Unschuldige Opfer Ein uneinig Volk von Lavierern

Die Deutschen
Wirtschaft
Unschuldige Opfer Ein uneinig Volk von Lavierern
Von Henryk M. Broder _ Vor
der eigenen Haustür wird gerne
und nachhaltig getrauert.
K
ein zweites Buch
hat die Deutschen als Kollektiv
dermassen erschüttert wie der 1967 erschienene Essay «Die
Unfähigkeit zu trauern» der Frankfurter
Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich. Es war, so
hiess es in den Rezensionen, ein «Schlüsseltext» auf dem langen und beschwerlichen Weg
zur «Bewältigung der NS-Vergangenheit» in
der noch jungen Bundesrepublik. Statt um ihre
Toten zu trauern, hätten sich die Deutschen in
die Arbeit gestürzt, die «Erinnerungsverweigerung» habe zu einer «Gefühlsstarre» geführt,
«die sich in unserem gesamten politischen und
sozialen Organismus bemerkbar macht».
Inzwischen haben die Deutschen gelernt, wie
man politisch korrekt trauert. Mit Mahn­
wachen, Lichterketten und dem auf Pappe gekritzelten Wort: «Warum?» Die Leistungsgesellschaft hat den Begriff «Trauerarbeit»
erfunden und in ihr Wörterbuch aufgenommen, zusammen mit «Betroffenheit», «Klimakatastrophe» und «Willkommenskultur».
Es wird gerne und nachhaltig getrauert, vorausgesetzt, das Ereignis hat vor der eigenen Tür
stattgefunden. Nach dem Anschlag auf das
Münchner Olympia-Einkaufszentrum mit
neun Toten und mindestens 35 Verletzten kamen Tausende von Münchnern zum Tatort, um
Blumen abzulegen und einander zu trösten. In
einem Bericht des Bayerischen Rundfunks (BR)
hiess es: «Trauer in München. Neun Unschul­
dige, vor allem junge Menschen, mussten ihr
Leben lassen [. . .] Bislang schien ein solches Drama in weiter Ferne, nun ist die Angst seit Freitagabend vor der eigenen Haustür.» Zugleich
versammelten sich am Münchner Friedensengel Hunderte von Menschen, «um mit einem
Lichtermeer für den Frieden auf der Welt zu
singen». O-Ton BR: «München steht auf gegen
diese grausige Gewalttat, bei der unschuldige
Menschen aus dem Leben gerissen wurden.»
Trauerarbeit hin, Frieden her – es gibt offenbar zwei Kategorien von Opfern: die schuldigen
und die unschuldigen. Die einen, vor allem
Amerikaner, Israelis und Islamkritiker, sollten
über ihren Anteil an der Gewalt nachdenken,
um die anderen wird vorbehaltlos getrauert.
Denn sie haben nichts verbrochen.
So ist es, wenn die Deutschen aus der Geschichte lernen, sie lernen meistens das Falsche.
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Von Silvio Borner _ Volksentscheide müssen umgesetzt werden.
Die Schweiz versagt seit drei Jahren dort, wo Grossbritannien schon
innert dreier Wochen Resultate zeigt.
Z
u Recht sind wir stolz auf unser politisches System: seine Neutralität, seinen
­Föderalismus und vor allem seine halbdirekte
Demokratie, die Entscheide über viele Sach­
fragen den Stimmbürgerinnen überträgt.
Volksabstimmungen wirken auf Parlament
und Regierung korrigierend oder initiierend.
Korrigierend leider immer weniger, weil die
Verwaltung den Bundesrat fest im Griff hat
und das Parlament durch Sonderinteressen
immer unberechenbarer und durch eine Auflösung der Mitte immer polarisierter wird.
Schwachpunkt sind in der Schweiz die Parlamentswahlen, die praktisch keine direkten
Auswirkungen auf die Regierung haben. Die
Bundesräte sitzen absolut fest im Sattel und
bestimmen ihren Rücktritt selber.
Und so staunen wir wieder einmal, wie das
in Britannien halt ganz anders läuft. Dort
­haben wir eine parlamentarische Demokratie
im Reinformat: mit Majorzwahlrecht. Wer die Wahlen gewinnt,
wie die Konservativen letztes Jahr,
erhält eine satte Mehrheit im
­Parlament und stellt die gesamte
Regierung, die auf einen Schlag
ausgewechselt wird, mit entsprechender Tiefenwirkung hinunter
in die Verwaltung. Das führt
schnell und zumindest eine Zeitlang zu klaren Verhältnissen und
grosser Handlungsfähigkeit.
David Cameron hat die Wahlen deutlicher
als erwartet gewonnen, aber die Brexit-­
Abstimmung verloren. Er ist darauf zurück­
getreten, aber seine Partei ist an der Macht
geblieben. Binnen drei Wochen nach der
­
­Abstimmung war Grossbritannien wieder mit
einer neuen Regierung präsent. Die neue
­Premierministerin Theresa May hat noch am
Tag ihrer Ernennung ihrerseits die wichtigsten
­Ministerien neu besetzt, wobei mit Boris Johnson im Aussenministerium ein klares Zeichen
nach innen und aussen gesetzt wurde. All die
Kommentare auf dem europäischen Kontinent,
gemäss denen sich die Brexit-Gewinner feige
aus der Verantwortung geschlichen hätten,
­waren verfrüht oder eben von Anfang an falsch.
In der Schweiz hatten wir vor mehr als zwei
Jahren mit der Masseneinwanderungsinitia­
tive eine ebenfalls knappe Mehrheit für den
«Ausstieg» aus der Personenfreizügigkeit mit
der EU. Aber statt in drei Wochen haben wir in
drei Jahren nichts geklärt und keine mehrheitsfähige Position gefunden. Steigen wir
jetzt aus dem Freizügigkeitsabkommen aus
oder nicht? Irgendwie wollen wir beides, und
selbst die Frage einer Umgehungswieder­holung
der Abstimmung ist anders als im Vereinigten
Königreich noch nicht vom Tisch. Weil wir dabei
eher mit beiden Augen als nur mit einem auf
Brüssel schielen, ist unsere Verhandlungs­po­­­si­
tion laufend geschwächt worden. Die Briten
werden der EU in Kürze eine Lektion erteilen
und aus i­ hrer Situation das Beste machen.
Wahl 2015 ohne Konsequenzen
Noch eklatanter ist der Unterschied bei den Parlamentswahlen. Obwohl die politische Rechte in
der Schweiz im Herbst 2015 einen klaren Sieg
­erzielt hat, ist das im Parlament, aber vor allem
im Bundesrat ohne sichtbare Auswirkungen
­geblieben. Im Parlament ist die SVP immer noch
in ­etwa der Hälfte der Abstimmungen allein auf
weiter Flur, während sich die SP wechselweise
namhafte Unterstützung durch
CVP und FDP ergattern kann.
Nur ein Wechsel von der BDP zur
SVP hat im Bundesrat vollzogen
werden können – mit bisher kaum
sicht­baren Folgen. Sei es in der Umwelt- oder Klimapolitik, in der
regulatori­
schen Expansion oder
der Asyl- oder Sozialpolitik: Alles
läuft ungebremst so weiter, wie von
der Mitte­
-links-Koalition von
­langer Hand aufgegleist. Im Bundesrat haben
wir jetzt häufig 4:3-Entscheide (statt wie früher
5:2), weil CVP-Leuthard fast immer und
FDP-Burkhalter immer wieder zu Mitte-links
tendiert. Aber auch die höchsten Verwaltungsbeamten sind gegen Wahlergebnisse völlig
­immun, weil ja auch ihre politischen Chefs nicht
ausge­wechselt werden oder diese sich nicht
trauen, Spitzenfunktionäre zu entlassen.
Das britische System mag dazu führen, dass
es immer wieder zu radikalen Politikschwenkern wie Verstaatlichungen und Privatisie­
rungen kommt. Aber diese sind nicht nur
wachstumsfeindlich, sondern häufig auch
­klärend. Sie geben den Wählern Anschauungsunterricht darin, was funktioniert und was
nicht. Demgegenüber läuft bei uns alles in den
alten und seit einiger Zeit nach links orien­
tierten Gleisen weiter. Wahlen waren schon
immer s­ ekundär, aber jetzt ist selbst die Umsetzung von Volksabstimmungen immer stärker dem Main­stream ausgesetzt, der leider in
die ­falsche Richtung läuft. Wir könnten von
Grossbritannien einiges lernen.
Weltwoche Nr. 30/31.16
Illustration: Bianca Litscher (www.sukibamboo.com)