„Irgendwoher muss es doch kommen!“ – Psychosomatischer

PSYCHOSOMATIK
„Irgendwoher muss es doch kommen!“
– Psychosomatischer Umgang mit
chronischen Unterleibsschmerzen
Claudia Schumann
Ein typisches und häufiges Beschwerdebild in der Praxis sind anhaltende Schmerzen ohne eindeutige somatische Erklärung. Dabei
überwiegen die weiblichen Patientinnen. Als Ursachen für diesen Geschlechterunterschied werden „v.a.
geschlechtsspezifische Unterschiede
in der Assoziation mit psychischen
Störungen und Traumata, in der Verarbeitung, Interpretation und Kommunikation von Körperreizen, in der
Entwicklung von Krankheits- und
Gesundheitskonzepten und –verhalten“ angenommen [1]. PrävalenzErhebungen aus den USA zeigen,
dass 15 % aller Frauen von chronischem Unterbauchschmerz betroffen sind [2], für Europa werden ähnliche bzw. eher noch höhere Zahlen
vermutet [3]. Auf die Mehrzahl dieser Frauen passt die Definition der
„somatoformen Schmerzstörung“
nach ICD 10 / F 45.4: „ Die vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder (mehr als sechs Monate),
schwerer und quälender Schmerz,
der durch einen physiologischen
Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Er tritt in Verbindung mit
emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf, die
schwerwiegend genug sein sollten,
um als entscheidende ursächliche
Faktoren gelten zu können.“
Die Schmerzen quälen nicht nur die
Betroffenen, sie machen auch die
behandelnden Ärzte und Ärztinnen
oft ratlos: Was tun? Wie umgehen
mit dem Erwartungsdruck? „Patienten sind oftmals frustriert und verunsichert, da sie unter den Beschwerden zum Teil erheblich leiden, es
aber scheinbar keine Erklärung bzw.
Behandlung für sie gibt, und Behandler befürchten, eine ernsthafte
somatische Erkrankung zu übersehen“ – heißt es im einleitenden
Statement der S3-Leitlinie „Nicht
spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden“.
Im Folgenden beschränke ich mich
auf den chronischen Unterbauchschmerz, eines der häufigsten
Schmerzsyndrome bei Frauen im fertilen Alter. Dabei geht es mir vor allem um die „Fallstricke“ der Arzt-Patientin-Beziehung, die Einschätzung
des Schweregrades und um konkrete Strategien für die Praxis.
Bezugsrahmen der Ausführungen
sind vor allem die aktuellen Leitlinien
allgemein zu den somatoformen
Schmerzstörungen [4, 5] und speziell zum chronischen Unterbauchschmerz [6].
Kasuistik 1: „Ich hoffe, SIE können mir endlich helfen!?“ – Teil 1
Lena S., 21 Jahre, hat wegen ihrer
starken Unterleibsschmerzen in den
letzten zwei Jahren schon drei Laparoskopien hinter sich. Die Diagnose
Endometriose ist histologisch gesichert, kleinere Endometriose-Herde
wurden operativ entfernt. Die
Schmerzen treten trotzdem immer
wieder auf. Fünf Gynäkologen hat
sie konsultiert, zuletzt einen „Spezialisten“ in der 100km entfernten
Großstadt. Auch der hatte keine Lösung parat. Jetzt sitzt sie mit akuten
Schmerzen zum ersten Mal erwartungsvoll in meiner frauenärztlichen
Praxis: „Sie sollen sich ja mit Endometriose auskennen!“ Sie hat eine
lange Liste der verschiedenen Hormonpräparate dabei, nichts habe
auf Dauer geholfen; die Hormonspirale wurde wegen Dauerblutung
und Schmerzen nach drei Monaten
wieder gezogen. Die Ausbildung hat
sie wegen der Fehlzeiten abbrechen
müssen, auch stundenweise Jobs
schafft sie nicht, sie ist dauernd erschöpft und der Freund hat sich getrennt. Jetzt lebt sie allein, finanziell
unterstützt vom Arbeitsamt.
Lena S. ist eine schlanke hübsche
sympathische junge Frau, die mit einem eingefrorenen Dauer-Lächeln
ihre ganze Misere schildert: die lieblose Kindheit nach der frühen Trennung der Eltern, das frühe „Alleingelassen-Sein“, als die Mutter mit
dem neuen Partner zusammenzog
und sie „nur störte“, die dauernde
Entwertung und ihr Kampf dagegen. Dass man etwas gefunden hat
als Ursache der Schmerzen– die Endometriose – findet sie gut; und ist
enttäuscht, dass sich das nicht einfach wegmachen lässt. Am liebsten
würde sie sich noch einmal operieren lassen. (Fortsetzung weiter unten)
Ätiologie und Risikofaktoren
des chronischen
Unterbauchschmerzes
Beim chronischen Unterbauchschmerz muss man eine Vielzahl
möglicher körperlicher Ursachen bedenken: Endometriose, Myome, Adhäsionen, Ovarialcysten, Colon irritabile, maligne Erkrankungen, Reizblase, Rückenerkrankungen u.a..
Auch bei gründlicher Untersuchung
incl. Bildgebung und Bauchspiegelung lässt sich oft kein eindeutiges
Korrelat für die Beschwerden finden.
Aber selbst wenn man eine körperliche Ursache – z.B. EndometrioseHerde – findet, gibt es oft genug eine
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Diskrepanz zwischen dem körperlichen Befund und der angegebenen
andauernden Schmerzsymptomatik.
Dafür gibt es keine eindeutigen Erklärungen. Aber wir kennen Risikofaktoren für die Entwicklung eines
chronischen Schmerzsyndroms; dazu zählen vor allem Stressfaktoren in
der Kindheit [1], die den Aufbau einer „sicheren Bindung“ beeinträchtigen, wie emotionale Vernachlässigung, psychische Erkrankung der Eltern, und auch Gewalterfahrung
jeglicher Art. Für die Entwicklung
speziell des chronischen Unterbauchschmerz werden in einer großen Metaanalyse [2] körperliche wie
seelische Risikofaktoren benannt:
Adhäsionen (nach Entzündung), Endometriose, Z.n.Sektio, Z.n.Abort,
körperlicher oder seelischer Missbrauch, Angst, Depression. Kein Zusammenhang wurde nachgewiesen
mit Ausbildungsstand, Familienstand, Erwerbstätigkeit, Parität, und
Infertilität. Abschließend bedeutet
das für die Diagnostik, dass körperliche wie seelische Faktoren in gleicher Weise im Auge behalten werden müssen.
Die Beziehung zwischen
Patientin und Ärztin/ Arzt
Die Behandler-Patientin-Beziehung
wird oft schon von Anfang an und
von beiden Seiten als schwierig erlebt. Typischerweise werden folgende Gefühle beim Behandler ausgelöst [5]:
• Hilflosigkeit, Unsicherheit, Ratlosigkeit, Scheitern
• Gefühl, erst idealisiert und dann
entwertet zu werden
• Entscheidungsdruck, GetäuschtFühlen, Entlarven-Wollen; sich
unter Druck gesetzt fühlen
• Machtkampf, Ohnmachtserleben, Manipulation
• Langeweile, Ungeduld, Enttäuschung, Wut, Ärger,
• Frustration, Ablehnung der Patientin; Wunsch, sich zu entziehen.
Das muss man wissen, bedenken
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und sich darauf einstellen bzw. die
Gegenübertragung bewusst nutzen! Der Aufbau einer (trotzdem)
tragfähigen Beziehung schon bei
der Anamnese ist das A und O der
Behandlung. Dabei geht es um eine
„gelassene, empathische, aktivstützende, symptom- und bewältigungsorientierte Grundhaltung“
[7], kurz: ein professionell-gelassener Umgang mit der „schwierigen
Patientin“. Wenn das nicht gelingt
besteht die Gefahr des „doctorhoppings“ (wie bei der von mir geschilderten jungen Frau), weil die Patientin sich immer wieder un- oder
falsch verstanden fühlt und ihre (unrealistisch) hohen Erwartungen nicht
erfüllt, aber auch nicht auf ein realistisches Maß reduziert werden.
Die Beschwerden sollten ausführlich
geschildert und ernst genommen
werden, im Sinn des „aktiven Zuhörens“ sollten Interesse und Akzeptanz signalisiert werden. „Mit psychosozialen Themen soll zunächst
beiläufig und indirekt statt konfrontativ umgegangen werden, zum Beispiel durch das Begleiten des Wechsels zwischen Andeuten psychosozialer Belastungen und Rückkehr zur Beschwerdeklage (“tangentiale Gesprächsführung“) [5]. Zusätzlich zu
den spontan geschilderten Körperbeschwerden sollte gezielt nach anderen Leitsymptomen der somatoformen Schmerzstörung gefragt (chronische Müdigkeit, diffuse Rückenschmerzen u.a.) und die „Funktionsfähigkeit im Alltag“ eruiert werden.
Simultan-Diagnostik:
bio-psycho-sozial
Im Sinne einer bio-psycho-sozialen
Grundhaltung sollte immer eine „Simultandiagnostik“ erfolgen, also
ein „sowohl-als auch“ signalisiert
werden statt einem „entwederoder“. Laut Leitlinie gilt sogar: Ein
„Abwarten somatischer Ausschlussdiagnostik trotz Hinweisen auf psychosoziale Belastungen ist kontraindiziert“ [5]. Der Zusammenhang zwischen Unterbauchschmerzen und
Depression ist unklar: Zwar konnte in
der WHO-Metaanalyse ein stat. signifkanter Zusammenhang zwischen
Depression und Unterbauchschmerz
nachgewiesen werden [2], andrerseits kann man auch die depressive
Symptomatik als Reaktion auf den
chronischen Schmerz interpretieren.
Gewalterfahrungen werden anamnestisch deutlich gehäuft gefunden,
wobei die Datenlage unterschiedlich
ist. Einige Studien haben ergeben,
dass 40–60 % der Frauen mit chronischem Unterbauchschmerz ohne
körperliches Korrelat in der Anamnese sexuell oder körperlich missbraucht wurden [8,9]. Eine prospektive Studie bei Kindern, die Opfer
von Gewalttaten waren, ergab allerdings kein vermehrtes Auftreten ungeklärter Schmerzsyndrome [10].
Insgesamt ist gesichert, dass körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrung ein Risikofaktor für die Entwicklung eines chronischen Unterbauchschmerzes, aber der Zusammenhang nicht zwingend ist.
Auch wenn psychosoziale Belastungen eindeutig im Vordergrund zu
stehen scheinen oder es sogar Hinweise auf eine sexuelle Traumatisierung gibt, darf die körperliche Abklärung nicht entfallen. Die Frau hat
körperliche Schmerzen, sie erwartet
und braucht eine Be-HAND-lung im
wahrsten Sinne des Wortes. Eine
sorgfältige körperliche Untersuchung, ergänzt um die gynäkologische Untersuchung incl. vaginalem
Ultraschall sind oft aufschlussreich:
Was tut wie weh? Welche Vorstellungen hat die Frau? Diffuse Ängste
können oft schon in dieser Phase reduziert werden durch beruhigende
Erklärungen.
Wichtig sind die Transparenz aller
Untersuchungsschritte und die gemeinsame weitere Planung: Kann
man zunächst abwarten, weil die Situation aktuell nicht bedrohlich bzw.
die Beschwerden aushaltbar sind,
oder ist eine weitere Abklärung not-
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wendig? An erster Stelle steht hier
die diagnostische Bauchspiegelung.
Zusammen mit der Patientin wird
geklärt, wann und warum eine
Bauchspiegelung sinnvoll und was
dabei zu erwarten ist. So können
Voroperationen oder Unterleibsentzündungen evtl. zu Verwachsungen
geführt haben, eine starke Dysmenorrhoe kann Hinweis sein auf eine
Endometriose; aber es kann sich
auch trotz Schmerzen ein „Normalbefund“ finden.
Im Anschluss an die operative Diagnostik ist eine ausführliche Befundbesprechung wichtig mit einer Wertung der Befunde, denn die Korrelation zwischen „Befund“ und
„Schmerz“ ist oft nicht eindeutig.
Gefahr der iatrogenen
Chronifizierung
So sollte es sein – denn bekannt ist
andererseits: Das ärztliche Behandlungsverhalten kann einen Beitrag
leisten zur Chronifizierung der Symptomatik! Und viele Frauen haben
schon eine Odyssee hinter sich und
sind entsprechend verunsichert bzw.
fixiert auf die Symptomatik durch eine rein somatische Behandlung. Zu
den bekannten „iatrogenen Chronifizierungs-faktoren“ in Diagnostik
und Therapie gehören [5]:
Fotolia_© Stasique
• einseitiges
biomedizinisches
oder psychologisierendes Vorgehen
• Über-Diagnostik, Überschätzen
medizinischer Befunde,
• Mangelnde oder stigmatisierende Information („Sie haben
nichts“, „alles nur psychisch“)
• Förderung passiver Therapiekonzepte (Operationen, Injektionen,
Massage, lange Krankschreibung)
• Unzureichende analgetische Behandlung; unkritische Verschreibung von suchtfördernden Medikamenten
Einschätzen des Schweregrads
Im Umgang mit Frauen mit chronischem Unterleibsschmerz ist es sehr
hilfreich, nach prognostisch günstigen Faktoren („green flags“) zu
suchen bzw. nach Hinweisen für
einen schweren Verlauf („yellow
flags“)[11]. Denn in Abhängigkeit
von diesen Hinweiszeichen kann man
die weitere Behandlung besser planen. Zu den „green flags“ gehören:
• Aktive Bewältigungsstrategien
(z.B. körperliches Training)
• Gesunde Lebensführung (ausreichend Schlaf, gute Ernährung)
• Sichere Bindungen; soziale Unterstützung
• Gute Arbeitsbedingungen
• Gelingende Arzt-Patientin-Beziehung
Klinische Charakteristika für einen
eher schweren Verlauf („yellow
flags“) können sein:
• Mehrere Beschwerden (Unterleibsschmerz + chron. Müdigkeit
+ Kopfschmerz +..)
• Häufige bzw. anhaltende Beschwerden (d.h. die Frau ist selten beschwerdefrei)
• Dysfunktionale
Gesundheits-/
Krankheitswahrnehmung (z.B.
katastrophisierendes Denken);
„Ärzte-hopping“
• Deutlich reduzierte Funktionsfähigkeit, lange arbeitsunfähig, sozialer Rückzug
• Hohe psychosoziale Belastung,
wenig Sozialkontakte
• Psychische Komorbidität (Depression, Angststörung)
Kasuistik 1,Teil 2
Nachdem sich im Verlauf von zwei
weiteren kurzfristigen Terminen ein
klareres Bild ihrer schmerzhaften Erkrankung und der bio-psycho-sozialen Zusammenhänge ergeben hat
und wir uns einig sind, dass eine erneute Bauchspiegelung keinen Sinn
macht, verabrede ich mit Lena S. regelmäßige beschwerde-unabhängige Termine im Abstand von wenigen
Wochen. Das klappt auch nach und
nach, die „Not-Termine“ werden
seltener.
Es gelingt in langen Gesprächen,
den „Teufelskreis“ von Schmerz /
Anstrengung / Überlastung/ Enttäuschung sichtbar zu machen, und vor
allem mit ihr zusammen die Ziele zu
begrenzen: Nicht schmerzfrei, aber
doch wieder so stabil zu werden,
dass sie eine Ausbildung anfangen
kann. Begleitend zu diesen eher
stützenden psychosomatischen Terminen läuft eine psychotherapeutische Behandlung bei einer Psychologin, bei denen Gewalterfahrungen
in der Kindheit bearbeitet werden.
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Um ein besseres Körpergefühl zu bekommen empfehle ich ihr eine stationäre Reha-Maßnahme in einer
Einrichtung, die auf die Behandlung
von Frauen mit Endometriose spezialisiert ist. Dort fühlt sie sich zwar
leider nicht sehr wohl, weil sie „keiner ernst nimmt“(!) – aber sie hält
die Zeit durch und beginnt mit einem
leichten Konditions- und Sporttraining, außerdem lernt sie Entspannungs-Techniken. Danach schafft sie
ein halbjähriges Praktikum in einer
Verwaltung, wo die Mitarbeiter um
ihre „Anfälligkeit“ wissen, sie mögen
und es akzeptieren, dass sie gelegentlich bei starken Schmerzen schon mittags geht. Sie ist sehr stolz über diesen
Erfolg und möchte im Anschluss eine
Ausbildung beginnen.
Immer wieder ist das zentrale Thema
in unseren Gesprächen: „Was wollen Sie, was trauen Sie sich zu, was
hilft oder tut gut, und vor allem: Wer
hilft?“ Sie geht aktiver mit ihrer
schmerzbedingten Einschränkung
um und lernt, die „Lächel-Maske“
gelegentlich abzusetzen und sich
auch einmal trösten zu lassen. Die
Beziehung zu ihrem Freund läuft
wieder, Sex tut allerdings immer
noch weh. Bisher ist keine weitere
Operation erfolgt. Allerdings hat sie
den letzten Termin abgesagt: Weil
sie ihn nicht mehr braucht? Oder
weil sie zur nächsten Ärztin gewechselt hat?
Therapie
Die Therapieziele beim chronischen
Unterbauchschmerz sind wie bei allen somatoformen Schmerzstörungen begrenzt: Verbesserung der Lebensqualität, Verhinderung von
Chronifizierung bzw. Begleitung bei
eingetretener Chronifizierung, um
selbstschädigendes, leider oft iatrogen mitgetragenes Verhalten zu reduzieren (rezidivierende operative
Eingriffe, riskante Therapien). Letztlich geht es darum, mit der Frau „zu
einem erweiterten Erklärungsmodell“ zu kommen „hin zu einem biopsychosozialen Modell“ [7].
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Wenn es gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, wenn die
Frau sich einlässt auf regelmäßige
Gespräche und akzeptiert, dass viele
kleine Schritte nötig sind statt einer
großen Lösung – ist schon sehr viel
gewonnen.
Das ist gerade bei leichteren Verläufen zu erreichen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung
durch den betreuenden Frauenarzt/
die Frauenärztin oder den Hausarzt/
die Hausärztin. Es geht immer wieder darum, die Beschwerden ernst
zu nehmen und sie anschaulich zu
erklären als bio-psycho-soziales Syndrom: d.h. mit der Patientin die Faktoren zu finden, die die Schmerzen
auslösen oder reduzieren können.
Dabei ist wichtig zu betonen, dass
die Symptome zwar belastend aber
nicht gefährlich sind, dass es gilt damit einen adäquaten „gelassenen“
Umgang zu finden, und das der Behandler/ die Behandlerin dabei eine
stabile verlässliche Begleitung anbietet. Hilfreich sind alle Möglichkeiten
der körperlichen Aktivierung – leichter Ausdauer-Sport, Yoga, autogenes Training. Schmerzmedikamente
können zeitlich beschränkt eingesetzt werden, meist sind sie allerdings wenig hilfreich. Bei spezifischen Befunden – z.B. Endometriose
– muss natürlich die entsprechende
medikamentöse Behandlung (z.B.
Gestagen-Dauertherapie)
eingesetzt werden, immer mit Hinweis auf
eine evtl. nur begrenzte Wirkung.
Bei schwereren Verläufen – s.o. „yellow flags“ – kommt es noch mehr
darauf an, den Teufelskreis zwischen
Dauerschmerz – Anspannung – depressivem Rückzug – Drängen auf
somatische (operative) Behandlung
usw. zu unterbrechen. Wenn immer
möglich, sollte die Behandlung multimodal in einem Team erfolgen. Unter Federführung eines psychosomatisch-versierten Arztes/ Ärztin geht
es um eine Kombination aus Physiotherapie, Psychotherapie, Entspannungsverfahren, Sozial-Training u.a.
Dafür braucht man natürlich ein
Netzwerk mit einem entsprechenden Versorgungskonzept, in das die
Akteure eingebunden sind und sich
regelmäßig austauschen. Besonders
schwierig kann die Motivation für eine Psychotherapie sein: Die Patientin
„hat ja etwas“ – aber sie sieht sich
nicht als „Fall für den Psychiater“!
Da kann gerade der somatische Arzt/
die Ärztin mit einer entsprechenden
Zusatzqualifikation die Weichen
stellen. Wirksamkeitsnachweise gibt
es für die kognitive Verhaltenstherapie, während für die anderen Psychotherapieformen die Datenlage
nicht ausreichend ist.
Es gibt Situationen, in denen die ambulante Behandlung an ihre Grenzen stößt und eine stationäre Behandlung angezeigt ist. Das gilt natürlich bei akuter Selbstgefährdung (Suizidalität), aber auch bei
besonders schwerem chronischen
Schmerz, bei schwerer psychischer
Ko-Morbidität, gelegentlich auch
bei fehlender Behandlungsmotivation bzw. Fixierung auf das somatische Erklärungsmuster und bei ausbleibendem Erfolg der ambulanten
Behandlung. Im stationären Kontext
kann es leichter gelingen, ein abgestimmtes multimodales Konzept der
Schmerzbehandlung
akzeptabel
und wirksam zu machen. Wenn die
Klinik speziell darauf ausgerichtet
ist, “können zuvor als therapieresistent geltende chronische Schmerzen
im Zeitrahmen eines stationären
Rehabilitationsaufenthaltes effektiv
behandelt werden“ [12], d.h. die
Wahl der „richtigen“ Klinik ist entscheidend.
Fall 2 oder: Der psychosomatische Ansatz lohnt sich
Frau W. ist inzwischen fast 80 Jahre
alt. Mit Mitte 50 erkrankte sie an Vaginalkrebs, der strahlentherapeutisch erfolgreich behandelt wurde.
Ich lernte sie kennen im Rahmen der
sehr langwierigen Wundheilung, sie
war eine der ersten Patientinnen in
meiner frauenärztlichen Praxis. Nach
Abschluss der Behandlung kam sie
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alle 3–4 Wochen notfallmäßig mit
diffusen Schmerzen, mal drückend,
mal brennend, für die sich kein fassbares Korrelat fand, die mich aber regelmäßig verunsicherten und ratlos
machten. Immer wieder tastete ich
alles ab, machte immer wieder Ultraschall, entnahm Abstriche, überlegte was das sein könnte, und machte
mir Sorgen. Die Patientin ging jedes
Mal sichtlich zufrieden weg, obwohl
ich ihr keine rechte Erklärung geben
konnte, bis auf: „Ich finde nichts,
was nicht stimmt“. Ihre Dauer-Replik
war: „Dann ist es ja gut“. Ich fühlte
mich hilflos und ohnmächtig, stöhnte wenn sie sich anmeldete, wollte
sie eigentlich los werden.
Nach Vorstellung dieses Falls in der
Balintgruppe klärte sich: Es war die
Angst, die dahinter steckte, und
gleichzeitig ihr Unvermögen, das jemand mitzuteilen, denn ihr Mann
wehrte alle Gespräche ab, weil sie ja
wieder gesund sei.
Die Lösung war ein festes Therapiekonzept, in Absprache mit dem behandelnden Internist: Sie kommt alle
drei Monate zu einem vereinbarten
Termin. Dann erfahre ich, wie zwischenzeitlich ihr Leben ausschaut,
höre mir gewissenhaft alle Beschwerden an: „Dann ist da noch etwas“ (Druckgefühl, Durchfall, Ausfluss, Abgeschlagenheit), untersuche sie gründlich körperlich, bestätige dass soweit alles in Ordnung ist
bzw. dass die chronischen Beschwerden als Folge der Bestrahlung zu
werten sind. Frau S. kommt niedergeschlagen und klagend in die Praxis
und geht relativ zufrieden hinaus.
Ich fühle mich nicht mehr unter
Druck gesetzt, die Beschwerden
„wegmachen“ zu müssen, sondern
habe meine Aufgabe angenommen
als „Zeugin“ und als „Abladestelle“.
Das reicht! Frau S. hat in den letzten
24 Jahren nie mehr einen Not-Termin verlangt, der regelmäßige Kontakt alle drei Monate reicht ihr. Und
ich freue mich, sie begleiten zu können bei ihrem aktiven Älter-Werden.
Diskussion
Viele Frauen, die sich immer wieder
in der haus- und frauenärztlichen
Praxis mit unklaren Unterleibsbeschwerden vorstellen, haben eine
somatoforme Schmerzstörung. Die
Situation ist belastend für die Betroffenen und die Ärzte/ Ärztinnen, weil
sich trotz der oft erheblichen Beschwerden, verbunden mit Einschränkungen in der Lebensführung, kein eindeutig fassbares Korrelat findet. Es besteht die Gefahr
des „Entweder-Oder“: Entweder
wird immer wieder nach organischen Befunden gesucht, z.T. mit
eingreifenden operativen Maßnahmen, oder die Frauen fühlen sich abgeschoben auf die Psycho-Schiene:
„Sie haben nichts, das sind die Nerven“. Es besteht die Gefahr der
Chronifizierung bzw. der Falschversorgung.
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Das ist auch gesundheitspolitisch
bedenklich. In der Leitlinie zur somatoformen Schmerzstörung [4] besteht starker Konsens: „Die Dauer,
bis eine funktionelle Störung erkannt und eine spezifische Behandlung eingeleitet wird, beträgt durchschnittlich 3–5 Jahre“. Und weiter:
“Bei Patienten mit schweren Verläufen nicht-spezifischer, funktioneller
und somatoformer Köperbeschwerden finden sich eine relativ niedrige störungsspezfische Behandlungsquote von ca. 40% und eine
relativ hohe „Nicht-Versorgungsquote“ von ca. 60 %“. Das führt zu
einer hohen „dysfunktionalen Inanspruchnahme des Gesundheitssystems“ [4].
Im Rahmen der psychosomatischen
Grundversorgung, für die die meisten Haus- und Frauenärzte qualifiziert sind, besteht die Chance einer
adäquaten Diagnostik und Behandlung. Grundlage dafür ist die Schaffung einer stabilen vertrauensvollen
langfristigen Beziehung, damit sich
die Patientinnen einlassen können
auf die Mehrdimensionalität der Ursaschen ihrer Beschwerden und
auch der Behandlung. Nur so lässt
sich das „doctor-hopping“ eingrenzen. Wie schwierig das ist, weiß jede/r, der/die in der Praxis damit konfrontiert ist. Die Patientinnen haben
spürbar hohe Ansprüche, sie setzen
unter Druck und sind selbst schnell
enttäuscht. Das zu wissen, die Frau
ernst zu nehmen und konsequent eine bio-psycho-soziale Haltung einzunehmen, kann der Beginn einer
dann sehr lohnenden Beziehung
sein. Das Wissen um „green“ bzw.
yellow flags“ ist hilfreich, um die
Schwere und die Therapieintensität
einschätzen zu könne. Idealerweise
gibt es zur Durchführung einer multimodalen Therapie ein lokales Netzwerk, in das man die Patientin je
nach Situation gezielt vermittelt. Die
Kooperation entlastet die einzelnen
Behandler/ Behandlerinnen und
nützt den Patientinnen, aus „nervenden“ Patientinnen werden interessante Persönlichkeiten.
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Zusammenfassung
Somatoforme Schmerzen, d.h.,
chronische Schmerzsyndrome ohne
eindeutiges körperliches Korrelat,
sind eine besondere Herausforderung in der ärztlichen Praxis. Sie treten bei Männern wie bei Frauen auf,
aber Frauen berichten doppelt bis
dreifach so häufig darüber, d.h. es ist
ein typisches „Frauen-Thema“.
Wichtig ist eine konsequente biopsycho-soziale Haltung von Anfang
an, um der Multidimensionalität sowohl der Ursachen wie auch der
möglichen Behandlung Rechnung
zu tragen. Von besonderer Bedeutung und gleichzeitig schwierig ist
der Aufbau einer tragfähigen verlässlichen Beziehung.
Im Beitrag soll beispielhaft auf die
psychosomatischen Aspekte beim
chronischen Unterbauchschmerz der
Frau eingegangen werden, einem in
der hausärztlichen wie in der gynäkologischen Praxis sehr häufigen Syndrom, für das in 60–80 % die Diagnosekriterien der somatoformen
Schmerzstörung zutrifft. Haus- und
Frauenärzte/ -ärztinnen mit psychosomatischer Grundversorgung haben
die Chance, die Erkrankung frühzeitig zu erkennen und eine (iatrogene)
Chronifizierung zu verhindern. Der
Schwerpunkt liegt auf der adäquaten Kommunikation, der Einschätzung des Schweregrades und der
darauf basierenden abgestuften
multimodalen Therapie.
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Korrespondenzadresse:
Dr.med.Claudia Schumann
Frauenärztin / Psychotherapie
Hindenburgstr.26
37154 Northeim
Tel.: +49 (0)5551/3483
E-Mail: [email protected]
www.dr-claudia-schumann.de
Originalpublikation:
Schumann C. Irgendwann muss es doch
kommen! Ärztliche Psychotherapie 2013;
8: 210-5.
Dr.med.Claudia
Schumann