46 Literatur Sie war’s! Sie war’s!: Die Autorin Jennifer Jacquet erforscht die revolutionäre Kraft der Scham. Frau Jacquet, wann haben Sie sich das letzte Mal für etwas geschämt? Ich könnte jetzt sagen: gestern, als ich verschlafen habe. Umgangssprachlich wäre das richtig. Aber das ist nicht die Art von Scham, für die ich mich beruflich interessiere. Ich habe große Hoffnungen, dass sie es könnte. Es ist allerdings nicht so, als würde ich diese Revolution der Sie beschäftigen sich als Assistenzprofessorin für Umweltwissenschaften mit Formen der Bloßstellung. Um welches Schamgefühl geht es Ihnen? Das private Schamgefühl ist mir nicht so wichtig. Aber Beschämung kann auch eine politische Wirkung haben. Wenn Regierungen, Unternehmen oder Branchen gezielt bloßgestellt werden. men wie JP Morgan zur Verantwortung ziehen und bloßstellen, anstatt Konsumenten daran zu erinnern, Energiesparbirnen zu verwenden. Wo stößt das Instrument Scham an seine Grenzen? Beschämung heißt, dass jemand an den Maßstäben einer Gruppe gemessen wird. Das bedeutet, dass Beschämung nur funktioniert, wenn sich eine Gruppe auf die gleichen Normen einigen kann. Außerdem haben wir es heute mit vielen Problemen wie Nahrungsmittelknappheit oder der Überfischung der Meere zu tun, bei denen es uns schwerfällt, uns auf konkrete Verantwortliche zu einigen. Es werden gerade viele Fälle diskutiert, in denen Menschen öffentlich bloßgestellt werden. Die PRAngestellte Justine Sacco hat nach einem rassistischen Tweet ihren Job verloren. Gibt es nicht zu viel Beschämung? Mir geht es mehr darum, wie Institutionen gezielt bloßgestellt werden können, um einen bestimmten Missstand zu beheben. Für Sie ist Scham nicht nur Wenn Individuen bloßgeein Gefühl, sondern in stellt werden, ist das eine erster Linie ein Instrument? ganz andere AngelegenSeit 2007 veröffentlicht heit. Ich glaube, dass in der Bundesstaat Kaliforvielen dieser Fälle das Unnien eine Liste der 500 behagen daher rührt, dass größten Steuersünder. Wer die Strafe für den Verstoß darauf zu landen droht, unverhältnismäßig hart ist. bekommt vorher eine WarWissenschaftlerin Jacquet Viele dieser Fälle werden nung. Und viele zahlen – »Beschämung kann auch eine politische Wirkung haben« sich außerdem in Zukunft nicht wegen ihres schlechvon selbst erledigen, weil ten Gewissens, sondern sich das Internet verändert und es aus Angst vor der Beschämung. Be- Scham anführen, ich beobachte sie immer weniger Anonymität gibt. schämung ist immer dann ein wireher aus meinem metaphorischen kungsvolles Zwangsmittel, wenn Sessel heraus. Aber die Art und WeiInterview: Maren Keller es – aus praktischen, juristischen se, in der die Frage nach Verantworoder sonstigen Gründen – keine tung für globale Probleme gerade Möglichkeit der formellen Bestraneu verhandelt wird, ist für mich die Jennifer Jaquet: »Scham. Die politische fung gibt. aufregendste gesellschaftliche EntKraft eines unterschätzten Gefühls«. wicklung der Gegenwart. Es ist sehr Aus dem Amerikanischen von Jürgen NeuKönnte Scham die Welt verbessern? beruhigend, wenn NGOs Unternehbauer. S. Fischer; 224 Seiten; 18,99 Euro. K ULT UR S PI EG EL
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