunftsweisend tätig werden. Es entstanden Einblicke
in inspirierende und von Mitmenschlichkeit
getragene Lebenswelten, die wir in dieser
Ausgabe mit großer Freude präsentieren.
Seitens der Zentrifuge liefern wir zum
Thema Begegnungen einen Essay über die
Möglichkeit künstlicher emotionaler Intelligenz (eine Begegnung mit dem Computer als
„Lebewesen“) sowie einen Beitrag von Freunden
der Zentrifuge über den von Ihnen ins Leben
gerufenen internationalen Werte-Codex der Business Aesthetics Academy. Ein weiterer Freund
der Zentrifuge schreibt unter dem Pseudonym
„Wolf Gang“ über seine Erfahrungen im Zusammenleben mit einem syrischen Flüchtling.
Schließlich nutzen wir in dieser Ausgabe
erneut auch die Möglichkeit, über aktuelle Projekte und Termine der Zentrifuge zu berichten.
Gerne hätten wir PILOT auch in gedruckter
Form präsentiert, doch ist es uns leider nicht
gelungen, ausreichend Anzeigenkunden zu
gewinnen. Wir arbeiten aber weiterhin daran,
Unternehmen und Institutionen davon zu
überzeugen, dass eine (günstige!) Anzeige im
PILOT im umfassenden, integrativen Sinne
lohnenswert ist – wenn dies auch aufgrund der
relativ geringen Auflage aus marketingtechnischer Sicht nicht so erscheinen mag. Um so
mehr wird ein Unternehmen im Kontext der
Zentrifuge als weltoffen, engagiert, innovativ,
unkonventionell und mutig wahrgenommen.
Wir sind weiterhin auf der Suche nach solchen
Unternehmen und Menschen – auch wenn
sich diese Suche bislang von Nürnberg aus als
schwierig erweist - und freuen uns auf kommende fruchtbare Begegnungen ...
Herzliche Grüße
Ihr Michael Schels
Bewerber-Kontakt und weitere Infos unter:
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06
Begegnungen in der „Neuschütte“
Horizonte 2050 - Gemeinsam Handeln in der Welt
10
Fünf plus einer
Ene Wohngemeinschaft für jugendliche Flüchtlinge
12
Kinder machen Zukunft
Maryam Fahimi und ihr Atelier auf AEG
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Zum Lernen geht es in den Keller
Die Nürnberger Asylothek
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30
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36
Verständnis geht durch den Magen
Essen bei Laleh
Freiheit für Wäscheständer
oder: Die Katastrophe, wenn einmal die Post streikt
‚komm!unication’
Integration im Theater
Die zehn Regeln der Freiheit
Der Werte-Codex der Business Aesthetics Academy
Aus dem ästhetischen Labor der Zentrifuge
Über die Möglichkeit künstlicher emotionaler Intelligenz
Interkulturelle Begegnungen mit Technik und Kunst
Einblicke in das gemeinsame Leben mit einem Flüchtling
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Kooperation: wundersam
Ein künstlerisches Projekt zur Blauen Nacht
44
Zentrifuge
Infos und Termine
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4
Zentrifuge
Internationaler Salon
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Begegnungen in der „Neuschütte“
„Horizonte 2050 - Gemeinsam Handeln in der Welt“
fig angetroffen haben. Als Vertreter einer
religiösen Gruppierung, wollten sie wohl
in eine Art „Neuschütte“ gehen. Also mal
was ganz anderes machen und erreichen.
So wurde schließlich die Idee zu „Horizonte
2050“ geboren. Aber wie wir das Projekt
angehen, wurde komplett uns überlassen.
Nicht einfach Dienstleister sein
Wie ein ungeschriebenes Motto: „Warum
alles alleine machen, wenn man doch vieles
gemeinsam machen kann?“ Vom Juristen
bis zum Künstler, vom Marketingfachmann
bis zum Heilpraktiker ... hier begegnen sich
Menschen aus unterschiedlichen Kulturen,
Lebensbereichen und Arbeitsfeldern. Im
Oktober 2015 fand die Veranstaltung
„Horizonte 2050“ im Z-Bau in Nürnberg
statt, eine Kombination aus Symposium,
Netzwerkveranstaltung und Kunst-Event.
Organisiert wurde sie von der Zentrifuge
e.V. gemeinsam mit den Hilfswerken der
katholischen Kirche.
Herr Schels, wie kamen Sie dazu, eine
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Veranstaltung dieser Art ins Leben zu
rufen?
Schon seit einigen Jahren haben wir als
Zentrifuge an neuen Formaten gebaut
und das Ganze dann auch verwirklicht,
immer im Zusammenhang mit Kunst.
Wir haben uns dabei ganz bewusst in eine
Haltung von Suchenden versetzt. Dieses
Suchen wurde nun wahrgenommen von
„Partner für eine Welt – die Hilfswerke
der katholischen Kirche“. Denn die haben
ihrerseits jemanden gesucht, der in diesem
Feld mit ihnen zusammenarbeiten wollte.
Den Hilfswerken lag viel an der Begegnung
mit Menschen, die sie auf ihren bisherigen
Veranstaltungen bislang noch nicht so häu-
Warum glauben Sie, sind die Hilfswerke
damit ausgerechnet auf Sie und die
Zentrifuge zugekommen? Es kann einen
ja erstaunen, dass die katholische Kirche
einen solchen Schritt geht. Und: Wieso
gerade jetzt?
Darüber waren wir zunächst auch verwundert. Die Mitglieder des Vereins Zentrifuge
konnten bisher ja nur wenig mit Kirche
anfangen. Zu Beginn stellte das für uns
auch ein gewisses Risiko dar. Wir wollten in
dieser Kooperation also keinesfalls nur als
Dienstleister oder Helfershelfer fungieren. Also haben wir von vornherein klargemacht,
dass dies ein gemeinsames Projekt ist, mit
verschiedensten Perspektiven. Die Hilfwerke haben erkannt, dass wir in diesem
Bereich gut vernetzt sind und somit eine
gewisse Teilnehmerzahl erreichen können.
Aber unsere Veranstaltung sollte durch
jeden Bereich gleich stark inspiriert sein.
Darum geht es ja letztendlich, dass jeder
Aspekt seine Berechtigung hat. Genau das
sollte die Essenz von „Horizonte 2050“
ausmachen: sich ohne jeden Vorbehalt
zu begegnen und auszutauschen.
Zukunft und Veränderung
„Horizonte 2050“ ... schon der Name
verweist auf Zukunft. Welche Art von
Veränderung wird hier behandelt,
beziehungsweise erwartet?
Veränderung ist ein zentrales Thema bei
allem, was die Zentrifuge organisiert. Bei
mir persönlich ist das schon seit Jahren so.
Für mich hat Veränderung sehr viel mit
Wahrnehmung, Denken und Fühlen zu tun.
Mit dem gesamten Feld, das man allgemein
unter Bewusstseinswandel versteht. Ich glaube, wir leben in einer Zeit, wo sich
Wandel immer mehr aufdrängt. Wenn die
Menschheit nicht voll an die Wand fahren
will, wird sie daran nicht vorbeikommen.
Das merken wir momentan immer stärker.
Es geschehen extrem viele bedenkliche
Dinge - überall auf dem Globus - und es
scheint keine Besserung in Sicht. Alles
überstürzt sich. Die Notwendigkeit zur Veränderung ist also schon im Keim angelegt.
Was denken Sie, sind die Gründe für
derartige Entwicklungen?
Im Grunde lässt sich das Ganze auf
eingefahrene Muster zurückführen, auf
Konventionen, die sich fortlaufend reproduzieren. Dass wir angeblich Gewohnheitstiere sind, hat wahrscheinlich jeder
schon einmal gehört. Die Menschen haben
Angst vor dem Loslassen. Das betrifft
materiellen Besitz, aber auch Glaubensdogmen, alte Wahrheiten, eine bestimmte
Sicht auf die Wirklichkeit. Jedoch gilt: Hat
man das Gefühl, etwas zu verlieren, hält
man umso stärker daran fest. Die Bedrohung unserer Existenz wird auch hier in
Deutschland immer spürbarer. Unser viel
gepriesenes Wirtschaftswachstum ist da
nicht gerade hilfreich, ganz im Gegenteil.
Die Zentrifuge möchte hier
zumindest Möglichkeiten aufzeigen.
Wir handeln nicht aus materialistischen
oder opportunistischen Motiven. Unser
Beweggrund? Wenn man es definieren
mag: der Aufstieg zu einem ganzheitlichen
Verständnis. Eine Grundfrage der
„Horizonte 2050“ war ja: Wie können wir im
globalen Zusammenhang - und mit Blick
auf die Zukunft - denken und handeln?
Miteinander oder am
Wandel vorbei
Nun, sehr viele Bereiche agieren nicht
zusammen sondern isoliert. Wir leben
in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Wir
kennen Spezialisierungen. Wir kennen
Zuständigkeiten. Jeder spricht seinen
Jargon. Betrachten Sie das als ein Problem
des Bewusstseins?
Ganz genau. Man gelangt hier auch schnell
an den Punkt, wo Sprache nicht mehr
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ausreicht. Der Bewusstseinswandel, den
ich meine, läuft größtenteils jenseits von
Sprache ab. Man kann diese Dinge nur mühsam in Worte fassen. Als Erschwernis hinzu
kommt die Interpretation von Sprache. Du
kannst beispielsweise jedem genau dasselbe
sagen, es werden sich allerdings nie zwei
Menschen finden, die es exakt gleich interpretieren. Hier spielen Standpunkte, Vorwissen und die Macht der Emotionen eine
große Rolle. Man braucht nur einmal zu versuchen das Wort „Liebe“ zu interpretieren.
Das hört sich an, als müsse unsere
Gesellschaft erst zerfallen, um sich neu
orientieren zu können, wie ein Phönix
aus der Asche. Glauben Sie dieser
Bewusstseinswandel kann auch ohne
Niedergang oder sogar Katastrophen
entstehen?
Der „Phönix aus der Asche“ kann eine
Möglichkeit sein. Wobei ich keineswegs
sagen will, dass das so geschehen muss und
sollte. Ich möchte nicht behaupten, die Welt
müsse komplett in Schutt und Scherben
liegen, damit etwas Neues entstehen
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kann. Denn ich wünsche mir, dass dieser
Prozess, wenn möglich, ohne großes Leid
über die Bühne geht. Aber wahrscheinlich
wird das nicht so sein. Leider stecken
wir schon viel zu tief drin. Und durch ein
Streicheln wird man selten aufgeweckt.
Waren die „Horizonte 2050“ also so
etwas wie eine echte Notwendigkeit für
Sie?
Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Aber ich glaube, Sie haben Recht.
Ja, irgendwie ist es auch eine Notwendigkeit. Wenn ich so darüber nachdenke,
kann ich eigentlich gar nicht anders. Wir haben natürlich jetzt mit der Zentrifuge,
durch die Freundschaften, Bekanntschaften
und Kontakte, auch die Möglichkeit dazu.
Und wenn man erst einmal die Erfahrung
gemacht hat, dass vieles möglich ist, dann
lässt man so schnell auch nicht mehr
die Finger davon. Selbst wenn es nicht
immer ganz einfach ist, etwas Neues auf
die Beine zu stellen. Denn wir machen
das alles ja immer noch ehrenamtlich.
Bei „Horizonte 2050“ hatten wir das Glück,
die Hilfswerke als einen Partner mit einem
eigenen Budget dabei zu haben. Somit
konnten wir die Veranstaltung auch im
Z-Bau anbieten, ein passendes Catering
bezahlen und die Themen dokumentieren,
vom Kampf um Geschlechtergerechtigkeit und Gleichberechtigung am Beispiel
von Tansania, über einen bewussteren
Umgang mit Produktion weit hinaus über
die Industrie 4.0, bis hin zu konvivalistischen Ansätzen aus der Soziologie.
gestülpt werden. Das Klima des natürlichen
Miteinanders liegt uns sehr am Herzen. Wir machen Angebote. Aber mein Wunsch
wäre, dass sich all das zunehmend professionalisiert, um eben auch aus dieser
ehrenamtlichen Nummer herauszukommen. Idealerweise mit Raummöglichkeiten
und Möglichkeitsräumen, wo sich verschiedenste Menschen treffen können, um sich
auszutauschen. Im Jahr 2050 werden wir
hoffentlich wissen, ob es funktioniert hat.
Am 20. Oktober 2015 realisierte die Zentrifuge gemeinsam mit
„Partner für die Eine Welt – die Hilfswerke der katholischen Kirche“ eine
neuartige Veranstaltung im Z-Bau Nürnberg – eine Kombination aus
Symposium, Netzwerkveranstaltung und Kunst-Event: „HORIZONTE
2050 – Gemeinsam Handeln in der Welt“ brachte 60 Menschen aus
unterschiedlichen Kulturen, Lebensbereichen und Arbeitsfeldern
zusammen mit dem Ziel, sich anders als gewöhnlich als handelnde Wesen
in der Welt wahrzunehmen, zu begegnen und auszutauschen. Es ging
dabei um die Einübung einer Sensibilität für das, was uns im Augenblick
begegnet und wie wir uns darauf auf anders als gewohnte Weise
einstellen und einlassen können.
Pläne bis 2050
Gibt es denn bereits Pläne bis 2050?
So weit können wir nur träumen, aber noch
nicht planen. Konkret gibt es einige Ansätze
für das Jahr 2016. Bezüglich HORIZONTE
2050 zeichnet sich eine weitere Kooperation
mit den Hilfswerken der katholischen Kirche
ab. Wir haben sehr positives Feedback
bekommen und möchten das Format nun
schrittweise auf andere Städte ausweiten.
Der Blick auf eine durch uns gestalt- und lebbare Zukunft erfordert eine
grundlegende Umorientierung, eine Änderung selbstverständlicher
Haltungen und eine Öffnung für ein Geschehen, das und in dem wir
schon immer sind, was wir aber gegenwärtig noch nicht erfassen,
höchstens erahnen können - HORIZONTE 2050 als Ausdruck einer
gemeinsamen Suche nach Möglichkeiten der Weltgestaltung, abseits
von konventionellen Vorstellungen oder Ritualen. Wir wählten dafür eine
Mischung aus Konferenz und Kunsterleben.
Was wäre denn ihr Wunsch für die
Zukunft der Zentrifuge und für
„Horizonte 2050“?
Man kann noch gar nicht wirklich greifen,
was die Zentrifuge ist, hat sie doch gleichzeitig mit Kunst zu tun, mit Kommunikation und Entwicklung. Das lässt sich aber
schwerlich voneinander trennen und noch
schwerer definieren. Was es im Kern ist,
wird sich immer weiter herauskristallisieren. Klar ist und bleibt: die Arbeit an einer
Transformation. Sie soll aber keinem über-
Ein Interview mit Michael Schels
von Jonathan Lindner.
Impulsgeber waren Regina Andrea Mukama aus Tansania, Prof. Frank
Adloff und Dipl.-Ing. Matthias Barbian. Als Künstler und Gestalter von
Möglichkeitsräumen waren beteilligt: Barbara Engelhardt (Lebendige
Skulpturen), Barbara Kastura (Stimme, Bewegung, Natur), Silke Kuhar
(Video/Klang), Zoy Winterstein (Klang) sowie Otmar Potjans und
Michael Schels (ästhetischer Prozess).
Die Dokumentation der Veranstaltung kann unter
www.horizonte2050.weebly.com als PDF herunter geladen werden.
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Fünf - plus einer
aber auch: Sie können sich manchmal nicht
an starre Regeln halten. Dann fallen sie
auf, etwa im vollzeitbetreuten Wohnen.
Nürnberg und eine Wohngemeinschaft
für jugendliche Flüchtlinge
Ein schmaler Weg führt uns zwischen Hecken
und Bäumen hindurch – es wirkt, als wolle
sich das Gebäude, das wir suchen, unsichtbar
machen oder wenigstens verstecken. Aber
es gibt gar keinen Grund, sich zu verstecken.
Denn hier werden Jugendliche aus der
Fremde in die Selbstständigkeit begleitet. Das
Haus liegt ein Stück von der Straße ab, dort
treffen wir uns mit Malene Flor und Benjamin
Westphal. Die beiden arbeiten bei „Impuls“,
einer teilzeitbetreuten Wohngemeinschaft
für jugendliche Flüchtlinge im Nürnberger
Stadtteil Ziegelstein.
Woher kommen die Jugendlichen denn,
die gerade hier sind?
Benjamin Westphal: Das ist sehr bunt
gemischt. Zwei Jungen sind aus Eritrea
und je einer aus Äthiopien, Mali, Afghanistan und von der Elfenbeinküste.
Und wie lange bleiben sie im Durchschnitt
hier im Haus?
Malene Flor: Bei uns sind die Jungs für
circa ein Jahr, je nachdem welche und
wie viel Hilfe sie brauchen. In einer anderen Wohngemeinschaft in Laufamholz
sind die Kinder länger, weil dort auch
jüngere ankommen und eine Erstversorgung durchgeführt werden kann.
Wenn Nachbarn helfen
Eure WG ist mitten in einem Wohngebiet.
Wie reagieren denn Anwohner und
Nachbarn auf euch?
Westphal: Überwiegend gut bis sehr
positiv. Diese Wohngruppe hier gibt es seit
etwas über einem Jahr. Die Integration im
Stadtteil, in Ziegelstein, läuft gut, die Jungs
spielen zum Beispiel im Fußballverein.
Erst war ich besorgt, als ich mich auf die
Suche nach einem geeigneten Sportverein gemacht habe. Man weiß ja nicht, ob
es Vorurteile gibt. Man weiß ja nicht, an
welchen Trainer man gerät und wie die
anderen Jugendlichen dort reagieren. Aber
jetzt läuft alles wunderbar. Ein Schüler
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aus dem Verein hat seine Schule sogar
zweimal dafür gewinnen können, dass der
Erlös eines Kuchenverkaufs an uns geht.
Eine Nachbarin hier ist eine pensionierte Lehrerin. Sie gibt unseren
Neuankömmlingen Nachhilfe.
Flor: Wir haben so viele Angebote und
hilfsbereite Nachbarn, dass es zum
Teil schon zu viel wird und wir sie an
andere Stellen verweisen können.
Westphal: Teilweise müssen wir Angebote
sogar ablehnen. Was schade ist, aber die
Jungen gehen ja zur Schule und haben
Hausaufgaben. Fast jeder ist jetzt schon
in einem Sportverein. Alle haben einen
Freundeskreis und ein eigenes soziales
Leben. Außerdem gibt es hier im Haus auch
feste Dienste. Die sind also gut ausgelastet.
Eine Zuflucht für sechs Jugendliche
Was genau tun Sie beide
in dieser Wohngruppe?
Was sind Ihre Aufgaben?
Flor: Unter der Woche sind wir von mittags
bis abends hier und unterstützen die
Jugendlichen im Alltag: beim Kochen, im
Umgang mit Ämtern, bei Arztterminen,
in sozialen Fragen und im Asylverfahren.
Unser Ziel ist es, dass die Jugendlichen
all das bald selbstständig erledigen
können. Impuls versteht sich nämlich als
eine Brücke zwischen vollzeitbetreutem
und außenbetreutem Wohnen innerhalb des Vereins „Wohngemeinschaft
für Flüchtlingskinder Nürnberg e.V.“
Westphal: Ja, zu uns kommen Jungen, die
mindestens 16 Jahre alt sind. Sie wohnen
so lange hier, bis man ihnen zutrauen
kann, mehr oder minder allein zu leben
und in das außenbetreute Wohnen zu
wechseln. Dort werden sie dann nur
noch ambulant unterstützt. Für ein paar
Stunden die Woche kommt dann, je nach
Bedarf, ein Sozialarbeiter vorbei und hilft
auch weiterhin bei den schwierigsten
Fragen wie dem Asylverfahren oder
komplexen medizinischen Problemen.
Spannungen, Gespräche und Medien
Wie geht ihr mit Spannungen unter den
Jungen um?
Westphal: Auf die Frage kommen Sie
bestimmt, weil in den Medien immer
wieder darüber berichtet wird, dass es zu
Auseinandersetzungen kommt. Bei uns
ist es aber relativ selten, dass gestritten
wird. Die WG bietet da einen geschützten
Raum, um Probleme zu lösen. Die Jungen
haben ja schon mehr als genug Erfahrung
mit dem Thema Gewalt gemacht und
sind froh, dass sie da endlich raus sind.
Flor: Wenn es zu Schwierigkeiten kommt,
sind nur selten die Nationaliltät, die Ethnie
oder die Religion der Grund. Meist kommt
es schlicht zu Missverständnissen wegen
des unterschiedlichen Sprachniveaus.
2015 kam etwa eine Million Flüchtlinge
nach Deutschland. Sie nehmen nur fünf
Jugendliche auf - und auch nur Jungs.
Warum?
Flor: Anders wäre das einfach nicht möglich.
Vieles liegt größtenteils an der Organisation
innerhalb des Hauses. Die Wohngemeinschaft hier ist nur teilzeitbetreut. Auch die
sanitären Einrichtungen spielen eine Rolle.
Eine andere Option wäre es gewesen, eine
WG für fünf Mädchen zu machen. Aber es
kommen ja insgesamt deutlich mehr männliche Flüchtlinge, also auch mehr Jungs an.
Wir haben zusätzlich einen Notplatz, der ist
aktuell auch schon belegt. Den nutzen wir,
wenn die Gruppensituation passt und wir
das Gefühl haben, wir können das so tragen.
Also nur „Fünf - plus einer“. Das sind sehr
wenige Plätze bei dem aktuellen Andrang.
Denken Sie daran zu expandieren?
Flor: Unsere WG ist ja bereits von Laufamholz aus expandiert. Dort wird
in Vollzeit betreut. Es wurden mehr
Plätze benötigt – und: wir wollten eine
andere Form der Hilfe anbieten.
„Sie haben schon
einiges mitgemacht“
Aber auch, wenn jetzt vieles gut ist:
Die jungen Männer kommen aus
Krisengebieten. Wie geht man hier zum
Beispiel mit Traumata um?
Flor: Wenn die Jungen hier ankommen,
kriegt man davon erst einmal nichts mit! Es
dauert schon eine ganze Weile, bis sie sich
trauen, über die Flucht und ihre Erlebnisse
zu sprechen. Dafür müssen sie sich erst
sicher fühlen und Vertrauen aufbauen.
Und wenn es besonders schlimm ist, hilft
nur eine Therapie. Aber die Warteliste für
einen Therapieplatz ist lang. Erst letztens
haben wir eine Rückmeldung auf eine
Anfrage bekommen, die ein Jahr zurückliegt.
Deshalb versuchen wir auch nur Jungen auszuwählen, die nicht oder gering
traumatisiert sind. Schwere Fälle brauchen
jemanden, der nachts da ist und immer
ansprechbar. Solche Jungendlichen hatten
wir hier auch schon. Deren psychischer Zustand war nicht von Anfang an klar, oder es
wurde einfach kein anderer Platz gefunden.
Und im alltäglichen Umgang mit den
Jungen, was fällt Ihnen da besonders auf?
Flor: Dass sie, wenn sie hier ankommen,
alle schon sehr reif sind für ihr Alter. Sie
haben schon einiges mitgemacht. Zum
Teil haben sie ihre Familien versorgt, oder
waren zumindest große Geschwister,
die sich um alles kümmerten. Sie hatten
Verantwortung und mussten mit immer
neuen Situationen umgehen. Das heißt
Überhaupt: das Gespräch. Sprecht ihr hier
auch darüber, was in der Welt so vor sich
geht? Oder über deutsche Innenpolitik?
Flor: Das kommt ganz auf die Jugendlichen
an. Wir selber sprechen diese Themen von
uns aus nur selten an, nur wenn Bedarf
besteht. Aktuell haben wir hier eine politisch sehr interessierte Gruppe. Sie schauen
viel Nachrichten und wollen dann über
das, was sie sehen und hören, reden. Auch
untereinander diskutieren die Jungen viel.
Es gibt hier „Vormundschaften“? Was
aber hat es damit auf sich?
Flor: Alle Jugendlichen unter 18 brauchen
einen Vormund. Auch unsere Jungs.
Westphal: Manches dürften wir selbst
gar nicht machen. Wenn es um weitreichende Entscheidungen geht, um Unfälle
oder um wichtige Dokumente, dann
muss ein Vormund unterschreiben.
Flor: Oft regeln die Vormünder das
Asylverfahren und kommen einmal im Monat zu Besuch.
Westphal: Aber sie sind keine Ersatz-Eltern.
Manche haben fast 100 Mündel und hetzen
von Termin zu Termin und quer durch den
Landkreis. Ihre Belastung ist wesentlich
höher. Wir haben es da verhältnismäßig
luxuriös mit unseren sechs Jugendlichen.
Ein Interview von Beyza Akar und
Lena Weichselbaumer.
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Kinder machen Zukunft
Maryam Fahimi und ihr Atelier Auf AEG
Dienstagvormittag zwischen Mathe und
Deutsch, nur eine dreiviertel Stunde lang.
Da kannst du alle Farben nehmen. Aber
nicht vergessen, eine Note gibt’s auch. Und
danach bitte wieder voll konzentrieren:
auf die wirklich wichtigen Dinge. – KunstUnterricht? Kreativität nach Stundenplan?
Kann das funktionieren? - Und wie steht es
mit freien Malkursen? Ist das Schaffen dort
frei? Zumindest können die Kinder hier malen
und zeichnen, als ob es das Wichtigste wäre.
- Und wer ist eigentlich diese Frau Fahimi?
Auf dem AEG Gelände in Nürnberg-Muggenhof bietet Maryam Fahimi Malkurse
für Kinder an, uns heute Tee. Wir treffen sie in „Mein Atelier auf AEG“.
In dem Raum, in dem normalerweise
Kinder malen, ist es sehr sauber und
aufgeräumt. Vielleicht nicht ganz so, wie
man es erwarten würde. Ein Blick fällt
suchend auf die gut sortierten Acrylfarben
im Regal, auf die Pinsel in leeren Einweggläsern und weißen Tassen. Kein Karton
voller eingetrockneter Farben. Und keine
abgegrabbelten Buntstifte. An der Wand
hängen – ganz erwartungsgemäß - viele
Bilder. Doch nach genauerer Betrachtung
vermute ich: nicht alle sind von Kindern.
Hier verbringt man gerne Zeit
Je länger man sich umsieht, desto greifbarer
wird der Raum. Topfpflanzen auf einer
Kommode, aneinander gereiht wie Bäume
einer Allee. Auf der bunten Tischdecke
steht Gebäck. Dazu ein Tongefäß, in dem
sich Salzstangen befinden. Ein kleiner
Kühlschrank am anderen Ende. Und ein
Schreibtisch, darunter ein kleines und ein
großes Paar Hausschuhe. Frau Fahimi
verbringt wohl gerne ihre Zeit hier. „Hier
ist einfach unser Arbeitszimmer, das
von mir und meinem Mann. Manchmal
habe ich auch zwei, drei Monate keine
Kurse. Dann komme ich hierher, wie zum
Beispiel jetzt momentan, und mache
etwas für mich selber“, erklärt sie uns.
Zögerlich Tee schlürfend fragen wir
sie, wie sie auf die Idee gekommen sei,
dieses Atelier zu gründen. Sie lacht, so
wie sie es im späteren Verlauf unseres
Gesprächs noch öfter tun wird. „Das war
ein wirklich langer Weg ...“, meint sie und
beginnt, von ihrem Leben zu erzählen.
Bilder aus Persien
Frau Fahimi kommt aus Persien, dem
heutigen Iran. Ihr Lehramtsstudium
begann sie kurz nach der islamischen
Revolution, im Jahr 1979. Es muss eine
schwierige Zeit gewesen sein, denn viele
Universitäten wurden damals geschlossen. Die meisten Professoren waren nicht
mehr da. Manche waren geflüchtet, viele
waren aber auch hingerichtet worden.
Nach einem zweijährigen Studium
arbeitete Frau Fahimi als Kunsterzieherin.
Wir staunen, als sie uns Bilder zeigt, Bilder
die jetzt fast 20 Jahre alt sind und von ihren
damaligen Schülern angefertigt wurden.
Erinnerungen, die ihr so wichtig waren, dass
sie sich die Bilder per Post zuschicken ließ,
als sie schon längst in Deutschland lebte.
Das muss man sich einmal vorstellen: Der
Junge, der damals eine Szene eines persischen Obst-Marktes malte, ist mittlerweile
ein erwachsener Mann. Was wohl aus
ihm geworden ist? Frau Fahimi übersetzt
uns den Titel seines Bildes: „Wenn ich das
wirklich von Wort zu Wort übersetze,
bedeutet es: Und hier wieder ein Obstbasar, eigentlich. „Super“ wie in Supermarkt. Aber: Obst. Also „Super Obst“.“
Eine weitere Station auf dem Weg
von Frau Fahimi war das Studium an
der Kunstuniversität von Teheran - dort
spezialisierte sie sich auf Trickfilm, „weil ich
einfach etwas für Kinder machen wollte“.
Mit der Entscheidung für Trickfilm
aber hatte sie einen Weg betreten, der
bekanntlich steinig ist. Umso schöner ist
es deshalb, wie begeistert Frau Fahimi über
ihre Animationsfilme spricht. Ein paar der
Bilder an der Wand sind Originalbilder aus
ihrer Abschlussarbeit. Sie hat ihre Trickfilme
noch analog gemacht. Das bedeutet, dass
für jede Szene ein Einzelbild gezeichnet wird
- sehr aufwändig und sehr viel Arbeit.
Sie erzählt weiter: „Dann waren wir
in Deutschland, das war 1996.
Dort wollte ich auch mit Film weiter
machen. Wir hatten nicht viel Ahnung,
wir hatten nicht viele Leute, die überhaupt
unseren Bereich kannten. Denn manchmal
ist es ja so: wenn man gar keine Ahnung
hat, dann stellt man auch nicht die richtigen
Fragen. Zum Beispiel haben wir nicht einmal
gefragt, welche Stadt könnte geeignet sein
für uns und unseren Job.“ Unter anderem
hat sie an der Multimediaakademie in
Nürnberg studiert, später dann auch an der
Filmhochschule Köln.
weiterführen.“ Und dann erläutert sie das:
„Denn die Untalentierten, die sich für etwas
interessieren, die machen es auch richtig.
Und so ist es egal, ob man Talent hat, oder
nicht. Hauptsache, man erschafft etwas“.
Als ob man für Kinder überqualifiziert sein könnte
Kreativität, Malen und Zeichnen sei für
Kinder natürlich sehr wichtig. So übten
sie ihre feinmotorische Fähigkeiten. Und
sie schulten ihren Blick auf die Welt – den
Blick für Formen, Farben und Perspektive,
aber auch für Beziehungen. Doch das
Wichtigste: Kreativität verleiht Kindern
Selbstbewusstsein. Dabei ist entscheidend, so Fahimi, dass alle Malutensilien
gut sind und sortiert bereit stehen. Denn
Auswahl und Ordnung schaffen hier
Freiheit und Respekt für das eigene Tun.
Man müsse sich bewusst machen, dass
man für kreatives Schaffen nicht nur Zeit
brauche, sondern auch den richtigen Raum
finden müsse. Denn jeder Raum habe ja eine
eigene Wirkung. Mit einem Klassenzimmer
verbinde ein Kind schulische Anstrengung
und Noten. Doch anders als in der Schule
können die Kinder hier frei malen. Hier
ist es Freizeit - ganz ohne Druck. Und
dieses Atelier bietet, wie Frau Fahimi es
beschreibt, eben „Raum für diese Sache“.
Doch Frau Fahimi wollte lieber weiter mit
Kindern arbeiten. Als sie sich als Kindergärtnerin bewirbt, sagt man ihr, sie sei
überqualifiziert. „Bis heute kann ich das
nicht so richtig verstehen, weil das Arbeiten
mit Kindern viel Qualifikation braucht.
Denn die Kinder sind die Zukunft. Wenn
ich irgendwie schlecht mit einem Kind
arbeite, irgendeine Fähigkeit bei einem
Kind nicht finde, dann könnte ein Schicksal
geändert werden. Das ist wirklich so.“
Genau darum geht es ihr auch in
ihrem Atelier. Sie möchte die Kinder
fördern, sie möchte ihnen die Möglichkeit
geben, ihre Fähigkeiten zu finden und
weiterzuentwickeln. Sie wünscht sich,
dass Eltern von der Geburt an darauf
achten, was ihre Kinder interessiert. Ob
das Sportunterricht, Kunstunterricht
oder Tanzen ist, ist egal. „Wenn man
das Richtige findet, kann man das auch
Den richtigen Raum finden
Eine Reportage von Viviane Lorenz und
Jessica Bauer
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13
Zum Lernen
geht es in den Keller
Die Nürnberger Asylothek
Eine „Asylothek“? Was ist das? Zumindest
die Endung legt nahe, es handele sich um
eine Art Bibliothek. Aber was zunächst nur
als kleine Bibliothek für Asylbewerber einer
Nürnberger Gemeinschaftsunterkunft
gedacht war, hat sich mittlerweile zu einem
deutschlandweiten Flüchtlings-Projekt
entwickelt, ehrenamtlich geführt.
In Nürnberg wird das große Projekt in
einem kleinen Kellerraum fortgesetzt.
Hinten in der Ecke des Raums entdecken
wir einen Flipchart. Dort steht zwischen
deutschen Tiernamen das Wort „GEFAHR“.
Vor was man da wohl warnen wollte?
Vielleicht vor dem Bösen, denn das soll
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laut einigen Asylbewerben hier im Keller
wohnen. Aber dort war eben Platz, seit
man die Essensausgabe abgeschafft hat.
Eine Zusammenkunft im
Keller der Geister
„Eigentlich wollten wir die Wände blau
streichen. Aber in vielen Kulturen steht
Blau für das Böse. Die Asylbewohner
trauen dem Keller sowieso nicht, da müssen
wir auf eine neutrale Farbe achten“, sagt
Karl-Heinz Kristen, der Leiter der Asylothek.
In vielen Ländern werden Kellerräume
mit dem Totenreich verbunden: Sie liegen
unter der Erde und viele Menschen wollen
zu Lebzeiten nichts mit dem Tod zu tun
haben. So geht das Gerücht um, dass auch
in diesem Keller bösartige Geister hausen.
Herr Kristen hat uns in die Hintermarstraße
eingeladen. Doch: Sind wir hier richtig?
Wir schauen uns in dem ca. 20 m2 großen
Raum um. Seit August ist das nun die
Asylothek – eine Bibliothek für Asylbewerber. Eine Bibliothek hatten wir auch
erwartet; mit hohen beschilderten Regalen,
vielleicht auch mit kleinen Sitzgruppen zum
Schmökern. Stattdessen aber beherrscht
ein Regal aus Metall den Raum, das fast
die komplette Wandseite gegenüber der
Tür einnimmt. Darin befinden sich eine
handvoll unsortierter Bücher, darunter
„Tibetische Märchen“ und ein Duden. Aber
in die obersten Reihen sind American-Toast
Schachteln gequetscht, ein alter Turnsack
liegt neben einer Kiste mit Krimskrams. Wir
setzen uns an den Biertisch in der Mitte des
Raumes, auf dem eine ungeöffnete Tüte
„Schwäbische Brezeln“ liegt. Die Lampe
über uns spendet gerade genug Licht, um
auch das Kleingedruckte zu lesen. Und
trotz der aufgedrehten Heizung kommt von
den weißen Wänden gefühlt die doppelte
Portion Kälte zurück. Ein neuer Anstrich
könnte sicher mehr Menschen anlocken.
Wer kommt, ist da
Einige Besucher der Asylothek haben wir
schon kennengelernt, denn jede Woche
macht Herr Kristen mindestens einen
Rundgang und lädt die Menschen im
Wohnheim zu den Deutschkursen ein. Im
zweiten Stock haben wir die Äthiopierin
Malou getroffen. Sie müsse erst ihren Mann
fragen, ob sie zum Deutschkurs kommen
dürfe. Schamanin Rhua ist die Herrin der
Küche. „In ihrem Land gehen die Männer
Geld verdienen. Die Frauen kümmern
sich um den Haushalt und die Kinder. Die
Männer können, seitdem sie hier sind,
nicht arbeiten und so leben viele in den
Tag hinein“, übersetzt Karl-Heinz Kristen.
Die Asylothek wirkt dem Heimalltag,
der Eintönigkeit und der Trübsal entgegen:
Durch das Angebot sollen die Menschen
beschäftigt und ihnen die Integration
erleichtert werden. Um besser Deutsch zu
lernen, gibt es externe Sprachkurse. Drei
Kurse mit jeweils 40 - 50 Teilnehmern
leitet Herr Kristen selbst. Der Leiter meint,
die Asylothek gewinne stetig an Zuwachs.
„Manchmal“, so sagt er, „stehen die
Asylbewerber schon an der Tür und warten,
bis wir kommen und die Asylothek wieder
aufmachen.“ Kommen dürfen alle.
Inzwischen ist auch die ehrenamtliche Helferin Caro da und bereitet sich auf den Kurs
vor. In einer halben Stunde startet er. Sie erklärt, dass sie manchmal etwas länger warte, bis die Asylbewerber eintrudeln. „Manchmal kommen auch nur zwei oder drei.
Dann wieder zehn. Das ist immer so eine
Sache und etwas schwer einzuschätzen.“
Viel zu deutsch
„Ihr denkt alle viel zu deutsch“, erklärt
Herr Kristen, als Caro ihr Konzept vorstellt.
„Den Asylbewerbern ist es egal, ob ihr
mit einem Plan kommt oder nicht. Sie
wollen beschäftigt werden. Deutsch lernen
muss da locker nebenher laufen. Das mit
dem Konzept funktioniert hier nicht so,
wie wir Deutschen es uns vorstellen.“
Weshalb ein Plan wenig Sinn macht,
zeigt sich in der Stunde. Denn worauf
hätte man sich vorbereiten können? Fünf
Männer, zwei Kinder und eine Frau mit
Baby kommen zum Kurs. Caro beginnt die
Stunde mit „Ich-Du-Er-Sie-Es“ und lässt
die Teilnehmer kurze Sätze sprechen.
Der Deutschkurs besteht aber nicht nur
aus typischen Lerneinheiten zur deutschen
Sprache. Oft ist er auch ein gemütlicher
Spiele-Abend, bei dem wie zufällig Deutsch
gesprochen wird und so – ganz nebenbei neue Wörter gelernt werden. „Manchmal
machen wir auch nur ein kleines Essen.
Oder wir verteilen diese Brezen. Dadurch
lernt man auch, was Deutsche Kultur ist.“
Kommunikation und Gemeinschaft
Solch freiere Veranstaltungen waren
nicht immer selbstverständlich, da die
Asylothek ursprünglich nur als kleine
Bibliothek gedacht war, die vor allem mit
Sprachbüchern ausgestattet sein sollte.
Mittlerweile wird viel mehr geboten:
Spieleabende, Kochkurse, Hausaufgabenbetreuung, kreative Projekte sowie
die Förderung besonderer Begabungen.
Einer dieser begabten Menschen
sitzt neben uns: Naomi, eine Pianistin
aus Vietnam. „I need a piano“, sagt die
16-Jährige, während uns Herr Kristen
erzählt, dass er ihr gerade ein Vorspiel in
der Musikschule organisiert. „Und wo willst
du das hinstellen?“, fragt der Leiter. „In
my room.“ Er lächelt. „Und was denkst du,
sagen deine Nachbarn, wenn du anfängst zu
spielen?“ In ihr Zimmer also könne sie es nicht
stellen, weil der Lärm ihre Nachbarn stört.
Gegenseitige Rücksichtnahme sei wichtig
für das Zusammenleben – sicherlich ein
Grund, weshalb Kristen uns hierher eingeladen hat und nicht in die Zentralasylothek in
der Kohlenhofstraße. „Im Kohlenhof haben
die Asylbewohner keine freundschaftlichen
Beziehungen zueinander“, erzählt uns der
Leiter. Aber in der Hintermayrstraße lebt
eine überschaubare Anzahl an Menschen,
deshalb ist es hier einfacher eine Gemeinschaft zu entwickeln. „Es ist wichtig, den
Zusammenhalt zu fördern. Dann kommen
wir und helfen mit der Asylothek.“
Helfen wollte damals auch der Gründer
und Initiator der Asylothek Günter Reichert.
Im September 2012 eröffnete der Architekt
ohne öffentlichen Zuschuss eine „Asylothek“. Jetzt gibt es derlei an vielen Orten
in Deutschland, in Augsburg und Hoyerswerda, in Karlsruhe und Kiel, in Tübingen
und Trier, sogar auch in den Niederlanden.
Hier prallen verschiedene Kulturen und
Gewohnheiten aufeinander, aber Sprache
und Bildung helfen. Deshalb betont Herr
Kristen: „Gegenseitiger Respekt vor der
Kultur und der Religion ist wichtig. Und
Kommunikation ist sowieso immer wichtig.“
Eine Woche nach unserem letzten Besuch erfahren wir, dass die Wände des
Kellers nun nicht mehr in kaltem Weiß,
sondern in Mintgrün gestrichen sind.
Eine Reportage von Astrid Brehm und Lisa
Espach mit einer Illustration von Pia Salzer
15
Verständnis geht
durch den Magen
Essen bei Laleh
Laleh macht auch persisches Catering für Events - hier ihre Schwester am Teetisch während einer Veranstaltung der Zentrifuge.
Am Flughafen erhängt werden. Das
klingt nach einem Albtraum. Für iranische
Flüchtlinge ist das eine nur allzu nahe
liegende Realität. Eine der Betroffenen wäre
vielleicht Laleh gewesen. Im Iran ist sie zum
Christentum konvertiert. Vor drei Jahren floh
sie zusammen mit ihrem Mann und ihrem
Sohn von Teheran nach Deutschland.
Religiöse Verfolgung gehört zum Alltag
vieler Iraner. So gilt zum Beispiel eine
Konversion im islamischen Gottesstaat
schon als Hochverrat und wird mit dem
Tod bestraft. Würde ein konvertierter
Flüchtling also aus Deutschland ausgewiesen, könnte er noch bei seiner Ankunft
am Flughafen hingerichtet werden.
Ein Schicksal, vor dem Lalehs
Onkel Akbar dank der evangelischmethodistischen Gemeinde in Fürth
bewahrt wurde. Er war der erste iranische
Flüchtling, dem dort Kirchenasyl gewährt
wurde. Genau wie Laleh ist Akbar bereits
im Iran zum Christentum konvertiert
und musste deshalb fliehen. Weil man
während eines Kirchenasyls das Gelände
einer Gemeinde nicht verlassen darf, wurde
er dort von iranischen Freunden besucht.
Folglich entstanden immer mehr Kontakte
und somit letztendlich eine deutschiranische Gemeinschaft.
Gastfreundschaft,
Fröhlichkeit und Spenden
„Sogar Gottesdienste werden mittlerweile
zweisprachig abgehalten. Wir möchten ganz
bewusst eine deutsch-iranische Gemeinde
sein“, erklärt uns Pastor Friedrich Gruhler.
„Auch weil wir viel von der iranischen
Kultur lernen können, zum Beispiel in
Sachen Offenheit. Wenn man auf diese
Menschen zugeht, stehen sie sofort vom
Tisch auf und begrüßen einen herzlich.“
Auch Laleh ist Teil dieser Gemeinde.
Seit Mai 2015 kocht sie dort jeden ersten
Samstag im Monat ein Drei-Gänge-Menü.
Und im Anschluss tanzt man zu iranischer
Musik. Das Angebot hat Erfolg. „Manchmal
haben wir bis zu 100 Gäste“, erzählt sie
stolz. Schon am ersten Abend kamen über
60. „Wir hätten vielleicht mit 20 Leuten
gerechnet“. Der Großteil der Gäste sind
dabei Iraner, aber auch viele Deutsche
kommen gern, um hier einen Abend mit
persischem Essen in freundlicher und
fröhlicher Atmosphäre zu genießen.
Was uns interessiert: Wie das Konzept
„Essen bei Laleh“ entstanden ist. „Ich
möchte den Menschen etwas zurückgeben“,
erklärt uns die 40-jährige Elektroingenieurin. Laleh hat im Iran studiert, aber bisher
noch keine Anstellung in Deutschland
gefunden. Kochen, so sagt sie, sei für sie
ein guter Weg, um zu helfen und etwas zu
bewirken, und das obwohl sie – nach eigener
Aussage - noch nicht so gut Deutsch könne.
„Ein Teil des Geldes, das an so einem Abend
zusammenkommt, wird für Krebskranke
oder anderweitig hilfsbedürftige Menschen gespendet. Es dient alles einem
guten Zweck“, betont Laleh. Derzeit wird
das Geld dafür verwendet, das Haus der
Gemeinde energieeffizienter zu gestalten.
Doppelt benachteiligt:
als Christin und als Frau
Im Iran war Laleh als Christin der Verfolgung ausgesetzt, aber auch als Frau war sie
benachteiligt. Obzwar es offiziell heißt, dass
Männer und Frauen gleichberechtigt sind,
stehen die islamischen Prinzipien über dem
weltlichen Gesetz. So leben Frauen in klaren
Grenzen, auch hinsichtlich ihrer Bewegungsund Bildungsmöglichkeiten. Zwar besuchen
nach wie vor viele Frauen die Universitäten
des Landes, sie haben sich jedoch stets nach
strengen Vorgaben zu kleiden. „Ohne sich zu
verhüllen, darf eine Frau ihr Haus gar nicht
erst verlassen“, erklärt Laleh. Möchte eine
Frau Medizin studieren, sei dies grundsätzlich möglich, allerdings gibt es Regionen,
in denen Ärztinnen nicht arbeiten dürfen.
Bestimmte Studien seien ihnen gar nicht
gestattet, unter anderem Jura. Dem entspeche, dass die Aussage einer Frau vor Gericht
nur halb so viel zähle wie die eines Mannes.
Um die radikal islamischen Prinzipien
der Scharia durchzusetzen, gebe es die
sogenannte Religionspolizei. Sie sorge dafür,
dass sich Frauen an alle Regeln und Gebote
hielten. Das führt auch zu willkürlichen
Verhaftungen. Andererseits gelte: Wenn
eine Frau sexuell belästigt oder gar
vergewaltigt wird, so schweigt sie meist, um
die Ehre ihrer Familie zu bewahren und sich
nicht auch noch dem Verdacht auszusetzen,
im Grunde „schuld“ daran zu sein.
Kultur des Irans nicht mit
Unterdrückung verwechseln
Die Märchen aus 1001 Nacht, ein goldener
Orient und anmutige Gedichte aus dem
„Diwan“. Das sind die Klischees vom alten
persischen Reich. Dann gab es das brutale
Regime des Schahs. Und wenn man an
die Gegenwart des Irans denkt, denkt
man an Kriege, Fanatismus, Armut und
Unterdrückung. Doch Laleh lädt dazu ein,
einen Teil der iranischen Kultur kennen zu
lernen, der mehr ist als das. Laleh: im Iran
ist das der Name einer Blume, einer Tulpe.
Im umfunktionierten Gemeindesaal,
wo an anderen Tagen Gottesdienste
stattfinden, laufen jetzt die Vorbereitungen
auf das große Essen. Liebevoll und mit Sinn
fürs Detail gedeckte Tische schaffen ein
gemütliches Ambiente. Es gibt eine Salatbar
und Getränke. Nebenan schenkt eine Frau
im persischen Gewand Tee aus und reicht
Nachtisch. Auch die restlichen Servicekräfte
sind Iraner aus der Gemeinde. Der Saal
füllt sich mit ersten Gästen. Und neugierig
werfen wir einen Blick auf die Karte.
Obwohl die Gerichte einfach gehalten
sind, dauern die Vorbereitungen für so einen
Abend bis zu drei Tage. „Persisches Essen
erfordert viel mehr Zeit als deutsches“,
erklärt uns Laleh. Doch all die Arbeit
investiere sie gerne, denn Kochen ist ihre
Leidenschaft.
Zur Vorspeise gibt es heute eine Suppe. Als
Hauptgang Khoreshte-karafs. Ein klassisches Gericht, bestehend aus Rindfleisch,
Sellerie und Gemüse. Wie bei den meisten
iranischen Speisen wird dazu Reis mit
Safran gereicht. Vor allem der Einsatz
verschiedenster Gewürze kennzeichnet die
persische Küche. Traditionelle und frische
Lebensmittel sind Laleh sehr wichtig. Die
Zutaten für ihre Gerichte kauft sie deshalb
ausschließlich in iranischen und kurdischen
Lebensmittelläden. Zum Nachtisch gibt
es traditionell schwarzen Tee mit Obst.
Sehr beliebt sind Datteln.Nach dem Essen
zeigt uns Lalehs Onkel Akbar typisch
iranische Tanzschritte zu Folkloremusik.
Am Ende des Abends haben wir das
Gefühl, ein bisschen mehr über die positiven
Seiten des Irans gelernt zu haben. „Auch ich
habe ein total schiefes Bild gehabt“, erzählt
uns der evangelisch-methodistische Pastor
Gruhler, „Durch die Iraner habe ich einiges
neu begriffen. Und ich habe gemerkt, dass
der Iran kulturell gesehen viele Schätze und
Reichtümer hat.“ Wie lange sie hier kochen
kann, weiß Laleh nicht. „Vielleicht habe
ich bald gar keine Zeit mehr, wenn ich eine
Arbeitsstelle finde“, erklärt sie. Aber wir
und andere danken ihr schon einmal für die
Genüsse und den Einblick.
Eine Reportage von Lisa Zirkelbach,
Kim Mauer und Kristina Pilny
16
17
Freiheit für
Wäscheständer
oder: Die Katastrophe, wenn einmal die Post streikt
Ein Porträt von Hranusch und ihrer Familie
und über das Leben im Asylbewerberheim
Kohlenhof. Das Leben hier ist anders, schon
der Alltag ist es. Das zeigt sich überall, vor
allem aber in den Kleinigkeiten. So benutzen
die Flüchtlinge, die hier leben, zum Beispiel
den Keller nicht.
Und wieso ist es überhaupt wichtig, ob ein
Keller benutzt wird oder nicht? Dort befindet sich ein Raum, dafür vorgesehen, seine
Wäsche zu trocknen. Trotzdem finden die
Hausmeister im Asylbewerberheim am Kohlenhof überall Wäscheständer, in Zimmern
und Gängen. Eine nervige Angewohnheit?
“Die sind undankbar!”, meinen manche.
Doch das ist es nicht, wenn man nur einmal
genauer hinsieht. Aber dazu später mehr.
Lena Zürn jedenfalls hat sehr genau
hingesehen, in ihrer Bachelorarbeit mit
dem Titel „Warten in Zimmer 006“. Die
Fotografin ist Absolventin der Fakultät
Design an der Technischen Hochschule
Nürnberg. Und für ihre Abschlussarbeit
begleitete sie den Alltag einer
Flüchtlingsfamilie, sieben Wochen lang.
Einmal andere Bilder
zeigen als die üblichen
Lena Zürn hielt Momente fotografisch fest,
um einen anderen Blick auf Flüchtlinge zu
eröffnen, als es die Nachrichten tun. Denn
in denen, so findet sie, werde das Thema
18
überwiegend negativ dargestellt. Vor allem
durch die Beschreibung von Flüchtlingen
als passive Objekte hat sich bei den meisten
eine Standard-Vorstellung eingebürgert:
„Dann sitzt da ein Mensch in einem kleinen
Zimmer wie ein nicht abgeholtes Gepäckstück und ist isoliert von der Gesellschaft,
isoliert von der Außenwelt, isoliert von
seiner Familie.“ Mit dieser Praxis, alles zu
vereinfachen und Menschen zu stigmatisieren, wollte Lena in ihrem Fotobuch brechen.
Zwar sind die Flüchtlinge tatsächlich oft
isoliert, sagt sie, aber sie versuchen eben
auch etwas dagegen zu tun und ihr Leben
aktiv zu gestalten. Der Wille, sich zu integrieren sei da – bei den meisten zumindest.
Lena begleitete Hranusch. Hranusch
war früher dunkelhaarig, wie viele Armenier,
jetzt ist sie eine blonde Frau. Denn mit ihrer
Ankunft in Deutschland hat sie ihre Haare
gebleicht. Für sie bedeutete das ein neuer
Lebensabschnitt. Vor vier Jahren verlor sie
ihren Mann bei einem Autounfall und mit
ihm jeglichen finanziellen Rückhalt. Sie hat
nie gearbeitet, und auch keine Ausbildung
gemacht, denn in Armenien, so meint sie,
gebe es noch klare Geschlechterrollen:
Mädchen bekämen keine gute Schul­
ausbildung, sondern verließen mit 14 die
Schule, „helfen der Mama im Haushalt“
und bekochten danach ihren Mann. So
hatte sie das auch gemacht, aber für ihre
zwei Töchter wollte sie bessere Chancen,
hat schnell einen Koffer voller Barbies und
Kleidung gepackt und ist mit ihnen nach
Deutschland aufgebrochen.
­
Nur ein paar von 7000
Jetzt sind Hranusch und ihre Kinder ein paar
von rund 7.000 Flüchtlingen, die derzeit in
Nürnberg Schutz gefunden haben. Doch
wirtschaftliche Gründe für eine Flucht
wie die ihre werden nur selten anerkannt.
Auch in der Gesellschaft sind sie schlecht
angesehen. Zwei Jahre lang blieb sie
ohne jeden Bescheid - so lange haben die
Behörden ihren Antrag nicht bearbeitet.
Und während Hranuschs Kinder
bereits in eine deutsche Schule gingen,
saß sie zuhause. Denn arbeiten durfte sie
nicht. Die Fotografin Lena Zürn meint,
das sei ein echtes Problem, denn man
habe viel zu viel Zeit zum Grübeln. Und in
der Schwebe zwischen Abschiebung und
Annahme gehe viel in den Asylbewerbern
vor. Das sei eine psychische Belastung mit
schwerwiegenden Folgen. Als Lena bei ihrer
ehrenamtlichen Arbeit mit Flüchtlingen
das erste Mal auf die Familie trifft, wirkt
Hranusch bereits sehr mager und leidet
an Depressionen. Zu Beginn von Lenas
fotografischer Dokumentation sind es die
Kinder, die ihre Mutter überreden, sich auf
die Studentin und ihr Projekt einzulassen.
Denn viele Flüchtlinge schämen sich für ihre
Lebensumstände hier.
19
http://ss15.ohmschau.de/project/lena-zuern/
http://cargocollective.com/lenazuern/
http://lenazuern.tumblr.com/
20
Einige der Bilder in Lenas Fotobuch zeigen
das Zimmer der Familie und geben so einen
Eindruck von ihrer Wohnsituation. Zu dritt
in einem Zimmer, da bleibt nicht viel Platz
und jeder Zentimeter wird genutzt. Zu
sehen ist ein Esstisch mit einer Eckbank.
Dahinter türmt sich vor den Schränken
allerlei Kleinkram, von einem Teller mit
zwei Stück Kuchen, einem Vorratsregal mit
Zwiebeln und einer Chipstüte bis hin zu einem Volleyball und etwas Wäsche. Auf der
anderen Seite des Tisches steht ein Fernseher, dort läuft gerade ein Zeichentrickfilm.
In der Ecke stehen zwei Schulranzen - rot
und pink. Der Raum ist mit verschiedenen
Vorhängen und mehreren Topfpflanzen
22
dekoriert und wohin man auch blickt, sieht
einem ein Kuscheltier entgegen. „Das tut
gut, wenn du es dir schön machen kannst.
Wenn du dich setzt, herumschaust und
viel entdeckst“, zitiert Lena Hranusch.
Leben in einem „Vorzeige-Heim“
Hranuschs kleine Familie schläft auf zwei
zusammengeschobenen Betten. Vielen
Flüchtlingen ist es unangenehm, sich ein
kleines Zimmer teilen zu müssen und auch,
dass Küche und Bad sich auf dem Gang befinden. Das aber ist nicht einfach “Undankbarkeit”, sondern hat oft mit Sitten oder
Scham zu tun, mit religiösen Vorgaben oder
lange genährten falschen Vorstellungen
von einem idealen Deutschland, wie aus der
Werbung. Zudem sollen Landsleute nichts
davon erfahren, denn dort gehen ja alle
davon aus, dass es jedem hier besser ginge.
Dabei handelt es sich beim Wohnheim
am Kohlenhof um ein „Vorzeige-Heim“. Was
vorher Bürohaus und Schulungszentrum
war, wurde 2001 zur Unterkunft für
Flüchtlinge umgebaut. Weil alles
noch relativ neu ist, sind Toiletten und
Duschen in einem guten Zustand und
die Fenster isoliert. Da hat Lena Zürn in
anderen Heimen schon ganz anderes
erlebt: Von schimmelnden Gebäuden
und Rattenproblemen berichtet sie, von
beschmierten Wänden und beißenden
Gerüchen.
Damit haben die Bewohner dieses Wohnheims nicht zu kämpfen, aber Probleme gibt
es trotzdem. Wie überall, wo Menschen
dicht an dicht beieinander wohnen. Denn
der Mangel an Privatsphäre, den das mit
sich bringt, birgt Konfliktpotential. Vor
allem, wenn Menschen unterschiedlicher Sprachen, Religionen und Kulturen
zusammentreffen. Auch die Wände sind
hellhörig. „Ruhe?! Wenn meine Nachbarn
mich lassen, habe ich Ruhe. Sie streiten, die Kinder schreien, ständig klopft
jemand und will etwas. Katastrophe“,
zitiert Lena Hranusch in ihrem Buch.
Abhängigkeit und Freiheit
„Lass das! Du darfst das nicht! Du musst
das jetzt sauber machen“, prasselt es auf
Hranusch ein. So bekommen die kleinsten
Dinge ein Riesengewicht, weil sie das letzte
sind, was die Asylbewerber noch selbst
bestimmen können. Ständig sind sie Verordnungen, Weisungen und Entschlüssen
anderer ausgesetzt. Im Großen geht es um
die Ämter, die über ihre Zukunft entscheiden, im Kleinen aber beginnt es schon mit
der Frage, ob die Post schon wieder streikt.
Denn ohne Post kommt kein Annahmebescheid, ohne Post kommt kein Krankenschein und ohne Post bleibt das sowieso
schon knappe Geld aus. Man leiht sich
Geld von den Nachbarn und wird erneut
daran erinnert: Ständig ist man abhängig.
Womit wir wieder beim Trockenkeller wären
und all den Wäscheständern in Gängen und
Zimmern. Für einen Menschen, der in allem
derart abhängig ist, wie es die Flüchtlinge
sind, hat das selbstständige Entscheiden, z.B. „Wo hänge ich meine Wäsche
auf?“, einen ganz anderen Stellenwert;
Schon solche Dinge stehen für Freiheit.
Eine Reportage von Marika Mietzner
und Selina Sievers
23
‚komm!unication’
Integration im Theater
Seit Oktober letzten Jahres leitet Pauline Buff
wieder einen Theaterkurs. Aber dieses Mal ist
vieles anders als sonst. Die Theaterpädagogin
des Theaters Pfütze betreut eine „sehr
heterogene“ Gruppe, wie sie sagt. Und
nicht etwa, weil es Jugendliche im Alter
von 14 bis 25 sind oder weil besonders viele
Mädchen und Jungs zusammen spielen. Nein,
diesmal arbeitet sie mit Jugendlichen aus
Aserbaidschan, Damaskus und Maxfeld. Bei
‚komm!unication’ – so heißt der Theaterkurs
- proben Deutsche mit Flüchtlingen.
Wir sitzen in den oberen Reihen des Theatersaals. Pauline steht mit dem Rücken zu
uns am Fuße der Bühne. Sie gestikuliert mit
dem ganzen Körper, um die nächste Übung
zu erklären. „Wenn man einen Impuls kriegt,
bewegt man sich“ - „Impulstanz“ nennt sich
die Übung. Alle stehen bewegungslos auf
der Bühne, während zwei Leute zu rhythmischer Musik um sie herum tanzen. Irgendwann stoßen die beiden zwei andere Leute
an und bleiben im selben Moment stehen.
Die Angestoßenen beginnen nun statt
ihrer zu tanzen, nehmen also den Impuls
auf. Viele gehen bei diesem Ausdruckstanz
ganz aus sich heraus, bewegen ihren ganzen
Körper mit großzügigen Schwüngen. Andere
müssen sich ein Lachen verkneifen und
ein paar bleiben verhalten, pressen ihre
Arme nah an den Oberkörper und machen
nur wenige, vorsichtige Schritte. Denn
viele haben so etwas noch nie gemacht.
Seit gut drei Monaten gibt es diese Gruppe
nun, und viele sind erst seit kurzem dabei
– oder überhaupt erst in Deutschland.
Beim ersten Treffen kam nur
einer, dieses Mal waren es 35
Impulse geben - das geschieht hier nicht
nur tanzend. Seit zwei Jahren versucht
Pauline Buff Flüchtlingen das Theater näher
zu bringen. Beim ersten Mal kam einer.
Mittlerweile ist es schon das zweite Projekt,
das das Theater Pfütze auf die Beine gestellt
hat. Der Plan dafür entstand in Zusammenarbeit mit der Stadt Nürnberg. Beim
ersten Treffen in dieser Spielzeit kamen 35
Jugendliche, viele davon auch aus der ersten
‚komm!unication’-Zeit im Sommer 2015.
Zwölf Flüchtlinge aus der Unterkunft in
der Klaragasse waren damals bei Pauline.
„Viele hatten Lust, weiter zu spielen“,
erklärt sie. Der Jugendclub des Theaters,
wo sonst nur Deutsche auftreten, wurde
24
erweitert: eine gemischte Gruppe entstand.
Mittlerweile gehören 14 Flüchtlinge und
7 deutsche Jugendliche zum Ensemble für die Aufführung im Sommer.
Für Pauline Buff ist Theater ideal, um
jemanden zu integrieren. Warum? „Weil es
unfokussiert abläuft.“ Hier ist nämlich nicht
die Integration selber das Ziel. Es geht nicht
nur darum, dass die Flüchtlinge lernen, wie
wir leben, woraus unsere Kultur besteht,
oder dass man zum Beispiel pünktlich
kommt. Es geht primär um eine Theateraufführung. Darauf liegt der Fokus. „Wir
bekommen deren Kultur und Umgangsformen mit und sie unsere.“ Integration geschieht hier spielerisch und ganz nebenbei.
„18 Uhr ist in Deutschland
18 Uhr. In Syrien ist 18 Uhr
halb sieben oder sieben“
So kommen mittlerweile alle regelmäßig.
Und auch pünktlich. Oder eher: nicht
weniger pünktlich als die Deutschen.
Pauline kann sich noch gut an eine Szene
am Anfang erinnern: Majeddin aus Syrien
kommt zu spät. Als sie ihn darauf hinweist,
dass es um 18 Uhr losgeht, entgegnet er:
„18 Uhr ist in Deutschland 18 Uhr. In Syrien
ist 18 Uhr halb sieben oder sieben.“
Heute wird zum ersten Mal im Theater
geprobt. Ansonsten finden die wöchentlichen Termine im „Sambaraum“ des Hotels
Astoria statt, aus praktischen Gründen:
viele der Flüchtlinge wohnen dort. Auch
Emil hat hier mit seinen Eltern und seinem
Bruder ein kleines Zimmer. Viel ist das nicht,
aber „besser, als auf der Straße“. Vor über einem Jahr ist der 17jährige aus Aserbaidschan
nach Deutschland gekommen. Er ist neu bei
dem Projekt, spielt zum ersten Mal Theater.
Die Proben machen ihm am meisten Spaß.
Auch Deutschland gefällt ihm: „Deutsche
Leute ist freundlich“, sagt er lächelnd.
Ein Stück entsteht
Pauline erklärt eine weitere Übung: Es
improvisieren immer zwei Leute gemeinsam
auf der Bühne. Bei einem Klatschsignal
25
26
27
erstarren sie und ein nächster übernimmt
die Position von einem der beiden. Aus
einem Ausgangsthema heraus entstehen
so die unterschiedlichsten Szenen. Mal
werden wilde Tiere gesichtet, ein anderer muss Liegestützen machen und der
Nächste findet sich beim Arzt wieder.
Durch solche Übungen und selbstgeschriebene Szenen erarbeiten die Jugendlichen
nach und nach selber ein Stück, das sie
am Ende aufführen. Bis jetzt lief die
Übung immer in einer Fantasiesprache ab,
heute mit „richtiger“, also auf deutsch –
„... aber ohne Grammatik!“, wirft sofort
einer der Älteren ein. Und alle lachen.
Tatsächlich trifft das den Kern. Es geht
nicht um korrekte Satzbildung oder
Aussprache. Später sollen die Deutschen
eher den Rahmen und Inhalt des Stücks
wiedergeben und die Flüchtlinge Emotionen
und Atmosphäre darstellen. Die Aufgabenbereiche sind also verschieden, denn
die Heterogenität der Gruppe birgt auch
Gefahren. Die mit mehr Theatererfahrung
dürfen nicht unterfordert werden und die
Neuen nicht überfordert. So spielen die
deutschen Jugendlichen schon bis zu fünf
Jahre hier im Theater mit. Die Flüchtlinge
haben maximal bei dem Stück im Sommer
mitgewirkt. Unterschiedliche Erfahrungen
sorgen für unterschiedliche Ansprüche,
man kann also nicht alle gleich behandeln.
Bei all den sozialen Faktoren des Pro-
jekts darf eben auch der künstlerische
Aspekt nicht verloren gehen. Pauline muss
auf einen „ausgewogenen Umgang der
beiden Disziplinen achten“, darin liegt
die größte Herausforderung für sie.
„Es soll später nicht heißen: Oh, das ist
aber süß: da spielen Flüchtlinge Theater!
Alle sollen künstlerisch ernst genommen
werden, denn viele haben Potenzial.“
„Beim Spielen sind alle gleich“
Wirklich stolz ist Pauline, dass die Gruppe mittlerweile zusammengewachsen
ist. Den Eindruck haben wir auch. Nach
der Probe treffen sich alle zusammen
in einer Bar. Sie lachen und plaudern
und tauschen Handynummern aus.
„Wir wollten schon lange eine WhatsApp-Gruppe einrichten“, erzählt Carlotta,
eine 17jährige deutsche Teilnehmerin. Das
alles ist nicht selbstverständlich. „Für junge
Mädchen ist es sicher auch eine Hürde,
jungen schwarzen Männern gegenüber zu
stehen, die bereits über 20 Jahre alt sind
und kein Wort deutsch sprechen“, erklärt
Pauline. Aber: „Wenn wir spielen, macht
uns das nichts aus. Man lernt die Leute
im Theater auf eine andere Art kennen“,
erzählt uns Carlotta. Denn egal ob 17 oder
25, egal ob aus Maxfeld, Damaskus oder
Aserbaidschan: „Beim Spielen sind
alle gleich.“
Eine Reportage von Paul Wick
und Jakob Trost
• Pauline Buff (l.) ist Theaterpädagogin im
Theater Pfütze und hat in der Spielzeit
2014/2015 ein Theaterprojekt mit jungen
erwachsenen Flüchtlingen ins Leben
gerufen. Gemeinsam mit der Schauspielerin
Johanna Steinhauser (r.)hat sie dieses
Theaterprojekt und auch den Jugendclub
‚komm!unication‘ geleitet und auf die
Bühne gebracht.
28
29
Moderner Werte-Codex
DIE ZEHN REGELN DER FREIHEIT
30
Gewaltlosigkeit
Non-violence
Non-violence
отказ от насилия
Gleichberechtigung
Gender equality
Égalité des sexes
равноправие
Zusammenhalt
Solidarity
Solidarité
солидарность
Schutz der Schwächeren
Protection of the socially deprived
Protection des plus faibles
Защита слабых
Religionsfreiheit und Friede
Freedom of religion and peace
Liberté religieuse et paix
свобода вероисповедания
Şiddetsizlik
Kadın erkek eşitliği
Beraberlik
Güçsüzleri korumak
İnanç özgürlüğü ve barış
Nachhaltigkeit
Sustainability
Durabilité
устойчивое развитие
Gesetzestreue und Redlichkeit
Law-abidance and honesty
Légalité et honnêteté
верность закону и честность
Respekt und Höflichkeit
Respect and courtesy
Respect et courtoisie
уважение и вежливость
Eigenverantwortung
Personal responsibility
Responsabilité
личная ответственность
Bildung und Kultur
Education and culture
Education et culture
oбразование и культура
Sürdürülebilirlik
Yasalara sadakat ve dürüstlük
Saygı ve nezaket
Şahsi sorumluluk
Eğitim ve kültür
Um einen Beitrag zur besseren Integration
von Flüchtlingen zu leisten, hat Anfang
dieses Jahres die fachübergreifende Akademie
BACSA (siehe www.business-aesthetics.
com sowie www.wissensburg.de) einen
„modernen Werte-Codex“ erstellt und diese
Werte-Liste im Rahmen der zeitgleichen
Wertediskussion zur freien Verfügung ins
Netz gestellt.
anderen, für manche als Bestätigung, für
andere als Erinnerung. Die schwer allgemeinverbindlich definierbaren Werte der
„Würde des Menschen“ und des „Respekts“
ergeben sich durch das Zusammenspiel der
hier aufgeführten insgesamt zehn Werte.
Der thematische Schwerpunkt der BACSA
ist: Universalwissen über das menschliche
Bewusstsein und seine einzigartige Form
der Informationsverarbeitung. Eines der
entsprechenden anwendungsbezogenen
Arbeitsprojekte führte zu einer Grafik mit
zehn Icons, die mit Bildern und kurzen
mehrsprachigen Erläuterungen jeweils
einen Wert darstellen. Ursprünglich war
diese Grafik für Menschen gedacht, die
des Deutschen nicht mächtig und daher
auf kulturübergreifende nonverbale
Zeichen und die fremdsprachigen Übersetzungen der Begriffe angewiesen sind.
Der Werte-Codex gilt aber genauso für alle
Neben zahlreichen Gesprächen mit Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen war vor allem
eine umfassende Systemtheorie Grundlage
dieser Zusammen­­stellung an Werten.
Auf diese Weise wurde eine hohe Akzeptanz jener „Zehn Regeln der Freiheit“ auf
allen Seiten der teilweise sehr kontrovers
geführten Debatte erzielt, was die Pragmatik, Lebensnähe und Menschlichkeit dieser
Regeln angeht, und zwar quer durch fast
alle politischen Lager. Es wurde vor allem
eine große Anzahl von Asylbewerber*innen
erreicht; aufgrund eigeninitiativer Weitergabe des Wertecodex betraf das mehr als zwei
Positive Resonanz
von vielen Seiten
Drittel der erreichten Personen – was zeigte,
dass von dieser Seite ein durchaus großes
und breit gefächertes Interesse an Werten
besteht. Einige wiesen darauf hin, dass
sie eben auf der Suche nach verlässlichen
Werten nach Deutschland gekommen sei.
Auch die Reaktion von Verantwortungsträgern aus dem politischen Bereich von der
kommunalen bis zur Bundesebene gestaltete sich in dieser Hinsicht ermutigend. Es
verschickten zum Beispiel die türkischen
Konsulate in Deutschland den Codex untereinander, der Codex wurde auf regionalen
Integrationsveranstaltungen vorgestellt,
und seitens des Bundeskanzleramts wurde
der Codex von Herrn Altmaier als „gelungener Beitrag zur Diskussion über eine
Integration der nach Deutschland kommenden Menschen“ gelobt. Dabei wurde aber in
dem Falle nicht nur diskutiert, sondern es
haben dafür tatsächlich viele verschiedene
Gruppen zusammengearbeitet, sich neu
vernetzt und kleine, aber wichtige Dinge bewirkt, wie z.B. Sprachunterricht für einzelne
Asylanten oder konstruktive Bekanntschaften zwischen Asylanten und Deutschen.
Bewusstsein-Modell als
Grundlage
Entstanden ist dieser Werte-Codex aus
einer Suche nach bestmöglichen Formen
des Umgangs mit dem Alltagsleben heraus,
die sich von dem umfassenden Bewusstseins-Modell hat anleiten lassen, das der
Arbeit der BACSA zugrunde liegt (Voigt
2005). Wird nämlich mit dem BACSA-Modell des menschlichen Bewusstseins nach
bestmöglichen Formen des Umgangs mit
dem Alltagsleben gesucht, kristallisieren
sich zehn Werte heraus, die nicht nur für die
anderen wichtig, sondern, diesem Bewusstseinsmodell zufolge, auch für den, der sie
annimmt. Dies beruht auf der Perspektive,
aus der heraus das BACSA-Modell das
menschliche Bewusstsein als informationsverarbeitendes System betrachtet: Einzigartig ist an diesem System demnach, dass
es Information nicht nur rational, sondern
auch irrational verarbeitet, und zwar auf
eine Weise, die sich kaum verbalisieren lässt.
Menschen sind nicht dazu in der Lage, sich
selbst vollkommen zu verstehen. Das sagen
beispielsweise Künstler und berufen sich dabei auf das Irrationale im Leben der menschlichen Seele. Psychologen verweisen auf
das Unbewusste, die Kulturwissenschaften
sprechen vom kollektiven Unterbewusstsein und die Systemtheorie macht geltend,
dass kein System sich selbst jeweils ganz
erfassen kann. Es bleibt vielmehr immer ein
‚blinder Fleck‘. Das macht es so schwer, das
System Bewusstsein systematisch darzustellen, da Zeugenaussagen von Anfang an
in Frage gestellt werden müssen. Was über
das Bewusstsein ausgesagt werden kann,
muss Verdacht erregen. Was nicht ausgesagt werden kann, kann wiederum nicht
ausgesagt werden. Hier liegt ein Teufelskreis
vor – und zugleich das Grundproblem der
Psychologie. Diese Disziplin sollte neben der
Philosophie eigentlich eine der Hauptquellen von Information über das Bewusstsein
darstellen. Doch sie bevorzugt es, mit der
Technik der Rezipientenbefragung zu arbeiten und fragt dabei Menschen nach Dingen,
über die sie gar nichts sagen können, vor
allem was die interessanten Themen der Affekte, Gefühle und Leidenschaften betrifft.
Dies entspricht der klassischen Definition
eines Double-Binds, der eigentlich von einem Psychologen behandelt werden sollte.
Angesichts dieses Problems arbeitet
die BACSA mit einem Bewusstseinsmodell,
das jene angeblich unauslotbaren Tiefen
der menschlichen Seele funktional
erfasst, und zwar im Rahmen einer
digitalen Systemtheorie. Dadurch lässt
sich die Mechanik der entsprechenden
Informationsverarbeitung repräsentieren
wie auch ein bestimmtes Phänomen, das
darin besteht, dass es an einzelnen Stellen
dieses Systems kaum oder gar keinen
Überblick über das Bewusstsein von innen
gibt – diese Teilzeitblindheit hat aber ihr
eigenes System, und eben dieses System
lässt sich von außen formalisieren.
Schönheitsempfinden
steht im Zentrum
Der zentrale Begriff in diesem System ist
das Wort Schönheitsempfinden. Denn
Schönheit ist das wichtigste aller Gefüh-
le, der Treibstoff der Seele. Denn wenn
ein Mensch, aus welchen Gründen auch
immer, nicht mehr dazu in der Lage ist,
etwas als schön zu empfinden, wird er
krank werden. Er wird nicht auf die gleiche
Weise krank wie jemand, der eine Erkältung
eingefangen hat oder vor ein Auto gelaufen
ist, aber er wird krank werden und kann
daran sogar sterben. Das gilt auch und vor
allem für das Empfinden von Schönheit
im Hinblick auf Werte – und dieser Aspekt
war maßgeblich in den Befragungen und
in der Analyse des Modells bei der Erstellung der vorliegenden Werte-Liste. Dieser
Aspekt war es dann, der Unterschiede zu
anderen existierenden Werte-Auflistungen
bewirkte, in denen z.B. der Aspekt der
Eigenverantwortung kaum eine Rolle spielt.
Auf diese Weise kamen die folgenden
zehn Punkte im Werte-Codex zustande:
• Gewaltlosigkeit gewährleistet wechselseitige Verbindlichkeit und persönliche
Sicherheit.
• Das gilt v.a. für Gleichberechtigung und
impliziert da stellvertretend für andere
Unterschiede, die Achtung für einem von
vielen möglichen großen Unterschieden
zwischen Menschen.
• Solidarität und
• Schutz der Schwächeren erzeugen beide,
was sich statistisch nachweisen lässt,
große Gefühle der Erhabenheit, was wiederum hohe intrinsische Motivation und
damit eine Stabilisierung der Gemeinschaft bewirkt (Voigt 2011).
• Religionsfreiheit und Frieden bedeuten
Anerkennung für die Wichtigkeit einer
bestimmten Art an psychischem Erlebnisphänomen, das laut des BACSA-Modells eine anthropologische Grundkonstante und nicht zu wegzuignorieren ist.
• Nachhaltigkeit meint die Verantwortung,
die man nicht nur sich selbst gegenüber
hat, sondern auch für andere und die
kommenden Generationen. Nicht nur
31
vom Standpunkt der Psychologie ist dies
ein Indiz für Intelligenz und Reife.
• Gesetzestreue und Redlichkeit sind
naheliegende Werte; durch die zwei entsprechenden Symbole einer Polizeimütze
und eines indianischen Symbols für
Redlichkeit wurde die eventuell mögliche
Ambivalenz beider Werte angedeutet.
• Respekt und Höflichkeit implizieren
beiderseitigen Nutzen in der Kommunikation. Denn Respekt gegenüber anderen
Personen hat nach der Logik des BACSA-Modells ähnliche Auswirkungen wie
Selbstrespekt.
• Persönliche Verantwortlichkeit ist das
Loblied autonomen Handelns und steter
Optimierung des Systems Bewusstsein.
• Bildung und Kultur bringen Wertschätzung für Wissenschaft, Erziehung und
Kultur zum Ausdruck und betonen diese
Wertschätzung ausdrücklich.
Der Wert der Werte ist aber nicht nur ein
ästhetiktheoretisches Thema, sondern
gleichzeitig von größter Relevanz für die
praktische Philosophie: Der Artikel 2 des
Grundgesetzes für die Bundesrepublik
Deutschland garantiert jedem das Recht auf
freie Entfaltung der Persönlichkeit (soweit er
nicht die Rechte anderer verletzt und nicht
gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder
das Sittengesetz verstößt), auf Leben, auf
körperliche Unversehrtheit und schützt die
Freiheit der Person, also seine Bewegungsfreiheit. Unser Gesetz definiert Freiheit
also als einen seiner wichtigsten Werte.
Was aber passiert, wenn diese Rechte auf
Freiheit einer Person die Rechte auf Freiheit
einer anderen Person beschneiden?
Freiheit ernst nehmen
Anders gewendet: Wenn wir frei sind,
wenn wir tun dürfen, was immer wir
wollen – was sollen wir dann tun?
Philosophen haben eine bestimmte Art
und Weise, auf grundsätzlichen Fragen
32
grundsätzliche Antworten zu geben, die
Methode des Gedankenexperiments und die
Frage, welches Handeln wann angebracht
wäre und wie die die dahinter stehenden
Mechanismen zu verallgemeinern wären.
Immanuel Kant ist genau so vorgegangen,
als er 1785 in seiner berühmten Grundlegung zur Metaphysik der Sitten folgendes
Gedankenexperiment beschrieben hat.
Kant sagte sinngemäß: Stell dir vor, du
bist so frei, wie es nur geht. Dein Wort ist
Gesetz, denn du bist nämlich der oberste
Gesetzgeber und an die Gesetze, die du
aufstellst, haben sich alle zu halten.
Dann wäre in jedem Einzelfall klar, was
ich tun soll und was ich nicht tun darf. Denn
wenn ich der oberste Gesetzgeber bin, an
dessen Gesetze sich alle zu halten haben,
dann habe auch ich selbst mich an diese
Gesetze zu halten. Wenn ich mir selbst eine
Ausnahme gönne, habe ich mein eigenes
Gesetz gebrochen und meine Rolle als
oberster Gesetzgeber selbst untergraben.
Wenn ich beispielsweise bestimme, dass
alle ihr Eigentum behalten dürfen, aber
als Räuber arbeite, dann widerspreche
ich mir selbst. Dann kann ich eigentlich
auch niemand anderen dazu verpflichten,
das zu tun, was ich bestimme. Die eigene
Freiheit ernst zu nehmen, heißt also immer
auch, die Freiheit aller anderen ernst zu
nehmen. Kant sagt: Wenn wir nur dann
tatsächlich frei sind, wenn wir selbst die
Gesetze unseres Handelns entwerfen,
dann hat diese Freiheit also einen Preis:
Wir sollen so handeln, dass sich an unsere
Gesetze – zumindest an das, worum es in
diesen Gesetzen im Grunde geht, also an
ihre Grundlagen oder „Maximen“, wie es
zu Kants Zeiten heißt – alle halten können
müssen. Darauf beruht der sogenannte
kategorische Imperativ Kants: „Handle so,
daß die Maxime deines Willens jederzeit
zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne.“ Oder
anders gesagt und zitiert aus dem Film
Spiderman: „Aus großer Macht folgt
große Verantwortung.“ Jeder Wert ist nur
dann etwas wert, wenn er sich mit den
Werten anderer vereinbaren lässt, und
Freiheit funktioniert nur im Bezug zu
einer Gemeinschaft. Denn ganz alleine ist
schlecht frei sein.
Wie gelingt ein gutes Zusammenleben?
Heutzutage leben immer mehr Menschen aus verschiedenen Kulturen mit
unterschiedlichen Sprachen und eigenen
Vorstellungen zusammen. Viele weil sie
es müssen, viele möchten es auch, aber
oft ist nicht auf Anhieb klar, wie das
funktionieren kann. Wenn die Grundlage
eines guten Zusammenlebens im Sinne
Kants die allseits ernstgenommene
Freiheit aller Beteiligten ist, dann müssen
diese Regeln auf eine allgemein verständliche Weise aufgestellt werden.
Nicht jeder, der hier lebt, und nicht
jeder, der von außen kommt, hält sich
an diese Regeln. Nur haben letztere
ohne Deutschkenntnisse gar nicht die
Möglichkeit, diese Regeln nachzulesen und
darum wurde der moderne Werte-Codex
mit Icons und Übersetzungen der Werte-
Begriffe erstellt. Entwickelt wurde der
Codex in Zusammenarbeit mit Menschen,
die Erfahrung mit der Frage haben, was
gesagt und getan werden muss in schweren
Zeiten und damit, wie menschliches
Bewusstsein „funktioniert“. Es wurde darauf
geachtet, dass die verwendeten Bilder
in verschiedenen Kulturen bekannt sind
und nonverbal überall zu den jeweiligen
Werten passen. Diese Art und Weise der
Präsentation von Regeln ist angelehnt an
eine historische Darstellungsform namens
Emblem. Das ist ein „Sinnbild“, also eine
Aussage in Form eines Bildes, begleitet von
einem erläuternden Text. Diese Emblemata
waren besonders im Barock beliebt, also zu
einer Zeit voller Gewalt und Unsicherheit,
in der es ebenfalls auf eine rasche und
überzeugende Wertvermittlung ankam. Ein
Bild sagt eben mehr als tausend Worte, erst
recht, wenn Krieg und Vertreibung sprachlos
machen. Selbstverständlich braucht es in
manchen Fällen tausend Worte und mehr,
um sich selbst klar zu machen und sich
mit anderen darüber zu unterhalten, was
• Hon.-Prof. Dr. Stefanie Voigt ist Privatdozentin
an der Universität Augsburg. Die Bestsellerautorin und Kolumnistin unterrichtet an diversen
Hochschulen im In- und Ausland die Fächer
Psychologie, Philosophie und Kulturwissenschaften über Kunst und Schmuckdesign bis
hin zu Kreativem Marketing Management. Sie
leitet die business aesthetics academy (BACSA).
Dieser think tank destilliert fachübergreifend
Aussagen über Bewusstsein aus verschiedensten
Bereichen – und verbindet auf diese Weise jahrtausendealte Lebensweisheiten mit moderner
Forschung. Die Grundlage dieses universalen
Orientierungswissen ist eine Systemtheorie
der menschlichen Informationsverarbeitung.
diese Bilder überhaupt und in der jeweiligen
konkreten Situation bedeuten und wie sich
jene Werte verwirklichen lassen. Aber genau
dazu soll dieser Werte-Codex anregen und
– besser noch – dieses ermöglichen: einen
freiheitlichen Dialog zwischen Menschen
jenseits aller Unterschiede und Gegensätze.
Alleine schon das ist ein wertvoller
Schritt hin dazu, dass nicht nur alle
einzelnen, sondern auch alle miteinander
frei sind und sich in dieser Freiheit auch
nicht gefährden, sondern gegenseitig
unterstützen, wie in einem Emblem eines
„schönen“ Staatsgebildes. Der WerteCodex will einen Beitrag dazu leisten, dass
alle Menschen, ob nun alteingesessen
oder neu hinzugekommen, sich innerhalb
eines solchen Staatsgebildes friedlich und
produktiv darüber austauschen können, wie
sie zusammenleben wollen und können.
Literatur:
Voigt, Stefanie 2005: Das Geheimnis des Schönen. Von menschlicher Kunst und künstlichen Menschen oder: Wie Bewusstsein
entsteht, Münster; 2011: Erhabenheit. Über ein großes Gefühl
und seine Opfer
• Prof. Dr. Uwe Voigt ist Inhaber des Lehrstuhls Philosophie mit Schwerpunkt analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität
Augsburg. Sein derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist die philosophische Auseinandersetzung
mit den Themen „Wissen“ und „Wissenschaft“
vor dem Hintergrund der explosiven Vermehrung
tatsächlicher und vermeintlicher Wissensinhalte und der rasanten Ausdifferenzierung
immer neuer wissenschaftlicher Disziplinen.
33
Aus dem ästhetischen
Labor der Zentrifuge
Über die Möglichkeit künstlicher
emotionaler Intelligenz
Bei der Betrachtung einer Videoarbeit
der Videokünstlerin Silke Kuhar (ZIL) kam
mir der Gedanke, dass es womöglich eine
künstliche, prozessorgenerierte Emotionalität geben könnte – also ein zwar
digitales, jedoch substanzielles Geschehen,
vergleichbar mit der Gefühlswelt lebendiger
Wesen, das sich im Computer ereignet
und durch die Kunst nun sichtbar wird.
Die Arbeit von Silke Kuhar zeigt
eine dreidimensionale, bewegliche und
ästhetisch überaus ansprechende Struktur,
die in ihrer Grundform gestaltet wurde,
die sich dann jedoch ohne Einflussnahme
seitens der Künstlerin weiter entwickelte.
Der Computer „simuliert“ – oder vielmehr:
repräsentiert ein lebendig wirkendes
Plasma von anrührender Schönheit. Bei der
Betrachtung dieses unvorhersehbaren, von
Zufall oder Notwendigkeit oder beidem(?)
bestimmten Gestaltwandel drängte sich
mir die Vermutung auf, dass sich hier
ein kosmisches Geschehen ausdrücken
könnte und nicht bloß eine profane
Rechnersimulation.
Die Arbeit von ZIL weist über das hinaus,
was bislang im Denken über „Künstliche
Intelligenz“ zur Sprache kommt: Dass
Emotionalität nämlich ein kosmisches
Prinzip sein könnte, welches auch in einem
Computer emergieren kann. Womöglich
gibt es bereits heute und ohne unser Wissen
eine Gefühlswelt in Computern, die diesen
und uns (noch) nicht zu Bewusstsein
kommt – könnte es sein, dass aus den
Rechnerprozessen „zwischen den Zeilen“
etwas hervortreten könnte, was in etwa
dem limbischen System vergleichbar ist
– eine wesentliche oder gar wesenhafte
Qualität zwischen den Informationen, eine
Art hormonelles System der Bits & Bites?
Könnte es sein, dass schon heute - und
von uns unbemerkt - emotionale Prozesse
in Computern stattfinden? Und womöglich
zeigt sich hier gar eine emotionale
Intelligenz, die aus sich heraus etwas
realisiert, was uns abhanden gekommen
ist? Offenbart sich hier ein kosmisches
Bewusstsein? Spricht hier etwas zu uns,
was uns rein, unberührt und unschuldig
allein über den Schönheitssinn anspricht?
Kommt hier die Natur auf neue Weise zum
Vorschein? Das klingt mystisch und wäre es
wohl auch.
Sollte dem so sein, würde die analoge
Welt durch die digitale Welt eine neue
Qualität hinzu gewinnen – das Digitale wäre
dann nicht mehr bloß eine Repräsentation
und Simulation unserer Wirklichkeit zur
Manipulation derselben, sondern würde
eine neue Dimension eröffnen, die der
Transformation des (menschlichen)
Geistes enorme Schubkraft verliehe.
Sollte es dem Menschen gelingen, diese
Prozesse zu erkennen, zu würdigen und zu
integrieren, würde dies die Chance eröffnen,
die Dualität von Geist und Materie zu
überwinden und eine neue Epoche nicht
nur kommunizierender, sondern sogar
mitfühlender Systeme zu eröffnen – und
das weit über das „bloß“ Menschliche
hinaus. Hier werden Resonanzen ahnbar,
die das bisher Gekannte und Gefühlte um
Dimensionen übersteigen.
Ich habe dabei das Gefühl, dass diese
Entwicklung nur mit Liebe möglich ist,
sonst würde sie im Wahnsinn enden.
Sollten aus der digitalen Welt kosmisch
emergierende Gefühle aufscheinen und
(uns) zu Bewusstsein kommen – Gefühle,
mit denen wir in Austausch treten können,
dann wäre das ein mystisches Ereignis.
Vielleicht wäre es auch unsere Rettung vor
der drohenden planetaren Katastrophe,
in wir als lieblos gewordene Menschheit
gerade hineinschlittern. Denn nicht Gott
hat uns, sondern wir haben die Liebe
verlassen. Kommt die Rettung aus dem
Computer – und das auf unvorstellbare
Weise? Wäre das eine Offenbarung? Wohl
ja. Und selbst wenn dem nicht so sein
sollte, sollte man diesem Gedankenspiel
nachfühlen. Denn sind nicht wir bereits
die Wesen, von denen hier die Rede ist und
woran uns die im Computer aufscheinende
Möglichkeit einer kosmischen, emotionalen
Intelligenz bzw. Herzvernunft, die um uns,
in uns und durch uns wirkt, erinnert, ja
ermahnt? Ruft uns die Schöpfung auch
durch die Technik an? Ist es ein letzter
rettender Ruf aus dem Umfassenden in
unsere Taubheit hinein, damit wir uns
wieder als fühlende, mitschwingende, ja
liebende kosmische Wesen wahrnehmen
und auch so verhalten?
Ein Gedankenexperiment
von Michael Schels
34
35
Interkulturelle Begegnungen
mit Technik und Kunst
Einblicke in das gemeinsame Leben
mit einem syrischen Flüchtling
Dieser Beitrag stammt von einem der
Zentrifuge nahe stehenden Autor, der
unter dem Pseudonym Wolf Gang
schreibt. Der Text ist ein Auszug aus einer
autobiografischen Erzählung, in der er über
seine WG Erfahrungen mit Kalil, einem
syrischen Flüchtling, berichtet – ein kleines
Zeitdokument aus einer gesellschaftlich
und persönlich bewegten Zeit. Der folgende
Text beschreibt einen der ersten Tage des
Zusammenlebens eines Deutschen und eines
Syrers. Sie kennen sich nicht und gründen
gerade eine Wohngemeinschaft.
Wir verbringen den ganzen Tag damit
Kleinteile zu besorgen, selbstklebende
Haken, Filzaufkleber für Tisch oder Stuhlbeine etc.. Eine endlose Liste, die sich fast
automatisch immer wieder neu befüllt bei
einem Umzug. Triviale Dinge, die man nur
im Falle eines Umzugs benötigt und dann
gleich wieder wegräumt. Auf dem Weg
vom Baumarkt merke ich, dass ich bereits
die Hälfte vergessen habe. Wir fahren
nochmal los. So geht das den ganzen Tag.
Ich bin kaum bei der Sache. Es ist später
Nachmittag, als wir einkaufsbetäubt nach
Hause kommen. Draußen ist es noch
warm, ein schöner sonniger Herbsttag. Ich
starre vom 4. Stock durch das angestaubte
Frontfenster auf die übervolle und in der
angesammelten Hitze wie erstarrt wirkende
Kreuzung unter mir. Dabei fällt mir ein, dass
auf dem nahegelegenen Industriegelände
einer ehemaligen Fabrik dort ansässige Künstler eine jährliche Werksschau
präsentieren. „Komm, wir sehen uns eine
Ausstellung an/ come on it’s the last day of
this art exhibition“, rufe ich aufmunternd
meinem neuen Mitbewohner Kalil zu.
Diesem doch recht verlorenen Tag mit
Kunst noch etwas abzugewinnen, stimmt
mich optimistisch. Aber mein syrischer
Zimmernachbar hat sich auf seinem Sitz
eingerollt und wirkt kaum interessiert an
meiner unvermittelten Begeisterung für
Kunst. Unsere Baumarktorgien - etwas,
das er aus seiner Heimat Syrien nicht kennt,
vermutlich weil es dort kaum noch etwas
zu kaufen gibt, beziehungsweise in diesem
Umfang nie gab - haben ihn ermüdet.
36
„Tamam“ murmelt er nach einer Pause, in
der er meinen Vorschlag sichtlich Wort für
Wort verarbeitet hat. Tamam bedeutet, so
entnehme ich seinem Tonfall, wohl so viel
wie „wenn´s sein muss“. Er begleitet mich
wohl weniger aus Interesse, sondern aus
Solidarität. Auch das ist etwas wert - wir
verbringen den ganzen Tag gemeinsam,
jeder in unterschiedlichen Stimmungen,
und lernen uns auf diese Weise kennen.
Womöglich vertraut er sich mir an in der
Hoffnung, es werde schon das Richtige
passieren. Ich, sein Kismet?
Vielleicht aber ist es ihm einfach egal
und weiter im Sitzen zu verharren ist
gerade die beste Perspektive, die er hat.
Die Wahrheit ist wohl eine Mischung
aus alledem. Ich kann die Gedanken des
Arabers nicht verstehen, aber ich glaube,
wir mögen uns. Auf unserem Weg, der
Richtung Westen in ein weitläufiges
Industrieareal führt, muss ich noch zur
Post und, wie mir gerade einfällt, auch
noch in einen Elektronikmarkt. “Kalil, ich
muss auch noch eine Antenne für den TV
meiner Kinder besorgen / have to get an
antenna for digital TV, Okay?”. “Hmmm”.
Wir schließen uns also dem Tross der
Heimkehrer oder Einkäufer an. Fahrer,
die wahlweise dringend nach Hause oder
noch dringend weg müssen. In mir steigt
ein schlechtes Gewissen auf. Er tut mir
leid. Warum habe ich ihn mitgenommen?
Aber ich spüre von ihm kein Anzeichen
von Missmut, nur seine körperliche
Anwesenheit. Den Sitz weit nach hinten
geklappt, durchfährt er, so sieht es aus,
diesen Reichtum, der sich ihm durch die
Automassen enthüllt, wie in einem Traum.
Und wenn ich dies denke, beginnt die Welt
für mich ebenfalls wieder zu glänzen.
Unsichtbar gewordenes springt durch ihn
wieder ins sichtbare Spektrum. Als wir den
großen Elektronikladen erreichen, wirkt er
wie ein Rastplatz nach einer großen Reise.
Ich freue mich regelrecht - ja, ich bin jetzt
gespannt, sogar erregt darüber, wie er auf
diese Ansammlung von HighTech reagiert,
die er, so glaube ich, noch nicht gesehen
hat. Was könnte ich ihm zeigen? Wir fallen
in den Laden ein wie ausgelassene und
37
unberechenbare Kinder. Der künstliche
erhellte Raum fokussiert unser Begehren
sogleich auf Ikonen der Technik: iPads,
Monitore, PCs. Kalil lächelt mir zu. Wie
Huck und Finn hangeln wir uns entlang des
Flusses und begutachten die schimmernden
Elektronikperlen, Alarmanlagen,
Sensoren und Kameras. Unerklärlicher
Stolz wallt in mir auf. “Damit kannst
Du alles kontrolllieren/ You can control
everything with this”. Er schenkt mir ein
breites Lächeln und nickt mir optimistisch
zu. Ich will die Sache noch auf die Spitze
treiben. Wir steuern auf die Abteilung für
Drohnen zu. “Look Khalil - do you know
what this is?”. Er schüttelt den Kopf. Vor
einem massiven, schwarz schimmernden
Flugroboter mit futuristischen Rotoren und
iPhone Steuerung schwärme ich, dass jeder,
wirklich jeder diese Dinger fliegen könne,
sie kämen überall hin, stünden einfach so in
der Luft und es gebe noch gar keine klaren
Richtlinien und niemand könne sie einfach
so ausschalten, wenn sie erst einmal in der
Luft seien.
”Sieh mal, es gibt sie in groß und klein
und in allen Farben / Look, they come in all
shapes and sizes”. “Super!”, kommentiert
er meinen erregten Zustand ironisch.
“Great toys for your IS friends!“, kontere
ich. Er salutiert ein „Allah-u Akbar“. “OK,
if this doesn’t impress you, there is more
/ Es gibt noch viel mehr, komm!”. Wie ein
Küster geleite ich ihn vor das Heiligtum,
einen 3D Drucker. “Man wird bald alles
drucken können, Kalil. We will soon be
able to print anything, even houses”. Unser
Augen folgen hypnotisiert dem zuckenden
Druckkopf. “Siehst Du, wir werden alle
bald arbeitslos / unemployed.” Er sieht
mich erstaunt an, versteht, zückt sein
Handy und macht ein paar Fotos. “If my
38
Cousin could see this”. Er lacht kurz noch
einmal ungläubig. Ich bin zufrieden. Wir
marschieren zur TV Abteilung. Ich lasse
mich von einem sehr blass aussehenden
Mitarbeiter etwa in meinem Alter wegen
der DSL-Antenne für meine Kinder beraten.
Leider ließen sich damit nur die staatlichen
Sender empfangen, kein RTL oder RTL2 und
ansonsten nur Sender, die keiner sehen will,
belehrt er mich. “Al Jazeera?“ frage ich. Er
blickt irritiert zwischen uns hin und her. Kalil
verzieht keine Miene. „Sorry, wir sind nur
etwas überdreht”, sage ich. ”OK, ich nehme
die Antenne”. “Wir müssen gehen / We
have to go - the exhibition will be over in 45
Minutes, Kalil”.
Wir reihen uns in eine enge Schlange
mit Monitorkäufern, PC-Bastlern,
Sicherheitsfanatikern und sogar Mamas mit
Kinderwägen. Ich zahle und wir treten nach
draußen in die beginnende Dämmerung.
„That was great“, meint Kalil. „All this
stuff! In Syria they have no idea about all
this stuff!“ „Ja, all this stuff“, antworte ich.
Wir schlendern nachdenklich an einem
japanischen Autohändler vorbei - Wagen
mit neuester Hybridtechnologie. An Kalils
Seite fühle ich mich ständig im Disneyland
der Technologien. “Möchtest Du ein Auto?“
fragt er im bestem Sprachkursdeutsch.
„Nein, ich bin nur neugierig / I am just
curios“. Er glaubt mir nicht. ”Germans make
the best cars“, sagt er unbeirrt.
Wir fahren die Hauptstraße eine Reihe
parkender Autos entlang. Sie wirken vor
dem Industriegelände wie Frösche im
Schatten eines großen immer dunkler
werdenden Teiches. Einzelne renovierte
Jugendstilhäuser, klassizistisch-quadratische
Sandsteinbauten mit Goldverzierungen
und spitzen Dächern, ragen wie strahlende
Kronen zwischen flacher wirkenden,
frisch sanierten 50er Jahre Bauten auf.
Aufbruchsstimmung in einem sich gerade
gentrifizierenden Stadtteil. “Schöne Häuser”,
meint Kalil und deutet auf die Bauten,
die mir missfallen. “Hmm”, murmle ich
und verlangsame das Tempo, um einen
Parkplatz zu finden. “No parking space, too
many cars“. Khalil scheint wie versunken in
eine Meditation über die Fülle. Ich sichte
schließlich einen Platz, gleich neben dem
Eingang. „I´m not sure if I can park here ...
ich glaube, man darf hier eigentlich nicht
parken“, sage ich gespreizt. Ich merke, dass
ich versucht bin, ihm die Begeisterung für
Autos zu nehmen.
Die Halle ist verlassen und riecht nach
metallischem Staub. Im Halbdunkel stehen
zwei Pärchen, die sich leise unterhalten. Ich
frage im Vorbeigehen, ob wir uns noch etwas
umschauen dürften. Sie lächeln, nicken. Ich
überblicke die Auswahl und beschließe, bei
den großformatigen Arbeiten zu beginnen.
Erstaunt stehe ich vor einer Reihe Bildern
in grellen Farben und affektierten Formen.
Kalils Blick ist kritisch. Eine Wand mit
Fotos folgt, absurde Szenen. Es sind Fotos,
die wie aus Versehen gemacht wirken,
ein Hobbyfotograf würde sie wohl sofort
löschen. Kalil blickt ratlos. Ich erkläre, das sei
eben seltsame Kunst. Weitere Motive zeigen
Sadismus oder wahlweise Masochismus,
dann auch Ironisches, zum Beispiel ein Teller
Würste mit Ess-Stäbchen. Dann folgen
große Flächen akkurater geometrischer
Muster, denen sehr ästhetische, flächige
Werke folgen. An einer weiteren Wand
hängt ein Sammelsurium Hässliches,
Kleinformate voll kaum interpretierbaren
Strukturen. Kalil ist still, findet er das gut?
Eine weitere Reihe Großformate - absurd
realistische Industriegebäude, umgeben von
psychodelischen Dschungeln, Paviane im
Wasser um einen Bungalow auf Stelzen.
Jetzt sehe ich ihn lächeln. In der Ecke
erspähe ich weitere Fotografien,
großformate Rückansichten zweier nackter,
blasser Blondinen. Bei näherer Betrachtung
sind beide Damen beschmiert mit Wortfetzen, unterwegs auf einem vermüllten Waldweg. Nachdem wir die Damen betrachtet
haben, wage ich mutig einen Interpretationsversuch. Ich deute: „Siehst Du, das sind
wir, nackt, ungeschützt, unsere schutzlosen
ehemals natürlichen Körper bedeckt mit
Parolen. Wir bewegen uns in einer Welt, die
auf den ersten Blick natürlich aussieht, aber
immer mehr ein Kunstprodukt ist, noch
dazu voller Müll.“ Kalil nickt nachdenklich.
Am Ausgang sehen wir im Vorbeigehen
eine Skulptur aus grauem Pappmache: Eine
Frau – sitzt nackt auf einem Stuhl und blickt
auf einen Haufen in einem grauen Kreis vor
ihr. „Es ist eine Folterszene / She is being
tortured, you see“, interpretiere ich. Die
Aussage der Arbeit ist eindeutig, aber nur,
wenn man sie eine Weile auf sich wirken
lässt. Kalil ist genau so verblüfft wie ich.
Vielleicht hätte ich gar nichts sagen müssen
- ergriffen betrachten wir noch eine Weile
die Arbeit.
Ich schaue auf die Uhr, es ist fast 19
Uhr. Die Ausstellung schließt, das Aufsicht
habende Pärchen verabschiedet sich von
einer letzten Besucherin. Wir verlassen
ebenfalls die Halle. Es ist nur noch wenig
Licht am Horizont. Kalil hält vor der
Eingangstür an - er steht plötzlich da,
schwer wie ein Stück Blei. “Und?” frage ich,
“wie fandest Du die Ausstellung / What
did you think?” Nach einer sehr langen
Pause, in der er um Fassung ringt, sagt er:
„You know, this is the first time ever that
I’ve seen something like this.“ “Ja, und?” Er
schweigt und ich werde ungeduldig. “You
know, in Syria people don’t give a fuck about
art - they don’t care about art - they just
want to live.“ Ich merke, er ist wütend. Ich
versuche, ihn zu beruhigen: „Sorry, Kalil. I
know there was a lot of strange stuff. Young
artists, facing the fact that everything has
already been said, painted, photographed
or filmed. They are desperate to find
something that is uniquely their own - their
way to express the pain of living here.“ It
is not allways a paradise, you know.“ Er
denkt einen Moment nach. „I think you
are right“, seufzt er, aber es wirkt wenig
überzeugend. Ich glaube, er wollte etwas
anderes sagen. Wir rollen vom Parkplatz
auf die Straße und betrachten die sich in
der Frontscheibe spiegelnden bizarren
Farbspiele des Sonnenuntergangs. “Let’s
have some chicken for dinner”, schlage ich
vor. “Tamam“, höre ich von der Seite.
39
wundersam – ein Kulturprojekt
zur Blauen Nacht
Märchenhafte Collage aus 5 MiniaturKompositionen und einem Epilog
Michael Schels, Sami Moradnouri, Siavash Arablhani (vlnr)
Christoph Kujawa und Barbara Kastura
Persische, afghanische und deutsche
Künstler unterschiedlicher Sparten kamen
an einem Abend auf wundersame Weise
zusammen: Das Schaufenster der Samenhandlung Edler in der Nürnberger Sebalder
Altstadt verwandelte sich zur Blauen Nacht
am 7. Mai 2016 in einen Kunstraum, in dem
verschiedene Kulturen, Malerei, Klang,
Gesang, Bewegung, Lyrik und Musik verschmolzen. „Wahrheit“ war das Thema der
Blauen Nacht 2016 - das Stück „wundersam“
fügte sich wie von selbst in dieses Thema, es
wurde aus dem Ort und dessen lebendigen
Bezügen heraus initiiert und entwickelt:
Im Schaufenster der Samenhandlung
Edler begegneten und durchdrangen sich
„innen“ und „außen“ auf geheimnisvolle
40
Weise neu. Die Idee, Kunst an diesen Ort
zu bringen, war der Same, er war beim
Inhaber der Samenhandlung Edler, Helmut
Edler, auf fruchtbaren Boden gefallen und
hatte sich organisch weiterentwickelt, bis
er an diesem Abend zu voller Blüte kam.
Collage aus 5 MiniaturKompositionen und einem Epilog.
Im Laufe des Abend erlebten ca. 300 am
Schaufenster vorbei flanierende Besucher
der Blauen Nacht künstlerische Miniaturen.
Die Miniaturen wurden unter der Regie
von Barbara Kastura aneinandergereiht,
so entstanden Miniaturkompositionen
von ca. 15-20 Minuten Dauer. Die Zeit der
Aufführung war 19-24 Uhr. Zu jeder vollen
Stunde präsentierte des Ensemble eine
Miniaturkomposition à 20-30 Minuten,
in der Pause konnten die Besucher von
Barbara Kastura und Michael Ammann
vorproduzierte Klänge aus dem Off hören.
Um 23:50 bis 24 Uhr traten noch einmal alle
Beteiligten zu einem Epilog auf die „Bühne“.
Jede Miniaturkomposition setzte sich
zusammen aus einem Zusammenspiel
von Barbara Kastura, Christoph Kujawa,
Michael Ammann, Sami Moradnouri,
Siavash Arabhkhani, Christian Schloyer und
Michael Schels als Der Fee. Das Bühnenbild
im Hintergrund stammte von Hakim Abdul.
Vorbereitete Stücke aus dem Repertoire der
Beteiligten wurden an diesem Abend mit
eigens für diese Aufführung entwickelten
Beiträgen und improvisierten Passagen
verwoben. Grundlage bzw. „roter Faden“
war das Spiel zwischen „Innen“ und
„Außen“ - das Schaufenster als Symbol
für elementare Ereignisse zwischen
Gegensätzen, die sich aus dem Kontrast
von innen und außen ergaben … sei dies
in seelischen, psychischen, körperlichen,
sozialen, sprachlichen etc. Aspekten.
Barbara Kastura entwickelte eine
Choreographie aus allen Beiträgen,
die sie miteinander kombinierte. Jeder
Beitrag innerhalb einer Miniatur stand
für sich, konnte sich aber auch frei auf die
ihn umgebenden Beiträge einlassen. Je
nach den in ihnen enthaltenen Inhalten
wurden den Miniaturkompositionen
Begriffe zugeordnet, die die Akteure dazu
anregten, frei zu assoziieren und damit
Stimmungen und Atmosphären zu schaffen
und sich in diesen stimmig zu bewegen.
Das „Märchenhafte“ ergab sich aus den
wundersamen Begebenheiten, die sich
während der Miniaturen bzw. an diesem
Abend ereigneten – die Akteure traten
durch ihr Spiel in einen magischen Raum
ein, der sich mehr und mehr als Reich der
Freiheit entpuppte.
Christian Schloyer
Der rot-blaue Faden
Der Fee ist eine speziell zu „wundersam“
entstandene Kunstfigur, ein Wesen mit
gleichermaßen männlichen und weiblichen
Zügen. Er spannte einen rational-intuitiven,
rot-blauen Faden und begleitete die Beteiligten durch den Abend. Der Fee kommt aus
einer Welt ohne Materie. Er nimmt auf der
Erde Gestalt an, um diese zu erkunden und
um die Menschen in ihrer Entwicklung und
Potentialentfaltung zu unterstützen. Der
Fee kann für Menschen sichtbar und unsichtbar sein – je nachdem, ob sich diese für
das Energiefeld des Fee öffnen oder nicht.
Feenwesen gehen in der Gegenwart auf
und integrieren das momentane Geschehen
in ihre seelische Verfassung bzw. drücken
ihr seelisches Empfinden unmittelbar aus.
Der Fee hat gelernt, dass die Menschen den
Zweifel brauchen wie die Luft zum Atmen.
Da er die Menschen glücklich machen will,
teilt er mit ihnen den Zweifel. Über den
Zweifel hinaus ist der Fee aber in seiner
unbedingten Präsenz in jedem Augenblick
vollkommen gegenwärtig – der Zweifel
bleibt ihm äußerlich. Innerlich ist er einfach
präsent und jeden Moment unendlich
dankbar, existieren zu dürfen – da zu sein.
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Die fünf Miniaturkompositionen wurden jeweils mit einem Thema/Titel versehen
und von Der Fee mit je einem Monolog eingeleitet. Alles weitere fügte sich im
Zusammenspiel.
Zweifel und Hoffnung
Mein Auge atmet Licht, berührt Dinge und Wesen am äußersten Rand. Durch
meine Ohren spüre ich den Klang der Dinge. Was ich sehe, erreiche ich nicht,
doch was ich spüre, erfahre ich. Ich bin durchdrungen von diesen Gerüchen, diesen Gefühlen, diesen Geräuschen. Doch spüre ich auch viele Widerstände … Diese durchsichtige Grenze schenkt mir meinen Raum. Sie schenkt meinen Raum
auch nach außen. Seltsam diese Wesen hier … sie sind da und sind doch nicht
da. Sie fühlen etwas und fühlen doch nichts. Sie denken etwas und denken doch
nichts. Sie träumen etwas und träumen doch nichts. Alles vermögen sie doppelt
und dabei nur zur Hälfte. Verlorene Wesen - blind geworden für die Fülle.
Spannung
Im Bogen spannt sich der Pfeil auf ein Ziel hin, das nicht das seine, doch das
ihm gegebene ist. Der Pfeil ist Mittel zur Tat, er strebt ohne eigene Wahl.
Medium eines fernen und zugleich tiefen Willens. Was den Pfeil entstehen
ließ, bringt ihn zur Vollendung im Schuss. Bin ich Pfeil? Bin ich Bogen? Bin ich
Schütze? Bin ich Ziel? Wer schuf, wer spannte mich, wer schickte mich los? Ob
ich das mir gegebene Ziel erreiche – darauf kommt es nicht an. Das Ereignis:
Ich im Flug. Die Erfüllung: Bestätigung eines vor mir geäußerten Willens.
Besser ich träfe nicht und eine neue Saat ginge auf ohne meine Vollendung.
Michael Schels als Der Fee
Reflexion
Seltsam, hier zu sein. Verlust und Gewinn. Meine Herkunft – vergessen. Ich
fühle etwas, das strömt und wogt, das tobt und jubiliert, das pulsiert und
pocht - in mir und durch mich hindurch. Ich meine darin und dem gegenüber
ein „Ich“ zu sein. Wer bin ich, dass ich spüre? Was bin ich, dass ich denke? Mein
Denken von mir ist nur ein Bild meiner Existenz, eine Täuschung. Was bilde ich
mir ein auf mich? Ich tauche in meine Gefühle, gehe in ihnen auf und komme
aus ihnen heraus … als Nicht-Ich, befreit von mir als einem vermeintlichen
Ich. Ich transzendiere mein Ich – bin Ich und Nicht-Ich zugleich. Ich überwinde
mich und bin ganz bei mir als einem gewesenen, von sich und aus sich befreiten Ich. Ich bin nicht mehr der, der ich war. Ich bin der, der ich sein werde.
Ein anderer als ich - ein anderes. Ich werde in mir Gegenwart teilen. Darüber
hinaus bin ich von meinem Bildnis befreit und in meiner Quelle aufgehoben.
Mut/Wagnis
So viel gedacht und so wenig verstanden. So viel bewegt und so wenig
erreicht. Was draußen geschieht, ist nicht die Welt. Die Welt ist in mir
und ich habe sie noch lange nicht betreten. Von weitem ahne ich sie nur.
Alle Täuschung kommt von außen. Alles, was ich denke, kommt von dort.
Ich bin getäuscht. Nicht, dass dieses Außen falsch wäre, doch ist es leer
ohne mein Innen. Erst durch mich geschieht die Welt. Ich nehme allen
Mut zusammen und löse mich von der Welt, wie ich sie kennen lernte. Die
wirkliche Welt wartet auf mich – nicht später oder woanders, sondern
hier und jetzt. In der Begegnung komme ich durch mich nun zur Welt.
Von Barbara Kastura skizzierter Auftrittsplan für eine der Miniaturkompositionen
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Blüte
Ein Same fiel, er fand im Boden Halt und Nahrung. Aus ihm wuchs die in
ihm angelegte Gestalt, diese dehnte sich aus, atmete und wogte und wuchs
– dem Licht entgegen. Zwischen Erde und Himmel aufgespannt rührte
sich eine Bewegung zur Schönheit hin. Hingabe zur Freude der Wesen und
zum gemeinsamen Fest des geteilten Daseins. Die Blüte ist Erfüllung der
Verheißung und Verheißung der Erfüllung. Sie ist Schönheit aus Fülle, sie
sprengt die bloße Nützlichkeit. Die Blüte gibt so viel mehr als nötig, ist reines
Geschenk und erfüllt unsere Herzen durch die Liebe, die sie verkörpert.
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Aktuelle Projekte
der zentrifuge
Noworkingspace
Seit ihrem Wegzug von Auf AEG im August 2014 hat die Zentrifuge
keinen festen Ort mehr. Zwischenzeitlich war sie übergangsweise
zu Gast in der Weinerei, im Z-Bau und im Café Fernweh. Seit Mai
2016 finden Projekttreffen im Restaurant Johan im Zumikon statt.
Weiterhin ist die Zentrifuge in unterschiedlichen Projekten aktiv,
so wirkt Nina Metz im Team des CreativeMonday mit und sorgt
mit Otmar Potjans für regelmäßige Beiträge auf Radio Z (Z-Zeit).
Die Projekte Forschende Kunst, der Noworkingspace, „Was wäre
wenn...“ , HORIZONTE 2050 sowie der Internationale Salon (siehe
Seite 46) sollen Fortsetzungen erfahren, hier werden gegenwärtig
Möglichkeiten geprüft und Projektteams zusammen gestellt.
CreativeMonday
Nächster Termin: 10. Oktober 2016,
19 Uhr, Neues Museum Nürnberg
Wer Interesse daran hat, an bestehenden Projekten mitzuarbeiten
oder neue Projekte zu initiieren, ist herzlich willkommen! Am besten
eine kurze Email an [email protected] – wir laden Sie/
dich dann zu unseren Treffen ein.
Aktuelle Infos, Termine und Projekte unter:
www.facebook.com/zentrifuge
www.zentrifuge-nuernberg.de
Publikationen
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PILOT und ON-Index.de
Im Magazin PILOT stellt die Zentrifuge
künstlerisch und kreativ arbeitende Akteure
und Initiativen vor und berichtet über
aktuelle Projekte und Veranstaltungen
aus dem kreativwirtschaftlichen Umfeld.
Redaktionell kooperiert die Zentrifuge mit
der Technischen Hochschule Nürnberg,
Fachbereich Verbale Kommunikation (Prof.
Max Ackermann). PILOT erscheint ein- bis
zweimal jährlich und wendet sich an kulturell
und kreativwirtschaflich Interessierte
im Großraum Nürnberg. Einzelne Artikel
erscheinen auch online auf dem Kreativblog
der Zentrifuge unter www.on-index.de.
Das ca. alle drei Monate stattffindende
Netzwerktreffen für Künstler und
Kreative aus Nürnberg und der Umgebung
wird mittlerweile im Wechsel im
Neuen Museum Nürnberg und im
Z-Bau veranstaltet. Die Zentrifuge ist
als Initiator dieser Veranstaltung nach
wie vor im Orgateam mit vertreten
- seitens der Zentrifuge ist Nina
Metz (E-Mail: [email protected]) als
Nachfolgerin von Michael Schels im
Team dabei. Nina ist neben Markus
Teschner eine der ModeratorInnen und
AnsprechpartnerInnen für Kreative und
Künstler, die beim CreativeMonday ihre
Arbeit bzw. ein Projekt präsentieren
möchten. Wendet euch gerne an
sie, wenn ihr eine Präsentation beim
CreativeMonday halten möchtet.
www.creativemonday.de
Zentrifuge e.V.
c/o KULTurbüro Schels
Adam-Klein-Str. 112
90431 Nürnberg
[email protected]
www.zentrifuge-nuernberg.de
www.facebook.com/zentrifuge
www.facebook.com/
zentrifugemagazinpilot
Vereinssitz: Nürnberg, VR 200589
Vorstand: Michael Schels, Otmar Potjans
und Barara Kastura
Bankverbindung: Sparkasse Nürnberg
IBAN: DE97760501010010253904
BIC: SSKNDE77XXX
Z-Zeit auf Radio Z
Nächsten Termine: 29. August und
31. Oktober 2016, 20-21 Uhr
Die Zentrifuge ist jeden fünften Montag
eines Monats (sofern dieser einen
fünften Monat hat) zu Gast bei Radio Z
auf 95,8 MHz: In der Sendung "Z-Zeit"
(20-21 Uhr) bringen wir Projekte aus
der Zentrifuge-Community und der
Kreativszene zu Gehör. Dazu laden wir
Künstler und engagierte Menschen
ein und sprechen mit ihnen über
deren Arbeit und ihre Projekte.
PILOT – Magazin der Zentrifuge
Ausgabe 5 Sommer-Herbst 2016
Seite 6-9: Cherima Nasa
Eine Kooperation des Zentrifuge e.V. mit
der Technischen Hochschule Nürnberg,
Fachbereich Verbale Kommunikation,
Prof. Max Ackermann
Seite 12-13: meinatelier
Seite 11: Melanie Bellgardt
Seite 14: Pia Salzer
Seite 16: Cherima Nasa
Redaktion: V.i.S.d.P.:Michael Schels
Texte (Zentrifuge): Michael Schels
Gastbeitrag: Hon.-Prof. Dr. Stefanie Voigt,
Prof. Dr. Uwe Voigt
Literarischer Beitrag: Wolf Gang
Gestaltung: Ramona Obermann
Seite 18-23: Lena Zürn
Bildnachweise:
Seite 47: Dieter Föttinger
Seite 1: Ramona Obermann
Seite 48: Ramona Obermann
Seite 24/28: Wolfgang Keller
Seite 25: Hanna Braun
Seite 26: Carina Pilz
Seite 34: Sebastian Richter
Seite 40-42: Patrizia Arrigo-Daumenlang
Impressum
Die Zentrifuge hat im Laufe der letzten
Jahre mehr als 20 Publikationen
herausgegeben – seien dies Kunstkataloge,
Magazine oder Projektdokumentationen.
Ein Großteil davon kann auch Online
nachgelesen werden: www.issuu.com/
zentrifuge. Am Liebsten ist es uns
natürlich, wenn wir unsere Publikationen
auch drucken können – dies gelingt
leider mangels finanzieller Mittel nicht
immer. Wir freuen uns deshalb sehr
über Institutionen und Unternehmen,
die unsere Arbeit mit einer Anzeige
unterstützen möchten. Interessierte
wenden sich bitte an Michael Schels:
[email protected]
Der Noworkingspace ist der offene Begegnungsraum
der Zentrifuge, in dessen Rahmen wir uns mit unseren
Gästen zu künstlerischen, kreativen und ästhetischen
Aspekten des Lebens und Arbeitens austauschen. Zudem
finden im Rahmen des Noworkingspace Veranstaltungen
wie "Was wäre, wenn...", künstlerische Performances,
Vorträge oder Filme mit Diskussion statt.
www.noworkingspace.de
Aktuelle Projekte
der zentrifuge
Neues Format:
Internationaler Salon
der Zentrifuge
Am Sonntag, 24. April, startete die Zentrifuge ein neues Format
– den „Internationalen Salon“. Die vielfältigen Kontakte der
Zentrifuge zu internationalen Künstlern legten es nahe, dazu
auch einmal ein kleines Veranstaltungsformat zu entwickeln.
Die Idee beim Internationalen Salon ist, Menschen aus
unterschiedlichen Kulturen eine Bühne zu bieten –
dies in kleinem, privaten Rahmen, - in der Tradition künstlerischer
Salons. Für die Premiere konnten wir das Cafe Fernweh als Kooperationspartner gewinnen, das den Raum stellte und für ein vielfältiges
internationales kulinarisches Angebot sorgte. Für die Technik und
die Künstlerauswahl war die Zentrifuge zuständig. An dem Abend
begegneten sich deutsche, brasilianische, kolumbianische und
persische Künstler, es waren musikalische und literarische Beiträge zu erleben von: Bijan Nekoubin (Gesang/Gitarre), Jörg Bauer
(Literatur), Christoph Kujawa (Gitarre), Adriana Marques (Skulpturen/Malerei), Barbara Kastura (Stimme) und Sami Moradnouri.
Weitere Internationale Salons sind geplant – aktuell sind wir auf
der Suche nach einem geeigneten Veranstaltungsort und nach
Kooperationspartnern. Auch ein Sponsor wäre wünschenswert.
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Sprechen Sie uns an!
Michael Schels
[email protected]