Bahnreisende mit Axt schwer verletzt

Unser Amerika
UNSER AMERIKA
Spezial
Mittwoch, 20. Juli 2016, Nr. 167
n Seite 2: Revolution vertiefen. Venezuelas Kommunisten fordern einen radikaleren Kurs. Gespräch mit Carolus
Wimmer n Seite 4: Klischees hinterfragen. Jamaika jenseits von Reggae und Rastafari. Von Mareike Haurand
n Seite 6: Vergessen verhindern. Vor 30 Jahren wurde in Nicaragua der Internationalist Berndt Koberstein ermordet.
Von Werner Siebler n Seite 7: Demokratie verteidigen. In Lateinamerika nimmt die Unterdrückung der Arbeiter­
bewegung wieder zu. Gespräch mit Gustavo Triani
Aufstand
im Hinterhof
José Martí sprach 1891 von »Unserem Amerika«.
Um dessen Kurs ringen die Vasallen der
Kolonialherren und die Nachfolger der Befreier.
Von André Scheer
D
ie meisten Medien sprechen von
»Europa«, wenn sie die EU meinen, als würden Brest und Lwiw
schon in Asien liegen. Und ist die
Rede von »Amerika«, dann geht
es zumeist um die USA.
Einen anderen Blick auf den Kontinent hatte
José Martí (1853–1895), als er 1891 in den USA
und Mexiko ein Essay veröffentlichte, dem er den
Titel »Unser Amerika« gab. Martí wird in Kuba
bis heute als Nationaldichter und Held des Kampfes um die Unabhängigkeit der Insel verehrt. In
zahlreichen Schriften und gerade in diesem Essay
stellte er sich auf die Seite des Amerikas der
Arbeiter, der Mestizen und der indigenen Völker
»vom Rio Bravo bis zur Magellanstraße«, also
von der Grenze zwischen den USA und Mexiko
bis zur Südspitze des Kontinents in Chile. Er rief
dazu auf, sich auf die eigene Kultur Lateinamerikas zu besinnen, statt Rezepte aus den USA oder
Europa nachzuahmen. Es müsse die Geschichte
der Inkas gelehrt werden, selbst wenn die Schüler
dann weniger über die alten Athener erfahren
würden: »Unser Griechenland ist dem Griechenland vorzuziehen, das nicht unseres ist.«
Einer der wichtigsten kubanischen Schriftstel-
ler der Gegenwart, Roberto Fernández
Retamar, griff diese Diskussion 1971 in
seinem Aufsatz »Calibán« auf. Ein
Journalist habe ihn gefragt, ob es
überhaupt eine lateinamerikanische
Kultur gebe – »doch unsere Kultur in
Frage zu stellen bedeutet, unsere eigene Existenz, unsere eigene menschliche Realität anzuzweifeln«. Unter
ausdrücklichem Rückgriff auf Martís
Essay kritisierte Retamar eine von
linken wie rechten Intellektuellen der
»Ersten Welt« geübte Praxis, die Lateinamerikaner als »Lehrlinge« oder
»schlechte Kopie der Europäer« anzusehen. Martí habe geschrieben, dass
er nicht nur »von Vätern aus Valencia
und Müttern von den Kanaren« abstamme, sondern dass in seinen Adern
auch »das kochende Blut von Tamanaco und Paramaconi« fließe. »Ich vermute«, so Retamar in seinem Aufsatz,
»dass der Leser, sofern er kein Venezolaner ist, mit diesen von Martí genannten
Namen nichts anfangen kann. Auch ich konnte das nicht.« Tamanaco und Paramaconi waren
GRAFIK: jW/MIS
Indígenas, die sich
im 16. Jahrhundert im heutigen
Venezuela der Versklavung durch die spanischen Eroberer widersetzten. Sie seien von der
kolonialen Historiographie
ebenso der Vergessenheit
anheimgegeben worden, wie
die bürgerliche Geschichtsschreibung versucht habe, »die
Helden der Commune von 1871
oder die Märtyrer des 1. Mai
1886 auszulöschen«, so Retamar.
Der Kampf um die eigene Kultur prägt die Auseinandersetzungen in »Unserem Amerika« bis heute. Der argen-
tinische Präsident Mauricio Macri machte am
Unabhängigkeitstag seines Landes, dem 9. Juli
2016, vor Spaniens abgedanktem König Juan
Carlos I. den Bückling und entschuldigte sich dafür, dass seine Landsleute vor 200 Jahren die Abspaltung von Spanien beschlossen hatten. Gibt
es irgendeine Gemeinsamkeit zwischen einem
solchen Lakaien und Persönlichkeiten wie dem
2013 verstorbenen venezolanischen Präsidenten
Hugo Chávez, der 2007 über Juan Carlos sagte:
»Der König ist ebenso Staatschef wie ich, mit
dem Unterschied, dass ich gewählt wurde. Der
Indio Evo Morales ist ebenso ein Staatschef wie
der König Juan Carlos de Borbón.«
Noch ist nicht absehbar, ob sich in »Unserem Amerika« die Lakaien oder die »Indios«
durchsetzen. Unsere Sympathien haben nicht
diejenigen, die sich durch Unterordnung unter
die alten und neuen Imperien den »Platz an der
Sonne« sichern wollen. Wir stehen auf der Seite
derjenigen, die »Schluss gesagt und sich auf den
Weg gemacht haben«, wie es der Argentinier und
Kubaner Che Guevara 1964 vor der UNO formulierte. »Und ihr Marsch der Giganten wird nicht
aufzuhalten sein, bis die wirkliche Unabhängigkeit erkämpft ist.«
»Indio« oder Lakai
Der kubanische Revolutionär José Martí
veröffentlichte 1891 unter dem Titel »Unser Amerika« einen Essay. Er rief dazu auf,
sich auf die gemeinsame Kultur Lateinamerikas zu besinnen. Der Kampf darum
prägt den Subkontinent bis heute.
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Krieg von oben
Geschäft mit Armen
Spionage als Hobby
Chaos wie üblich
3
5
7
12
Reaktion auf rassistische Gewalt in
USA: In Baton Rouge erschoss
ein Kriegsveteran drei Polizisten
Seit Juni erhält jedermann ein Konto.
Viele aber nur gegen höhere
Gebühren. Von Susan Bonath
Russischer Geheimdienst nimmt
ukrainischen Agenten auf
OSZE-Mission fest
Das italienische Regierungssystem
unter Premier Renzi ist gefährdet. Von Gerhard Feldbauer
May mag die Bombe
Paris. Wenige Tage nach dem Anschlag von Nizza hat die französische Regierung die Verlängerung
des Ausnahmezustands um drei
Monate auf den Weg gebracht. Man
sei offen für die Forderung der konservativen Opposition, die eine Ausdehnung um sechs Monate verlangt,
betonte Regierungssprecher Stéphane Le Foll. Präsident François Hollande hatte die Verlängerung nach
dem Attentat, bei dem 84 Menschen
starben, angekündigt, während
zuvor noch die Rede davon war,
dass der Ausnahmezustand Ende
Juli auslaufen solle. Er ermöglicht
unter anderem Ausgangssperren,
Wohnungsdurchsuchungen ohne
richterlichen Beschluss und Hausarrest ohne Urteil. Die Nationalversammlung sollte in der Nacht zum
Mittwoch über die Verlängerung
abstimmen, der Senat beschäftigt
sich heute mit der Vorlage. (AFP/jW)
BRITISH MINISTRY OF DEFENCE/TAM MCDONALD/EPA/DPA-BILDFUNK
London: Unterhaus beschließt
Programm zur Erneuerung der britischen
Atomstreitkräfte. Mehrheit der LabourAbgeordneten stimmt mit Ja.
Von Arnold Schölzel
Paris verlängert
­Ausnahmezustand
Siehe Seite 6
Ihrer Majestät U-Boot »Vengeance« mit atomar bestückten Trident-Raketen bei der Einfahrt in die schottische Basis Faslane am 7. September 2007
sagen: Der entscheidende Punkt von
Abschreckung ist, dass unsere Feinde
wissen müssen, dass wir darauf vorbereitet sein würden, sie nutzen«.
Für das Aufrüstungsprogramm
stimmten fast die gesamte Fraktion
der Konservativen Partei und etwa 140
der oppositionellen Labour-Abgeordneten, das ist mehr als die Hälfte.
Labour-Chef Jeremy Corbyn, der sich
vehement gegen die Entschließung
aussprach, folgten nur ungefähr 40
Abgeordnete. Außerdem votierten
die Abgeordneten der SNP und die
Liberalen mit Nein. 41 Labour-Abgeordnete nahmen an der Abstimmung
nicht teil. Diese zeigte insofern erneut
den tiefen Riss, der durch die LabourPartei geht.
May setzte sich in ihrer Rede für
die atomare Abschreckung ein. Diese
sei »zentraler Teil der nationalen Sicherheit und Verteidigung« Großbritanniens. Sie behauptete: »Wir können
unsere ultimative Absicherung nicht
aufgrund eines unangebrachten Idealismus aufgeben. Das wäre ein waghalsiges Glücksspiel«. Gegnern der atomaren Bewaffnung warf sie vor, »die
Feinde des Landes« zu verteidigen.
Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte dagegen die Abrüstung des britischen
Atomwaffenarsenals und bezeichnete
nukleare Abschreckung als »Drohung
mit Massenmord« – zum Unmut vieler
seiner Fraktionskollegen. Gegenwärtig
verfüge die britische Armee über 40
Sprengköpfe, von denen jeder achtmal
so stark sei wie die Atombombe, die
1945 in Hiroshima 140.000 Menschen
tötete. Er fragte: »Welcher Bedrohung
sehen wir uns gegenüber, die der Tod
von einer Million unschuldiger Menschen abschrecken würde?« Die Atomwaffen hätten weder den »Islamischen
Staat« noch die Grausamkeiten Saddam Husseins, Kriegsverbrechen auf
dem Balkan oder den Völkermord in
Ruanda gestoppt.
Corbyn steht seit Wochen unter gro-
ßem Druck in der eigenen Fraktion. Er
gilt vielen Abgeordneten der LabourPartei als zu links. Erst im Spätsommer 2015 war er aber von einer großen
Mehrheit der Mitglieder ins Amt gewählt worden. Inzwischen steuert die
Partei auf eine erneute Urabstimmung
über das Amt des Vorsitzenden zu. Als
mögliche Herausforderer werden derzeit die Abgeordneten Angela Eagle
und Owen Smith gehandelt.
Der Termin der Abstimmung über
die Erneuerung der Atomwaffen war
noch vom früheren Premierminister
David Cameron angesetzt worden mit
dem erklärten Ziel, die Spaltung von
Labour zu vertiefen und zugleich die
Geschlossenheit der konservativen Partei zu demonstrieren.
Großbritannien verfügt über vier
Atom-U-Boote der Vanguard-Klasse.
Jeweils eines der Schiffe befindet sich
seit 1969 ständig auf hoher See. Sie sollen bis 2030 durch Nachfolgermodelle
ersetzt werden.
Bahnreisende mit Axt schwer verletzt
Würzburg: Amoklauf in Regionalzug. Innenminister bezweifelt Kontakt des Attentäters zu Islamisten
E
in Jugendlicher hat am Montag
abend in einem Regionalzug in
Bayern andere Fahrgäste mit
einem Messer und einem Beil attackiert. Nach Angaben eines Polizeisprechers wurden bei dem Angriff vier
Personen, die als Touristen aus der
chinesischen Sonderverwaltungszone
Hongkong in Deutschland unterwegs
sind, schwer und eine weitere leicht
verletzt. »Es ist nicht auszuschließen,
dass einige der Schwerletzten wirklich
sich in Lebensgefahr befinden«, sagte
der bayerische Innenminister Joach-
im Herrmann (CSU) am Montag der
ARD. Er sprach von einem Angriff in
einem Zug zwischen Ochsenfurt und
Heidingsfeld.
Der Angreifer habe in einer Pflegefamilie in Ochsenfurt gelebt. »Es
handelt sich bei dem Täter um einen
17jährigen Afghanen, der sich als sogenannter unbegleiteter Minderjähriger seit ein paar Monaten im Landkreis Würzburg aufgehalten hat«, sagte der Minister in München. Nach dem
Angriff sei der Zug im Würzburger
Vorort Heidingsfeld gestoppt worden.
»Der Täter hat dort den Zug verlassen
und ist dann durch den Ort unterwegs
gewesen«, so Herrmann. Dabei wurde
er von einem Sondereinsatzkommando der Polizei, das sich »zufällig« in
der Gegend aufgehalten habe, erschossen.
Herrmann und die Gewerkschaft
der Polizei (GdP) verteidigten die
Schüsse durch Polizisten. Äußerungen
der Grünen-Politikerin Renate Künast,
die die Notwendigkeit tödlicher Gewalt am Montag über Twitter in Zweifel gezogen hatte, nannte Herrmann
»merkwürdige Kommentierungen«.
Der Attentäter von Würzburg soll
keine Kontakte zum »Islamischen
Staat« (IS) gehabt haben. Es hätten keine Indizien gefunden werden
können, die auf eine Verbindung des
Mannes zu islamistischen Netzwerken
hindeuteten, teilte Herrmann mit. Die
IS-nahe Agentur Amak hatte wenige
Stunden nach dem Angriff gemeldet,
der Attentäter sei ein »Soldat« des
IS. Amak verbreitete im Internet ein
Video, das den Angreifer vor dem Attentat zeigen soll. (Reuters/dpa/jW)
Neun Militärtransporter
bestellt – fünf geliefert
RALF HIRSCHBERGER/DPA-BILDFUNK
D
ie neue konservative britische
Premierministerin Theresa May erklärte am Montag
abend bei ihrer ersten Rede im Londoner Unterhaus, sie würde, wenn nötig,
einen Atomschlag autorisieren. Im Anschluss an eine fünfstündige Debatte
votierte die Parlamentskammer mit 472
zu 117 Stimmen für das Programm zur
Erneuerung der britischen Atom-UBoot-Flotte. Dessen Kosten belaufen
sich nach Medienberechnungen auf
rund 40 Milliarden Pfund (47 Milliarden Euro).
May, die heute in Berlin zum Antrittsbesuch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet wird,
antwortete auf Nachfrage des Abgeordneten der Scottish National Party (SNP), George Kerevan, ob sie
darauf vorbereitet sei, den »Atomknopf« zu drücken, »der 100.000
unschuldige Menschen, Frauen und
Kinder töten kann«: »Ja. Und ich
muss dem ehrenwerten Gentleman
Berlin. Neuer Ärger mit dem Transportflugzeug A 400 M der Bundeswehr: Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigte am
Dienstag, dass der Hersteller Airbus
in diesem Jahr nur fünf statt der
vereinbarten neun Maschinen nach
Deutschland liefern wolle. Das gehe
aus einem Plan hervor, den Airbus
den beteiligten Nationen am 7. Juli
vorgestellt habe. Die erste der fünf
Maschinen war am Mittwoch vor
einer Woche auf dem Fliegerhorst
Wunstorf (Niedersachsen) eingetroffen.
Insgesamt hat die Bundeswehr
bisher vier A 400 M erhalten. Die
erste Maschine war im Dezember
2014 übergeben worden – nach jahrelanger Verspätung. Hintergrund
für die Verzögerungen könnten
die von Airbus angekündigten
Nachrüstungen sein. Dabei geht es
vor allem um Triebwerksprobleme
und Risse am Rumpf. Insgesamt
hat Deutschland 53 Maschinen des
Typs bestellt. (dpa/jW)
wird herausgegeben von
1.862 Genossinnen und
Genossen (Stand 4.7.2016)
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