Der Kuss der Schlange

Eins
»Macht es dir auch wirklich nichts aus?«
»Nein, Grandma, du musst dir wirklich
keine Sorgen machen.«
»Ich fahre nur äußerst ungern weg und
lasse dich allein.«
Lily verdreht die Augen. »Grandma, ich
bin siebzehn, da werde ich wohl zwei
popelige Tage allein zurechtkommen.«
»Daran zweifelt ja auch niemand, mein
Schatz. Es ist nur …« Es erübrigt sich, den
Satz zu Ende zu sprechen – sie beide wissen,
wie er endet.
»Dody, sie kriegt das schon hin«, schaltet
sich Lilys Großvater ein. »Aber könnten wir
jetzt vielleicht endlich losfahren – du weißt
doch, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit
nur noch äußerst ungern Auto fahre.« Sein
Sehvermögen ist nachts nicht mehr so gut wie
früher – aber was ist das schon, wie er gern
sagt?
In der kreisförmigen Auffahrt am Fuß der
breiten Marmortreppe steht ein blitzender
schwarzer Mercedes-Geländewagen, mit
genügend Proviant beladen, um Napoleons
ganze Armee wohlbehalten aus Moskau
zurückzubringen.
Die
schwarzhaarige,
dunkeläugige Lily umarmt ihre rundliche
Großmutter, die nach altem Babypuder riecht;
als sich ihr Großvater zu Lily herabbeugt, um
ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken,
treibt ihr der stechende Dunst seines
Rasierwassers die Tränen in die Augen – sein
Geruchssinn ist anscheinend auch nicht mehr
das, was er einmal war.
Lily steht winkend auf der Treppe, bis der
Geländewagen verschwunden ist, dann geht
sie wieder in die zweigeschossige PebbleBeach-Villa im Missionsstil, in der sie mit
ihren Großeltern lebt, seit sie fünf ist. Jetzt
hat sie das Haus ganz für sich allein. Das
muss gefeiert werden. Sie schleicht ins
Schlafzimmer ihrer Großmutter, stibitzt eine
Zigarette aus der Packung Dorals, die
Grandma in einer Kommodenschublade
versteckt hat, und geht damit auf den Balkon
hinaus, um sie, die Hand wie eine
Stummfilmdiva am Gelenk abgeknickt, mit
träge-lasziven Bewegungen zu rauchen.
Die Realität des Allein-zu-Hause-Seins
reicht allerdings nie lang an die damit
verbundenen Erwartungen heran. Nach ein
paar Zügen schmeckt die Zigarette brennend
heiß und schal, und als sie sie ausdrückt und
wieder nach drinnen geht, ist die Villa so leer
und hallend, dass sie in ihrem Zimmer im
ersten Stock das Ticken der Großvateruhr
unten im Wohnzimmer hören kann.
Lily lässt sich aufs Bett plumpsen,
schaltet den Fernseher ein und zappt durch
die Kanäle. Auf MTV kommt eine Beachparty,
im Sand tanzende College-Kids, die Jungen in
weiten
Shorts
und
mit
mickrigen
Möchtegern-Ziegenbärten, die großbusigen
Mädchen in winzigen Bikinis, die kaum ihre
Brustwarzen bedecken. Lily ist sowohl
verunsichert als auch fasziniert von der
unverhohlenen Sexualität.
Alte Schissbüchse, tadelt sie sich selbst –
willst du denn nicht wenigstens mal
anfangen, ein normales Leben zu führen?
Nur um zu sehen, wie das wäre, zieht sie
sich bis auf BH und Slip aus und probiert vor
dem Spiegel an der Tür des begehbaren
Kleiderschranks ein paar Moves aus. Na,
siehst du, denkt sie glücklich und errötet
dabei
wie
ein
Granatapfel
bei
Sonnenuntergang – geht doch.
Doch schon nach wenigen Sekunden
vorsichtigen Sich-gehen-Lassens drängt sich
ein Bild aus ihrer Kindheit in ihr
Bewusstsein. Kräftige, streng riechende
Männerhände, groß genug, um ihren Kopf zu
umschließen wie einen Softball, ziehen ihre
Kiefer auseinander; ein unglaublich dicker,
rotköpfiger Penis zwängt sich in ihren Mund,
sodass sie keine Luft mehr bekommt; ein
Blitzlicht explodiert zu weißem Gleißen.
Sie wirbelt herum, weg vom Spiegel, und
um Atem ringend, als wäre sie immer noch
dieses kleine Mädchen, setzt sie sich, den
Kopf zwischen den Knien, auf die Bettkante
und atmet eieiein und auauaus, gaaanz
ruuuhig. Plötzlich kommt ein Werbespot für
Aknecreme;
sie
tastet
nach
der