«Ich fühle mich bestens vorbereitet für die Lehre»

Vorlehre
«Ich fühle mich bestens vorbereitet für die Lehre»
Shahla Widjdani flüchtete mit 18 aus dem Iran. Heute ist sie 24 und
beginnt nach den Sommerferien die berufliche Grundbildung als
Fachfrau Gesundheit EFZ. Nach einer Vorlehre in ihrem künftigen
Lehrbetrieb ist sie darauf bestens vorbereitet.
«Ich habe das ganze Aufgabenspektrum einer Fachfrau Gesundheit kennengelernt»: Shahla Widjdani steigt nach der Vorlehre in die
berufliche Grundbildung ein.
Rolf Marti
«Ich bin glücklich und stolz, endlich eine
Lehrstelle zu haben», sagt Shahla Widjdani.
Die junge Frau sitzt auf der Dachterrasse
des Betagten- und Pflegeheims Centre Rochat in Biel und erzählt ihre Geschichte.
2010 flüchtete sie mit ihrer Familie aus
dem Iran, mit 18 kam sie in die Schweiz –
ein Alter, in dem andere eine Lehre oder
eine Mittelschule absolvieren. Auch Shahla
Widjdani hätte gerne eine Ausbildung gemacht. Doch dafür fehlten ihr zwei Voraussetzungen: Sie hatte keine Arbeitsbewilligung und sprach kein Deutsch. «Das war
eine enorm schwierige Zeit», resümiert sie
rückblickend. «Ich war zum Nichtstun verdammt.»
2014 änderte sich ihre Ausgangslage.
Shahla Widjdani erhielt den Aufenthaltsstatus als «vorläufig aufgenommene Ausländerin». Sie durfte arbeiten. Und sie hatte
sich in der Zwischenzeit einige Deutschkenntnisse angeeignet – im Selbststudium.
Shahla Widjdani ging zur Regionalen Arbeitsvermittlung und wurde ins Motivationssemester «Move» geschickt – ein Pro-
gramm zur beruflichen Integration von
Jugendlichen. In diesem Rahmen absolvierte sie eine Schnupperlehre als Fachfrau Gesundheit EFZ im Centre Rochat. Für die
junge Frau ein grosser und ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu ihrer Lehrstelle.
Drei Tage im Betrieb, zwei Tage an der
Berufsfachschule
«Shahla hat uns vom ersten Tag an überzeugt», sagt Dominique Eberli. Sie leitet im
Centre Rochat den Pflegedienst und ist
verantwortlich für die Ausbildung der Lernenden. «Shahlas Motivation, ihre rasche
Auffassungsgabe, ihre guten Umgangsformen: Alles sprach dafür, sie als Lernende in
den Betrieb zu nehmen – alles, mit Ausnahme ihrer Deutschkenntnisse. Sie hätten
wohl kaum gereicht, um in einer dreijährigen Lehre zu bestehen.»
Was nun? «Wir haben Shahla letzten Sommer in die Vorlehre aufgenommen», sagt
Dominique Eberli. «Sie ist für Jugendliche,
die aufgrund ihrer Voraussetzung etwas
mehr Zeit brauchen, die ideale Vorbereitung auf den Lehreinstieg.» Die Vorlehre
zählt zu den kantonalen Brückenangeboten und dauert ein Jahr. Die Jugendlichen
arbeiten drei Tage pro Woche in einem
Lehrbetrieb und lernen dabei die praktische
Seite ihres künftigen Berufs kennen. An
den anderen beiden Wochentagen sind sie
an der Berufsfachschule und erweitern ihre
persönlichen und schulischen Kompetenzen.
Einblick in die berufliche Praxis
Shahla Widjdani hat in der Vorlehre viel gelernt – im Lehrbetrieb wie in der Berufsfachschule. Im Centre Rochat stand die Arbeit im Dienste der Bewohnerinnen und
Bewohner im Zentrum: Körperpflege, Essensausgabe, Aktivierung, Alltagsgestaltung und vieles mehr. «Ich habe das ganze
Aufgabenspektrum einer Fachfrau Gesundheit kennengelernt und durfte in allen
Bereichen mithelfen», sagt Shahla Widjdani. «Nur medizinaltechnische Arbeiten
durfte ich nicht ausführen, weil mir die
Ausbildung dazu noch fehlt.»
Und was hat sie in der Berufsfachschule gelernt? «Deutsch, ein klein wenig Französisch, dazu Mathematik. Aber Letzteres war
für mich eher Repetition. Sehr interessant
war der Staatskundeunterricht. Ich habe
viel über die Schweiz und die hiesige Gesellschaft erfahren – darunter ganz praktische Dinge. Was leistet eine Krankenkasse,
welche Versicherungen brauche ich usw.?»
Shahla Widjdani lehnt sich in ihrem Stuhl
auf der Terrasse zurück und sagt: «Ich fühle
mich bestens vorbereitet für die Lehre.»
«Hebamme ist mein Traumberuf»
Dominique Eberli zweifelt nicht daran, dass
Shahla Widjdani die berufliche Grundbildung als Fachfrau Gesundheit mit Erfolg
meistern wird. «Es ist unglaublich, wie
Shahla in diesem Jahr ihre Sprachkompetenz verbessert hat. Sie spricht fliessend
Deutsch. Ihre Sozialkompetenz sowie ihre
kognitiven Fähigkeiten standen sowieso
nie zur Diskussion.» Beste Voraussetzungen also für eine erfolgreiche berufliche
Entwicklung. Und Shahla Widjdani hat
auch schon weitergehende Pläne: «Nach
der Lehre möchte ich die Berufsmaturitätsschule absolvieren und anschliessend an
der Fachhochschule Hebamme studieren.
Hebamme ist mein Traumberuf.»
Dank der Vorlehre wird Shahla Widjdani der
Einstieg ins Berufsleben gelingen. Der etwas längere Weg hat sich also gelohnt.
Auch für das Centre Rochat stimmt die Bilanz. Dominique Eberli: «Nach einer Vorlehre weiss ich sicher, ob sich jemand für
die Lehre eignet oder eben nicht. Für einen
Betrieb, der bereits Lernende ausbildet,
bringt die Vorlehre keinen grossen Aufwand mit sich. Die Strukturen sind da, der
administrative Aufwand ist gering. Kurz:
Wer Lernende ausbildet, kann auch Vorlernende ausbilden und damit jungen Menschen mit erschwerten Startbedingungen
eine Chance geben.»
[email protected]
Vorlehrbetriebe gesucht
Der Kanton Bern benötigt mehr Vorlehrstellen, auch angesichts steigender Flüchtlingszahlen. Die Vorlehre
richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene, die mehr Zeit für den
Einstieg in eine berufliche Grundbildung brauchen. Besonders Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen
ermöglicht sie eine gute Vorbereitung
auf eine Berufslehre.
Betriebe, die berufliche Grundbildungen anbieten, brauchen für die Vorlehre keine zusätzliche Bewilligung,
alle anderen können ihre Eignung als
Vorlehrbetrieb anhand einer Checkliste feststellen und beim Mittelschulund Berufsbildungsamt (MBA) eine
entsprechende Bewilligung beantragen.
Auskünfte und Informationen:
031 633 84 54
[email protected]
www.erz.be.ch/vorlehre
«espace einsteiger» ist eine Dienstleistung der Espace Media AG und des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes des Kantons Bern und wird in Zusammenarbeit mit folgenden Partnern realisiert: BEKB | BCBE (www.bekb.ch) •
Die Schweizerische Post, Berufsbildung (www.post.ch/lehrstellen oder 0848 85 8000) • Berufsbildung Bundesverwaltung (www.epa.admin.ch/dienstleistungen/lehrstellenangebote) • Meyer Burger AG (www.meyerburger.com)