PDF, 7,67 KB - Katholische Kirche beim hr

Pastoralreferentin Patricia Nell, Frankfurt/M.
Zuspruch am Morgen, hr 2-kultur, Freitag, 29. Juli 2016
Mitten im Leben
Seit einigen Jahren gibt es in unserem Stadtzentrum ein Altenpflegeheim. Es liegt an
einem kleinen, zentralen Platz, umgeben von Läden, Cafés und Restaurants. Und
wenn das Wetter schön ist, sind sie draußen, die weißhaarigen Männer und Frauen,
manche mit Gehhilfen, an Tischen, auf einer großen Terrasse. Einige sitzen in
Rollstühlen mit Kopfstützen. Andere spielen zusammen Karten oder verfolgen
einfach das bunte Treiben rund um den Platz. Auch hier und dort im Liegen. Jedes
Mal, wenn ich vorbeilaufe, denke ich: Wie gut ist das doch: Menschen, alt und krank,
sind mittendrin! Mitten im pulsierenden Stadtleben. Mitten zwischen jenen, die
einkaufen und Kaffee trinken und sich bewegen können, wann und wie sie wollen. So
wie ich. Und dann bin ich daran erinnert: Auch meine biologische Uhr tickt. Auch für
mich kommt er, der so genannte Lebensabend. Leben heißt nun einmal älter werden,
heißt irgendwann vieles nicht mehr können. Klar, möchten wir alle lieber aktiv sein
und unser Leben selbst bestimmen. In einer derart leistungsorientierten Gesellschaft
wie der unseren dreht sich unser Tun viel zu sehr um die äußeren Aktivitäten. Bei
übervollen Terminkalendern im täglichen Auf- und Ab vergessen wir leicht, dass es
auch noch etwas anderes gibt auf der Welt. Etwas, das weniger auf Machen und
Haben ausgerichtet ist als vielmehr auf das Sein. Wenn ich zum Beispiel Geduld,
Zufriedenheit und Besonnenheit in mir spüre, dann sind das für mich ganz wertvolle
Momente. Die glücklichsten Menschen sind ja längst nicht immer die aktivsten,
gesündesten und jüngsten, sondern jene, die einen Sinn für sich gefunden haben.
Sie beklagen sich nicht darüber, dass das Leben ihnen ja nichts mehr zu bieten hat,
sondern sie können Ja sagen zu sich und ihren Lebensumständen. Und zwar auch
dann, wenn ihnen nahezu alles genommen ist: wenn sie verzichten müssen auf die
Unabhängigkeit, die Familie, die Gesundheit und alles Gewohnte, Liebgewonnene.
Klar, auch für sie ist sicher nicht ein Tag wie der andere. Auch für sie wird es Zeiten
geben, in denen sie unter ihren Einschränkungen leiden. Trotzdem wirken die
meisten irgendwie zufrieden.
Ich möchte mir gern ein Beispiel nehmen an den alten Leuten auf ihrer Terrasse in
der Innenstadt. Sie haben sie abgelegt, die schnelle Bewegung, die Hast des Alltags,
den Kampf um den besten Platz, wann und warum auch immer. Und in vielen
Gesichtern sehe ich Freude darüber, dass sie trotzdem noch so mittendrin im Leben
sein können.
Die Gelassenheit, die ich an ihnen entdecke, die wünsche ich mir selbst oft. Die
Menschen aus dem Altenheim scheinen allen Einschränkungen trotzen zu wollen.
Sie gehören in unsere Mitte. Auch in die Mitte dieser Stadt! In die Mitte der
Gesellschaft. Weil sie zwischen Läden und Cafés genau die Botschaft für uns haben,
die wir bisweilen vergessen: Das Leben ist unter allen Umständen sinnvoll.