SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Aula Permanent unruhig Die Moderne und ihre Erregungssysteme Von Ralf Konersmann Sendung: Sonntag, 17. Juli 2016 Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2015 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml Die Manuskripte von SWR2 Aula gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. 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Stress, Hektik, Veränderung, Wandel, Bewegung, Wachstum, Flexibilität – die Unruhe versteckt sich in vielen Begriffe und Systemen, die unsere Gesellschaft prägen, und man kann sagen: Diese Gesellschaft ist eine zutiefst dynamische, sie lehnt nichts so sehr ab wie den Stillstand, der höchstens als utopischer Zustand zugelassen wird. Über diese Zusammenhänge hat der Kieler Philosoph Professor Ralf Konersmann eine Ideengeschichte geschrieben, Titel des Buch: "Die Unruhe der Welt", erschienen bei Fischer. Das ist heute das Aula-Thema. Die ursprünglich angekündigte Sendung über das Lernen ohne den Lehrer musste auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Ich begrüße nun Ralf Konersmann zum Aula-Gespräch. Interview: Caspary: Guten Morgen, Herr Konersmann. Konersmann: Guten Morgen, Herr Caspary. Caspary: Unruhe ist für mich zunächst einmal ein physiologischer Begriff, der sich auf Nervosität bezieht. Wie definieren Sie Unruhe im gesellschaftlichen Kontext? Konersmann: Ich glaube nicht, dass wir die Handlichkeit oder Seriosität eines Begriffs darüber bestimmen sollten, dass wir eine lexikalische Definition anbieten. Das wäre einerseits langweilig, andererseits ist das auch gar nicht praktikabel, denn ich denke, dass beispielsweise die Naturwissenschaften ihre Erfolge nicht daraus beziehen, dass sie einen besonders ausgearbeiteten Naturbegriff haben. Wenn Sie einen Biologen fragen, werden Sie eine andere Antwort bekommen, als wenn Sie mit einem Chemiker oder Physiker sprechen. So ähnlich ist es auch mit der Unruhe. Ein Theologe wird vielleicht auf die Tradition der Sünde und der Sündhaftigkeit des Menschen verweisen, ein Psychologe die Nervosität assoziieren oder über das Triebleben sprechen wollen, ein Soziologe über gesellschaftliche Verschiebungen, ein Ökonom wird das Ganze als Wachstum begrüßen usw. Das heißt, diese Dinge sind alle perspektivisch sehr stark vorbelastet. Mich interessiert das Gemeinsame. Was ist der Impuls, wo sind die Schauplätze für die Unruhe, so dass wir uns, jedenfalls als Teilnehmer der westlichen Kultur, ohne weiteres auf ein Modell einlassen, dass gerade nicht irgendwo expliziert ist, sondern dass wir uns gefühlsmäßig oder durch Nachahmung auf vielen Wegen zu Eigen gemacht haben. 2 Caspary: Kann man denn sagen, auch wenn Sie sich – verständlicherweise – gegen die Definition wehren, dass Unruhe der Oberbegriff ist für eine dynamische, rastlose, ruhelose Gesellschaft? Konersmann: Ja, das kann man so sagen. Das Interessante ist aber sozusagen die phänomenale Ebene. Wo zeigt sich das eigentlich und wie zeigt es sich? Wie geschehen diese Einwilligungsprozesse? Nehmen wir mal ein Beispiel wie Mode: Wie passiert es eigentlich, dass wir uns auf diesen Betrieb der Mode mit ihren permanenten Erneuerungen immer wieder einlassen, wo wir doch genau wissen, im nächsten Jahr ist wieder alles anders, und trotzdem akzeptieren wir im Moment die Unbedingtheit dieser Vorgaben. Und das ist so eine Struktur, die man in der Mode sehr schön zeigen kann, die sich mittlerweile in vielen kulturellen und gesellschaftlichen Teilbereichen durchgesetzt hat. Und das Faszinosum dieser Struktur, aber auch die Bereitschaft, ihr zu folgen, sind für mich eine Herausforderung gewesen. Caspary: In der Mode wird das ganz evident, wie Sie schon angedeutet haben, z. B. das Autooder Lampendesign von vor drei Jahren ist heute out, gilt eigentlich schon als Retro, und da haben wir uns auf diese ständigen Veränderungsprozesse eingelassen, wie Sie gesagt haben, denn wir empfinden es ja als veraltet. Konersmann: Ja, wir empfinden das als veraltet, obwohl wir uns noch daran erinnern können, mit welcher Begeisterung wir diese Lampe vor drei Jahren gekauft haben und dem Gefühl, nun einen Schritt nach vorn zu machen; und jetzt sehen wir uns in der Lage, dass wir schon wieder etwas ganz Neues brauchen. All das war absehbar, und trotzdem lassen wir uns auf dieses Spiel ein. Caspary: Wir sind bei der phänomenalen Ebene. Ich bringe die Unruhe mit der Moderne in Verbindung. Moderne müssten wir jetzt auch definieren: sagen wir mal ab dem 18., 19. Jahrhundert. Man sagt, die Moderne beruht auf der permanenten Beschleunigung, auf einem permanenten Überbietungsprozess, auf dem "Immer mehr", "Immer besser". Hat Sie das auch interessiert? Konersmann: Selbstverständlich. Im Grunde war das ja die Ausgangsbeobachtung und die Überlegung, wie ist die Zustimmung, die Akzeptanz zustande gekommen. Sie betrifft ja auch uns als Individuen unmittelbar, indem sie uns mit bestimmten Anforderungen konfrontiert. Das fängt an mit der Erziehung, dem Kindergarten, der Schule – von allen Seiten wird an uns die Anforderung und die Aufforderung herangetragen, uns zu verändern, uns in permanenter Entwicklung zu befinden, "lebenslanges Lernen" ist ein Stichwort, das seit Jahrzehnten kursiert. Warum lassen wir uns darauf ein? Das ist die Frage, wenn man nun auch noch im Hinterkopf hat, dass die traditionellen Glücksvorstellungen im Grunde genommen alle etwas mit Idyllen zu tun haben, mit Ruhezonen, mit Gelassenheit und mit Situationen, wo wir eben nicht in dieser Weise permanent gestört und aufgeschreckt werden. Um auf Ihre Frage nach der Moderne zurückzukommen: In Wahrheit ist die Erfahrung der Unruhe sehr viel älter und schon im Alten Testament beschrieben. Vielleicht unterscheidet sich die Moderne von der 3 Vormoderne aber dadurch, dass sie dafür wirbt, sich auf diese Unruhe einzulassen, dass sie die Unruhe normalisiert und auch normiert. Denn während in älteren Zeiten die Ethiken, die Theologie, aber auch die Philosophie Wege aus der Unruhe zeigen wollten, also Rettung aus der Unruhe, versucht die Neuzeit ein ganz anderes Modell, nämlich Rettung durch die Unruhe, und das heißt dann Fortschritt und Entwicklung. Caspary: Mich hat Ihr Buch sehr an Theorien in der literarischen oder philosophischen Frühromantik erinnert. Da ist der Philosoph Fichte wichtig, die Sehnsucht, die ewige Unruhe, die ewige Suche nach der blauen Blume. Die Frühromantik ist ja eine zutiefst nervöse Kunst propagiert, die auch nervöse Künstlertypen hervorgebracht hat. Konersmann: Ja. Sehr grob könnte man sagen, dass diese Frühromantiker im Grunde ergänzen – auf der individuellen Ebene, auf der Empfindungs- und Gefühlsebene –, was zuvor die Geschichtsphilosophen der Aufklärung bis hin noch zu Hegel gleichsam auf die Gattung hin formuliert hatten. Im Grunde genommen kann man die Frühromantik, glaube ich, auch als eine Ergänzung dieses Entwurfs und dieser Erwartung verstehen: durch Unruhe, d. h. durch die Mobilisierung der Welt und seiner Selbst, auch seiner seelischen und geistigen Entwicklung, zu einer besseren Welt zu kommen. Wir haben es hier mit einer Politik der Komparative zu tun: die Welt besser zu machen, sie bequemer zu machen, sie schöner zu machen, sie vollkommener zu machen. Und das wurzelt nun allerdings, würde ich meinen, ganz tief in der europäisch-abendländischen Geistesgeschichte. Caspary: Dann gehen wir in diese Tiefe hinein: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass die Unruhe etwas mit der Vertreibung aus dem Paradies zu tun hat, mit diesem UrMythos, der uns alle bestimmt? Konersmann: Ja, ich würde meinen, dass das erste Buch Genesis zu verstehen ist als Antwort auf die Frage, wie sind wir eigentlich in die Unruhe hineingekommen. Die Antwort des Alten Testaments ist: indem wir uns gegen Gottes Gebot vergangen haben. D. h. die Unruhe erscheint alttestamentarisch als Strafe, man könnte auch sagen als Zeichen für unsere Sündhaftigkeit, und als Beschämung. Insofern ist Unruhe sofort ein problematischer Begriff und beschreibt einen Zustand, aus dem wir eigentlich herauskommen sollten. Wodurch? Durch gottgefälliges Leben. Das Interessante ist, und das ist eine ungeheure Innovation, die das Christentum und speziell Augustinus eingeführt hat, sich nicht mit diesem Zustand abzufinden und zu sagen, wir müssen aus der Unruhe herauskommen durch Meditation oder was auch immer. Sondern Augustinus ist der erste, der gesagt hat, diese Unruhe ist eigentlich nicht nur eine Strafe und Belastung, Störung und Entfremdung, sondern die Unruhe ist auch das Mittel, um wieder aus ihr herauszukommen, indem wir uns als Christen in der Weise entwickeln, dass wir ein gottgefälliges Leben führen können und dass wir am Tag des Jüngsten Gerichts wieder angenommen werden und in die ewige Ruhe finden. Das heißt also, der Ruhe-Gedanke ist immer noch da im Begriff der ewigen Ruhe, aber das Leben darf in bestimmten Grenzen eben auch unruhig sein, weil es einen Prozess der Läuterung durchläuft. Und dieser Gedanke, diese Intuition des Augustinus aus dem 4. Jahrhundert, wird zu Beginn der Neuzeit noch einmal ganz 4 entscheidend, wenn man systematisch ausformuliert, dass die Unruhe nicht nur ein Übel ist, sondern auch eine Chance birgt. Caspary: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, war die Grundsteinlegung für das Motiv Unruhe und für den Gegenpol Ruhe schon im Alten und Neuen Testament und in den christlichen Mythen? Konersmann: Ja, das würde ich sagen. Diese Polarisierung, wie Sie ganz richtig sagen, ist schon da und auch die Differenzierung. Denn auf der einen Seite gibt es schon bei den Stoikern eine Unruhe, die einfach nur schädlich ist, eine Rastlosigkeit, eine gedankenlose ziellose Hektik, der man sich auf keinen Fall überlassen darf, aber andererseits auch eine kontrollierte Unruhe, eine Unruhe, die mir hilft, weise zu werden und eine geistliche Entwicklung zu durchlaufen. Darüber hinaus wird auch die Ruhe differenziert, es gibt eine Trägheit, Müßiggang, Teilnahmslosigkeit, Indifferenz, also eine schlechte Ruhe, die man in sich bekämpfen muss. Und dann gibt es eine Ruhe, nach der wir alle streben, und der Schlüsselbegriff in dem Zusammenhang ist die Muße. Mit diesen Differenzierungen in den Begriffen arbeitet die abendländische Ideengeschichte bis heute. Caspary: Das wird uns sozusagen in den Rucksack mitgegeben und ist heute noch wichtig. Konersmann: Ja. Das ist ja auch unglaublich reich tradiert. Seneca haben die Philosophengenerationen, die Schriftsteller und Gelehrten bis ins 19. Jahrhundert ganz selbstverständlich gelesen. Da gibt es eigentlich keinen, der damit nicht vertraut war und mehr oder weniger Verbindung hatte. Dieses Bildungswissen ist uns allmählich verloren gegangen. Caspary: In Ihrem Buch kommen auch Kain und Abel vor. Das müssen Sie uns erklären? Konersmann: Kain und Abel kommen deshalb vor, weil Kain zur Strafe seiner Untat, seinen Bruder erschlagen und auch Gott mehrfach betrogen zu haben, verbannt wird in die Unruhe. Das ist ein Satz, der im Alten Testament gleich zwei Mal gesagt wird: "Rastlos und unruhig sollst du sein, in der Unruhe sollst du leben", und das ist der Abschied Kains aus dem näheren Umfeld des Paradieses, aus der die Eltern, Adam und Eva ja schon vertrieben wurden. Und Kain wird ein zweites Mal vertrieben, sozusagen aus der Paradies-Nähe, aus der relativen Geborgenheit eines zwar jetzt mühseligen und arbeitssamen Lebens, das aber doch noch innerhalb einer gewissen Ordnung stattfindet. Kain ist der erste, der erleben muss, dass ihm die passgenaue Umwelt genommen ist. Dieser Mythos erzählt uns Menschen davon, dass und warum wir Wesen sind, die anders als Tiere und Pflanzen in einer Welt leben, für die wir im Grunde gar nicht gemacht und in die wir nur unzureichend eingesetzt worden sind. Diese fehlende Passgenauigkeit ist der Kern, der ewige Anstoß unserer Unruhe. Wir dürfen uns sozusagen gar nicht zurücklehnen, weil in dem Moment, wo wir das tun würden, würden wir untergehen. Und das ist auch die Art, wie diese Kain-Erzählung in der Aufklärung aufgenommen wird. Schiller bedankt sich geradezu bei diesem Menschenpaar und übrigens auch bei Kain für diesen Ungehorsam, weil es uns gar 5 nicht mehr gäbe, wenn wir uns weiter in der Illusion gehalten hätten, ParadiesWesen gewesen zu sein und sozusagen den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Caspary: Wenn wir von diesem Schöpfungsmythos ausgehen, könnten wir ja sagen, Unruhe gehört zum Wesen des Menschen. Wir sind ein Mängelwesen und diese Mängel müssen wir kompensieren durch permanentes Arbeiten, durch Sich-Bewegen, SichVervollkommnen durch die Unruhe? Konersmann: Einerseits liegt diese Interpretation jetzt sehr nahe, ich wehre mich ein bisschen gegen diese Naturalisierung, weil mich interessiert, wie so etwas in die Köpfe kommt. Nicht über den genetischen Code, denn dann wären wir Tiere, Hunde, Affen oder Haie, die sich auch ständig bewegen müssen. Nein, wir transportieren das Ganze über unseren Kulturapparat. Das heißt, wir entwickeln Geschichten, wir haben Mythen, die uns derart in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass wir sie gar nicht wiederholen müssen und sie jederzeit zitierbar sind, sogar in der Pop-Kultur, im Kino – all diese Dinge, die zum Teil heruntergefahren sind auf ganz einfache Lebensregeln, auf Faustregeln, auf Lebensweisheiten ("wer rastet, der rostet"), die uns dazu anhalten, bloß nicht stillzustehen und nichts zu verpassen usw. In dieser Weise richten wir uns mental aus und passen uns der Unruhe-Welt an. Caspary: Verfolgen wir doch einmal diesen Mechanismus ideengeschichtlich. Welche Mythen oder herausragenden Konzepte finden Sie außerdem wichtig? Konersmann: Wichtig sind Schlüsselstellen, an denen man sich der Problematik bewusst wird. Ich hatte schon die Stoa genannt, die stoische Ruhe, ein Begriff, den wir heute noch nutzen. Das ist der Versuch, gleichsam das traditionelle Weltbild dadurch zu retten, dass man es differenziert in der Weise, wie ich das vorhin schon sagte, dass man die Unruhe und auch Ruhe handhabbar und lebbar macht. Es gab zahlreiche Berührungspunkte zwischen Christentum und Stoa, die das immer weiter ausformuliert haben. Aber die nächste große Zäsur nach den Testamenten und der griechischen Philosophie, nach der Christianisierung des Problems durch Augustinus, der sozusagen eine mäßige Unruhe zulässt, um eben einen Läuterungsprozess überhaupt stattfinden zu lassen, ist für mich Francis Bacon, der englische Lord-Kanzler, der eine Schrift herausbringt; das ist die letzte große Schrift der Renaissance und der Anfang der Aufklärung. Im "novum organum" spricht Bacon erstmals explizit aus, dass die Unruhe nicht nur eine Strafe und ein Übel ist, sondern dass wir auf die Unruhe auch setzen. Sein Beispiel ist die Wissenschaft, in der wir eben nicht eine Frage und eine Antwort haben und dann ist es gut, sondern wir werden immer weiter nach Fragen und Antworten suchen. Immer weiter suchen ist die Formel, die er schon in der Vorrede ausgibt, und dieses Suchen ist ein Beispiel für diese zahllosen Metaphern, die wir haben, um die Unruhe zu bezeichnen. Das Fließen, das Fließen der Welt, der Strom der Geschichte oder natürlich auch die Jagd nach Wissen, der Hunger nach Wissen, das Dürsten nach Erkenntnis und ähnliche Dinge – das sind Metaphern, die uns immer wieder versichern, dass die Unruhe der richtige Lebensmodus ist. Und Bacon ist insofern auch interessant, weil er noch Traditionalist genug ist, um zu wissen, dass wir die Welt nicht einfach der Unruhe ausliefern dürfen, dass das allem widerspricht, was die Menschen bis dahin 6 geglaubt und für richtig gehalten haben. Und er findet die Lösung, indem er sagt: Ja, wir nehmen die Unruhe an, aber nur auf Zeit. Das Interessante, und das ist später leicht in Vergessenheit geraten, ist, dass sowohl Bacon als auch der wenig später lebende Descartes ihre Vorschläge machen unter der Bedingung, dass sie selbst noch zu ihren Lebzeiten in den Genuss der Erträge kommen. Wir lassen jetzt sozusagen die Unruhe los, das ist die Idee, aber es wird keine Generation dauern und wir haben das, was wir davon erhoffen dürfen, wir werden wissen, was Menschen überhaupt wissen können. Das ist die Idee von Bacon. Er wollte sozusagen einen Zwischenspurt einlegen, und am Ende seines "novum organum" spricht er davon, dass wir wieder in einer paradiesischen Welt leben werden: Feuer gegen Feuer, die Unruhe gegen die Unruhe, und dann ist alles wieder gut. Und diese Kurzfristigkeit oder Befristung ist natürlich in Vergessenheit geraten, stattdessen sind wir im Rahmen der Aufklärung in einen unendlichen Prozess geraten. Und dieses, die Unendlichkeit der Unruhe bei der gleichzeitigen Enthemmung der Unruhe, das ist die Situation, die wir heute haben. Caspary: Sie haben Bacon genannt mit seinem Manifest zur Gründung der Moderne, die Wahrheitssuche eine permanente Annäherung an die Wahrheit; Sie haben Descartes genannt, ich glaube, Sie meinen damit den ewigen Zweifel an sich selbst? Konersmann: Ja, den ewigen Zweifel an sich selbst. Das ist aber so eine ähnliche Struktur wie bei Bacon. Dieser Zweifel ist ja nicht um seiner selbst willen da, sondern mit dem Zweifel verbindet sich die Erwartung, dass wenn man an sich nur radikal genug zweifelt, man irgendwann an einen Punkt kommt, an dem überhaupt nicht mehr zu zweifeln ist. Caspary: Also eine Erlösungsfantasie? Konersmann: Genau. Je radikaler wir jetzt zweifeln, desto weniger Grund werden wir später haben, noch länger zu zweifeln. Das ist letztlich auch ein Modell, das durch die Unruhe wiederum aus der Unruhe hinausführt. Caspary: Bei Kant sind dann die Geschichte des Ich und die Geschichte der Welt zwei Vervollkommnungsgeschichten, die eigentlich nie zu Ende gehen? Konersmann: Ja, richtig. Das ist aber doch im Vergleich mit den 150 Jahre zuvor formulierten Erwartungen der Generationen Bacon oder Descartes schon ein ganz anderes Modell, weil die Befristung entfällt und wir uns auf einen Prozess und eine unendliche Entwicklung einlassen müssen. Ob die Geschichte zum Besseren ausschlägt, ist für Kant keineswegs so selbstverständlich. Und wir merken schon in Kants geschichtsphilosophischen Schriften eine gewisse Skepsis, mit welcher Selbstverständlichkeit wir überhaupt von Fortschritt sprechen können. Er scheint geahnt zu haben, dass wir vielleicht sogar nur in einer unruhigen Welt enden statt in einer besseren Welt. Allerdings ist auch für Kant klar, dass die Alternative einer paradiesischen Existenz, was neuerdings Ausstieg heißt, völlig undenkbar ist. Sondern wir haben uns auf dieses Modell eingelassen, wir haben alles auf diese Karte gesetzt, und jetzt müssen wir es durchziehen. 7 Caspary: Schopenhauer, der Antipode, sagt, das Leben ist eine ewige Triebgeschichte, unsere Triebe werden aber nie richtig befriedigt, wir sehnen uns ständig und sind gierig. Erlösung gibt es für ihn, und das finde ich interessant, in einer buddhistischen Loslösung vom Ich, in einem Zustand der absoluten Ruhe als Idealzustand? Konersmann: Das ist schon ein ganz interessantes Feld. Immer wieder, auch in der europäischen Geistesgeschichte, gibt es den Versuch, aus dieser Fatalität der Unruhedynamik herauszukommen und diesem Sog etwas entgegenzusetzen. Dazu gehören sicherlich auch Schopenhauers Anleihen bei den östlichen Religionen und Weisheitslehren. Und so etwas haben wir eigentlich immer wieder. Die Frage ist, ob dieser Exotismus eine ernsthafte Alternative oder doch letztlich nur privat für den einen oder anderen von Interesse sein kann, aber nicht für eine umfassende Gesellschaftskultur. Diese Dilemmatik haben wir bis heute. Wenn wir heute eine Buchhandlung betreten, finden wir dort viel mehr Literatur, die sich mit der Gelassenheit auseinandersetzt als seriöse philosophische oder soziologische Literatur. Caspary: In den Esoterik-Ecken? Konersmann: Ja, und sie haben einen ungeheuren Erfolg, obwohl sie andererseits aber auch ein großer Misserfolg sind, weil sie auf rein privater Ebene argumentieren oder überhaupt Rat geben können mit bestimmten Thesen, mit bestimmten Lebensweisen und Rhythmisierungen des Alltags usw. Das ist ja alles gut und schön, ändert aber am Prinzip unserer Verschworenheit mit der Unruhe überhaupt nichts. Im Gegenteil. Witzig ist, dass einer der prominentesten Ratgeber die Textstellen, die man auf jeden Fall und ganz schnell zur Kenntnis nehmen sollte, rot hervorhebt, um Speed Reading zu ermöglichen. Es ist schon absurd, ein Buch über die Gelassenheit mit Speed Reading-Elementen zu versetzen. Caspary: Wir sind mitten in der Moderne angelangt. Wenn wir alleine nur die Kunst nehmen, das sind alles Künste, die die Bewegung sozusagen festschreiben, die Nervosität. Das geht vom Futurismus über den Expressionismus bis hin zum Dadaismus, ein wahnsinnig schneller Wechsel der Kunstrichtungen. Oder es werden verschiedene Stile von früher und heute vermischt. Die Moderne unterliegt dem Imperativ: Sei unruhig! Bewege dich! Mach etwas! Ist das für Sie eine Verfallsgeschichte oder eine Problemgeschichte? Sie haben eben davon gesprochen, die Moderne sei verschworen mit diesem Prinzip? Konersmann: An der Stelle würde ich schon versuchen, Kritik anzubringen. Es fehlt die Reflexion. Diese Phänomene und Schauplätze der Unruhe und des Tempozuwachses, des Feierns der Geschwindigkeit, wie z. B. bei den Futuristen, all dies geschieht ohne Reflexion. Das ist eine reine Befeuerung und ist zum Teil von Werbesprache kaum noch zu unterscheiden. Wir unterhalten uns nicht darüber. Mein Buch ist sozusagen die Einladung, sich einmal darüber zu verständigen, auf was wir uns da alle eingelassen haben, wofür wir uns permanent begeistern, ohne so recht zu wissen, 8 wieso eigentlich. Wir berauschen uns an Bildern, an Effekten, am Geflacker und an allen möglichen eindrucksvollen Inszenierungen. Aber eine Reflexion findet nicht statt. Um dies zu ermöglichen, halte ich mich auch weitgehend mit Bewertungen zurück, außer eben der einen, dass es an der nötigen Reflexion fehlt. Und das scheint mir das Entscheidende zu sein. Alle diese Szenarien und Bilder, Geschwindigkeitsrausch-Szenarien usw., sind ja nur Befeuerungen der Unruhe. Und die Frage ist, wie ist dieser Konsens aufgekommen, wie sind wir in diese Normalität hineingeraten, dass man uns sozusagen nur auf diese Weise anzusprechen braucht und schon ist die Begeisterung da. Caspary: Haben Sie darauf eine Antwort? Konersmann: Durch diesen langen Vorlauf, durch die Plausibilisierung, als im 19. Jahrhundert, kurz nachdem die Frühromantiker abgetreten sind, mit den Jung-Hegelianern, speziell mit Marx, die Idee aufkommt, die Veränderung selbst und nur die Veränderung ohne weitere Qualifizierung ist das Element, der Faktor, auf den wir alles setzen müssen. Marx verabschiedet geradezu die alte Theorie-Tradition, indem er sagt, die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Das ist der Stand bis heute, entstanden ist er in den frühen 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts: Es gilt nun, die Welt zu verändern. Und diese im Grunde genommen dürftige Auskunft ist der Punkt, an dem wir uns heute noch befinden. Wenn man auf die Rhetorik der Politik achtet, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern mittlerweile rund um den Globus, dann ist Verändern an sich schon ein Versprechen. Und die Frage ist: Wie kommt man eigentlich dahin? Caspary: Wachstum ist auch so ein Faktor? Konersmann: Ja, genau. Man könnte ja auch mal skeptisch sein, man könnte gewisse Befürchtungen hegen hinsichtlich weiterer Veränderungen. Aber wir assoziieren mit Veränderung ganz automatisch Verbesserung. Mich interessiert, wie dieser Automatismus aufgekommen ist. Marx ist in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfigur. Er hat das klar und nüchtern gesehen und mit einer unglaublichen Kaltschnäuzigkeit ausgesprochen. Caspary: Sie haben gesagt, in unserer Zeit fehlt es an Reflexion. Ich möchte dem widersprechen: Wir haben eine stark polarisierte Diskussion z. B. über die digitalen Medien. Und ich glaube, da gibt es schon die einen, die auf Fortschritt setzen und auf Verbesserung: Verbesserung des Lernens durch digitale Medien, Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten durch digitale Medien. Und es gibt die Gegenposition, die sagt, wir brauchen Ruhe, wir brauchen Askese von diesen Dingen. Da findet sich doch in unserer Selbstbeschreibung der Versuch der reflexiven Distanznahme? Konersmann: Die gibt es punktuell und sie ist sehr wichtig. Aber es gibt sie eben nur punktuell. Wenn Sie die Landschaft im Ganzen betrachten, wo die Arenen der Unruhe sind, wo sie sich entfaltet und auch ihre Faszination zeigt, dann stellen Sie fest, dass es nur vereinzelte Initiativen sind. Wenn Sie sich die Kunstszene anschauen, wie dort seit 9 30 Jahren der Werk-Begriff zerstört und hingeschlachtet wird – das Werk, das ja etwas in sich Ruhendes sein sollte, ein Schlusspunkt, eine starke Aussage, die erst einmal stehen bleiben sollte, um dann dem Publikum vielleicht sogar über Generationen eine Inspiration zu sein – diese Vorstellung des Werks wird ja seit mindestens 30 Jahren massiv attackiert, und da sehe ich überhaupt nicht, wo jemand sich für die Idee des Werks stark machen würde. Das ist aber nur ein winziges Beispiel aus einem Kosmos einer in die Unruhe hineinsozialisierten und kulturalisierten Wirklichkeit, die unterm Strich immer noch auf die Unruhe setzt. Caspary: Sie würden also sagen, wir sind auf dieses Prinzip mindestens 2.000 Jahre lang kulturgeschichtlich, ideengeschichtlich konditioniert worden, und jetzt fällt es uns umso schwerer zu erkennen, wie tief das in uns verwurzelt ist, um dann irgendwie davon wegzukommen? Konersmann: Ja, und weil die Unruhe eben nicht ein isolierbares, kleines Problem ist, das irgendwie handlich und handhabbar vor uns liegt, sondern weil es eben hineingesickert ist in alle Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Caspary: Wie das passiert ist, kann man sehr gut in Ihrem Buch nachlesen. Sie haben völlig recht in Ihrer Selbsteinschätzung. Ich stimme Ihnen zu, es ist wirklich eine sehr schöne Anleitung zur Reflexion. Was soll ich uns am Ende wünschen, Herr Konersmann? Sollen wir beide unsere Ruhe und unsere Mitte finden, eine Portion buddhistischer Gelassenheit? Konersmann: Einverstanden. Caspary: Vielen Dank für das Gespräch. Konersmann: Ich danke auch Ihnen, Herr Caspary. ***** Ralf Konersmann ist Professor für Philosophie und Direktor des Philosophischen Seminars an der Universität Kiel. Seine Forschungsinteressen sind u. a. Pathogenese der Unruhe, Formen intra- und interkultureller Kritik, kulturelles Wissen und kulturelle Instinkte. Internetseite: www.ralfkonersmann.de Bücher: – Die Unruhe der Welt (4. Aufl.). Verlag S. Fischer. 2015. – Wörterbuch der philosophischen Metaphern (Hrsg.). WBG. 2014. 10
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