FEUILLETON 37 Neuö Zürcör Zäitung Donnerstag, 21. Juli 2016 Das letzte grosse Lächeln Zum Tod von Dimitri, einem schwebenden Poeten unter den Clowns Der berühmteste Schweizer Clown ist in der Nacht auf Mittwoch im Alter von achtzig Jahren gestorben. Die Poesie seines Werks wird in Erinnerung bleiben wie sein lachender Mund. Clown Hall of Fame in den USA ebenso wie vor vierzig Jahren mit dem HansReinhart-Ring in der Schweiz. Die abgründigen Seiten der Clownfigur interessierten Dimitri kaum, ohne dass er dem rein Gefälligen verfallen wäre. Auch privat war er, kulinarisch dem Süssen zugeneigt, meist fürs Lachen und «stets für das Gute», wie er sagte. In politischen Debatten allerdings ist das Gute keine fixe Grösse: Ab und zu eckte er an, wenn er sich zu Abstimmungsvorlagen äusserte – unlängst etwa für, dann gegen die zweite Gotthardröhre. Seiner Frau Gunda Salgo, die ihn nicht nur zu manchem Interview begleitete, war er 1960 nähergekommen, beim ersten Gastspiel in Zürich. Im Folgejahr wurde ebenda geheiratet. Und reich ist die Frucht, nicht nur des Leibes: Im Centovalli, wo sie seit Jahrzehnten lebten, bauten die zwei das Teatro Dimitri auf und vor gut vierzig Jahren die Scuola Dimitri in Verscio. Diese ist heute der Fachhochschule der italienischen Schweiz angegliedert, und ihre Grundausbildung für Bewegungstheater sucht europaweit ihresgleichen. URS BÜHLER Wer ihn auf der Bühne erlebte, erlag für Minuten oder für einen Abend der Illusion der Unsterblichkeit: Wenn Dimitri trippelte, schien er das Geheimnis der ewigen Leichtigkeit in sich zu tragen, nicht nur wegen des geringen Körpergewichts. Selbst wenn dieser virtuose Dompteur der Musikinstrumente und seiner eigenen Gliedmassen sich in Seilen verhedderte oder mit den Tücken eines Klapp-Liegestuhls kämpfte, liess er dies leicht aussehen. Seine Kunstfiguren bildeten das ganze Menschsein ab, ein Leben voller Fussangeln und Schmetterlinge, in dieser Schwebe, die nur ein poetischer Geist schafft: Er vermochte einem einzigen Besenstiel mehr Poesie abzugewinnen als andere einem ganzen Blumenmeer, dem Verzehr einer Banane mehr Komik als sogenannte Comedians einer Tischbombe voller Scherze. «Gute Clowns sind unsterblich» Ein Leben kreist um die Kunst Der in Ascona aufgewachsene Dimitri Jakob Müller, wie der berühmteste helvetische Clown der vergangenen paar Jahrzehnte bei seiner Geburt 1935 hiess, war ein Besessener ohne Verbissenheit. Sein Leben kreiste bis zuletzt um seine Kunst, «vom Aufstehen bis zum Zubettgehen», wie er im NZZ-Interview kurz vor dem achtzigsten Geburtstag sagte. Die unerhörte Beständigkeit und Ausdauer, mit der er seinen Beruf versah, war wie die stupende Vitalität und Körperbeherrschung auch ein Lohn des Fleisses, samt dreistündigem Training pro Tag im hohen Alter. Vor einigen Jahren brach er sich auf der Bühne einen Lendenwirbel, was ihn in der Folge sachter, aber umso poetischer agieren liess. Allein letztes Jahr bestritt er über hundert Auftritte, unter anderem mit einem einstündigen Soloprogramm. Und ob man ihn nun im Kirchgemeindehaus oder im gewichtigeren KKL in Luzern sah, er wirkte nach fast sechzigjähriger Bühnenpräsenz verblüffend unverbraucht. Auf ewig hätte der Blick verweilen können auf diesem Gesicht der hundert Fältchen, die doch eine Geschichte der bewahrten Kindheit zu erzählen schienen, auf den kleinen Augen voll warmem Schalk und auf dem äusseren Dimitri im Jahr 1966 – in den Anfängen seiner Bühnenlaufbahn, noch vor den Zirkus-Gastspielen. Markenzeichen, in dem sich das Innere spiegelte: Die Natur hatte ihm dieses kolossale, auf der Bühne meist stumme Maul geschenkt – und mit diesem ein Lächeln, das sonst nur auf Kinderzeichnungen so unfassbar gross ist und auf Leinwänden heutzutage den Einsatz von Digitaltechnik nahelegen würde. Doch dieser Mund war sehr naturgegeben, er gehörte einem, dessen Freundlichkeit und Bescheidenheit bei allem Wissen um eigene Fähigkeiten so ein- drücklich waren wie sein Können. Schon als Kind hatte er entdeckt, dass Erfolg hat, wer andere zum Lachen bringt. Mit sieben Jahren fasste er beim Anblick des Schweizer Clowns Andreff den Berufswunsch, den er nicht mehr aus den Augen verlor. Zwar machte der Sohn einer Kunsthandwerkerin und eines Bildhauers sowie Architekten eine Töpferlehre, landete aber bald in Paris, wo ihn unter anderen der legendäre Pantomime Marcel Marceau ausbildete. HEINZ BAUMANN / COMET PHOTO / ETH-BILDARCHIV 1959, im Todesjahr des grossen Grock, präsentierte Dimitri in Ascona als 24-Jähriger sein erstes Soloprogramm. In Tourneen mit dem Circus Knie, bei dem er 1970 mit einer Elefantennummer debütierte, wuchs sein Ruhm. Und diesen begründete schon früh Max Frisch mit, der später ein Freund wurde: «Schaut ihn an, sage ich, das ist ein wirklicher Clown», schrieb dieser über Dimitri. Geehrt wurde das grosse Talent mit der Aufnahme in die International Drei von Dimitris fünf Kindern sind Artisten geworden. In der jüngsten Familienproduktion, «DimiTrigenerations», war neben zwei Töchtern erstmals auch ein Enkel einbezogen. Zuletzt wurde sie am Montag im Teatro Dimitri aufgeführt. Niemand ahnte, dass es das allerletzte Mal sein würde: Am Mittwoch hat das Teatro gemeldet, der Künstler sei in der Nacht nach kurzem Unwohlsein überraschend gestorben. Am Wochenende soll an einem noch nicht bestimmten Ort in der Region Locarno eine öffentliche Gedenkfeier stattfinden. Und wenngleich er sich nach eigenen Aussagen von jeher häufig mit der Endlichkeit des Lebens befasste: Die in Online-Medien verbreitete Schlagzeile mag in ihrer Härte so gar nicht passen zu einem Verzauberer, an dem so vieles sanft zu sein schien: «Dimitri tot». Nicht seine Karriere, aber so manches Vorhaben bleibt nun unvollendet – etwa ein seit langem geplanter Stummfilm, der ihn als kauzigen Bahnhofvorstand hätte zeigen sollen und kurz vor Drehbeginn stand. Dass nun aber die Rückblenden auf Dimitris Lebenswerk so manches Gesicht in der Trauer kurz strahlen lassen, passt zu einem seiner liebsten Berner Sprichwörter: «D s Brieggeli u d s Lächeli si zämen i eim Chächeli.» Und wie hatte er es in einem der letzten Interviews formuliert? «Gute Clowns sind zeitlos und unsterblich.» Querfeldein, durch Farnkraut und Ginster Gustave Flaubert und Maxime du Camp stromern durch die Bretagne THOMAS LAUX Lust auf Abenteuer, Suche nach Unverfälschtem: Am Anfang der Reise, die im Mai 1847 die beiden sich als «Monaden» bezeichnenden Schriftsteller Gustave Flaubert und Maxime du Camp anvisieren, zeigt sich eine immense Vorfreude. Beide sind erst Mitte zwanzig. Ganz offensichtlich geht es ihnen bei dem drei Monate währenden Trip in die Bretagne, anders als der französischen Reiseliteratur seit Montaigne oder Voltaire, nicht so sehr um ein Anliegen im Sinne der Aufklärung. Die beiden Freunde hatten schon des Öfteren zusammen Reisen unternommen (und sollten es nach der Bretagne-Reise auch immer wieder tun). Gerade und ungerade Du Camp, der sich später als ein Kenner des Vorderen Orients profilieren sollte und diesen (u. a. die Türkei, Syrien, Ägypten, Nordafrika) sogar mit offiziellen Regierungsaufträgen besuchte, war indes immer auch gerne allein unterwegs. Seine Reiseberichte veröffentlichte er regelmässig in der «Revue de Paris», mit ihnen wurde er auch einer etwas breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im Jahr 1847 stand «nur» eine Reise ins französische Outback auf dem Programm. Die beiden Schriftsteller beschlossen, jeder solle alternierend zu Wort kommen. So verfasste du Camp die geraden, Flaubert die ungeraden Kapitel. Doch bevor sie tatsächlich in der Bretagne ankommen, sieht man sie erst einmal tagelang per Kutsche Richtung Westen an der Loire entlangfahren. Ihre Eindrücke spiegeln eine gewisse Lässigkeit, es zeigt sich eine Unaufgeregtheit bei gleichzeitiger Neugierde auf alles, was sich dem Auge an Sehenswertem offenbart – und da stechen vor allem Kirchen mit ihrer Architektur hervor. Die reisenden Schriftsteller drosseln immer wieder das ohnehin gemächlich erscheinende Tempo und geben sich der Kontemplation hin, schwadronieren, räsonieren oder meckern drauflos, wenn ein Bauwerk ihnen zu simpel oder im Gegenteil zu überladen daherkommt. Keine Meinungsverschiedenheiten, bestenfalls Differenzen im Geschmack. Schaulustig werden die Loire-Schlösser inspiziert, etwa das Schloss von Chenonceaux, das vor allem Flaubert beeindruckt. Beide ergötzen sich am Flusslauf der Loire und heben ihn gegen den von Seine und Rhone hervor. Menhire in Carnac Ein weiteres Augenmerk gilt den durchquerten Städten. Eine Stadt wie Ancenis kommt beispielsweise nicht gut weg: «Die Strassen sind hässlich, die Häuser niedrig und die Frauen erbärmlich.» Es gibt ätzende Seitenhiebe auf manch einen architektonischen Auswuchs: «(. . .) überladen von dicken Ziselierungen» sei die Kathedrale von Nantes, plump sei das «sterile Geschnörkel der Spätgotik», die eisernen Weinblätter, die ein männliches Geschlecht kaschieren – für Flaubert sind das «schändliche metallische Unterhosen», sie erscheinen ihm nachgerade als «Apparaturen gegen Onanie». Als die beiden dann tatsächlich mitten in der Bretagne angelangt sind und immer noch Hunderte Kilometer an Reise vor sich haben, fällt auf, wie die überwiegend ästhetisch-kritischen Betrachtungen zugunsten einer eher analytisch-detaillierten Betrachtung von Natur und Kultur abnehmen. Die «vernichtende Menge keltischer Monumente» bei Carnac sieht du Camp kritisch, Flaubert hingegen scheint sie zu gefallen – vor allem aber mokiert er sich über gängige Ansichten hinsichtlich ihres Ursprungs oder Zustandekommens. Die im bretonischen Volk verortete und mythisierte Erklärung, wonach Menhire versteinerte Soldaten darstellen, taugt für Flaubert «höchstens für Trottel, für kleine Kinder und für Dichter». Derart vorgetragene Aperçus treiben diesen Reisebericht immer wieder launig voran, profilieren ihn gleichzeitig auch in der Charakterisierung ihrer Verfasser. Wer die Bretagne kennt, dem wird im Übrigen auffallen, wie wenig sich im Kern in den fast 170 Jahren, die seit diesem Reisebericht vergangen sind, verändert hat. Vor allem der infrastruk- turelle Mangel ist, zumal auf den Inseln, stellenweise noch markant, allen erfolgten touristischen Zugeständnissen zum Trotz – und so erscheint dieser Reisebericht oft auf stupende Weise aktuell. Als sich ihr «phantastisches Nomadenleben» nach drei Monaten dem Ende nähert, überkommt die beiden Freunde fast zur eigenen Überraschung eine starke Wehmut – sie verlassen die Bretagne «mit Bitterkeit». Jetzt, da sie in der Normandie und bald auch zurück in Paris sind, müssen sie sich eingestehen, dass sie dem Charme dieses Landstrichs gänzlich erlegen sind. Diese auch ästhetisch ansprechende Ausgabe kommt in einer eleganten Übersetzung daher – ein Buch, das natürlich für Reisende geeignet erscheint, die genau dieses «Ende der Welt» (Finistère) im Visier haben. Gustave Flaubert und Maxime du Camp: Über Felder und Strände. Eine Reise in die Bretagne. Aus dem Französischen von Cornelia Hasting. Dörlemann-Verlag, Zürich 2016. 447 S., Fr. 45.–.
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