Neues Deutschland

Wankendes Königreich
Knausernde Geberländer
Nach dem Brexit fordern Schotten und
Nordiren die Unabhängigkeit. Seite 6
UNO warnt vor einem Rückschlag bei
der Aids-Bekämpfung. Seite 9
Kriegerin
des HipHop
›Ni una más‹«
(Nicht eine mehr):
Die Guatemaltekin
Rebeca Lane ist
eine lautstarke
Stimme gegen
Frauenmorde
und für Frauenrechte. Seite 10
Foto: 123rf/Robertas Pezas
Dienstag, 19. Juli 2016
STANDPUNKT
Flügelschlagen
Uwe Kalbe zur Empörung in der
EU über Ankaras Gegenputsch
Freunde macht sich Recep Tayyip
Erdogan gerade nicht in der EU.
Namentlich Konservative ergreifen die Gelegenheit beim Schopf
und kramen ihre Vorbehalte gegen eine EU-Mitgliedschaft der
Türkei heraus. Recht haben sie
alle. Damit jedenfalls, dass Ankara
den Ruf der Gemeinschaft erfolgreicher ramponieren würde als
alle Brexit-Freunde zusammen.
Und Erdogans Gedankenspiele zur
Einführung der Todesstrafe provozieren nun den mahnenden
Zeigefinger aller EU-Wertebewahrer. Dabei: Menschenleben
sind es nicht, deren Opfer den Bestand der Gemeinschaft normalerweise ernsthaft erschüttert.
Nicht einmal tausendfach, wie
sich an den ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer sehen lässt.
Die Erkenntnis, dass schwarze
Listen in Ankara offenbar nur auf
ihre Vollstreckung warteten, die
Entlassung eines Viertels der
Richterschaft, von 13 000 Staatsbediensteten müsste allein Grund
genug sein, Ankara den Rücken zu
kehren. Doch wie kehrt man einem Nachbarn auf der Landkarte
den Rücken? Die EU wird ihr Gesicht in Kompromissen zu wahren
versuchen; mit der Warnung vor
einer Einführung der Todesstrafe
hat sie eine Linie gezogen, die zu
überschreiten Erdogan wahrscheinlich ernsthaft übelgenommen würde. Persona non grata
würde er trotzdem nicht. Keiner
wird am Flüchtlingsdeal rütteln,
inzwischen Modell zur Flüchtlingsabwehr, erst recht niemand
wird die Position der Türkei an
der Südostflanke der NATO in
Frage stellen – da ist schon Washington vor. Wo die Todesstrafe
bisher ja auch keine europäische
Empörung hervorruft.
UNTEN LINKS
Sommerzeit, Reisezeit. Freuen
Sie sich auch schon auf den Urlaub? Endlich einmal alle Viere
von sich strecken und die Welt,
wie sie ist, beiseiteschieben! Wohin soll es denn gehen? Naherholung in der Sächsischen Schweiz?
An den Stränden Tunesiens die
Sonne auf den müden Wanst
brennen lassen und in der Medina
von Sousse auf Schnäppchenjagd
gehen? In Italien oder Kreta den
Ausblick aufs Mittelmeer genießen und mit dem Fernglas die
Schiffe beobachten? An der Côte
d’Azur das Savoir-vivre üben und
in Nizza über die Promenade des
Anglais flanieren? Mögen Sie
Städtereisen in große Metropolen? Istanbul soll schön sein um
diese Jahreszeit. Paris, die Stadt
der Liebe! Brüssel! London! Vielleicht geht es auch weit nach
Übersee. Einmal höchstselbst den
American Way of Life abschreiten, das wäre doch was! Vorfreude, schönste Freude. Auf gepackten Rollkoffern in der Abflughalle
sitzen und endlich die Sorgen
Sorgen sein lassen. Hauptsache,
das Wetter spielt mit. mha
ISSN 0323-3375
71. Jahrgang/Nr. 167
Bundesausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
Foto: Rotmi Enciso
Ein Kunde für das Weiße Haus
WADA: Russland
lässt dopen
Trump greift mit der Nominierung durch die Republikaner nach der Präsidentschaft
Systematischer Betrug in Winter- und
Sommersportarten festgestellt
Toronto. Die Ermittler der Welt-AntidopingAgentur WADA werfen Russland staatlich gesteuertes Doping vor. Der am Montag in Toronto vorgelegte 97-seitige Untersuchungsbericht führe zahlreiche Belege für die Verwicklung von staatlichen Stellen in den Betrug auf, sagte WADA-Chefermittler Richard
McLaren. Darin sei auch Russlands Sportministerium verwickelt. Die WADA forderte das
IOC auf, alle russischen Sportler von den
Sommerspielen in Rio auszuschließen.
Im Report ist von systematischem Doping
zwischen 2011 und 2015 die Rede. Demnach
habe das Sportministerium die Manipulationen mit Hilfe des Geheimdienstes FSB »gelenkt, kontrolliert und überwacht«. Mindestens 643 Dopingproben russischer Athleten
seien manipuliert worden. Mehrere Dutzend
Sportler der Sportgroßmacht, darunter mindestens 15 Medaillengewinner, sollen 2014
bei Winterolympia in Sotschi gedopt an den
Start gegangen sein. Auch in 21 Sommersportarten wurden Belege für Vertuschung
von positiven Proben gefunden. nd Seite 19
Baton Rouge: Drei
Polizisten ermordet
Afroamerikanischer Ex-Soldat wurde
nach der Tat selbst erschossen
Gewohnt selbstgewiss geht Trump in die letzte Runde des Kampfes um die US-Präsidentschaft.
Cleveland. Der erzkonservative Immobilienmogul Donald Trump will sich allen Zweiflern zum Trotz das Weiße Haus in Washington holen. Mit der als sicher geltenden Nominierung als Präsidentschaftskandidat der USRepublikaner geht er am Dienstag bei deren
Parteitag in Cleveland/Bundesstaat Ohio ins
Finale gegen die als Bewerberin der Demokraten ebenso sicher geltende Ex-Außenministerin Hillary Clinton. Sie soll Ende des Monats bei einem Parteitag in Philadelphia nominiert werden.
In Cleveland rüsteten sich die Sicherheitskräfte für drohende gewalttätige Ausschrei-
tungen. Zahlreiche Gruppierungen wollen in
der 400 000-Einwohner-Stadt gegen Trump
demonstrieren, aber auch Anhänger des
Rechtspopulisten werden auf die Straße gehen. Die Sorgen wurden dadurch verstärkt,
dass in Ohio das offene Tragen geladener Waffen erlaubt ist. Kilometerlange Stahlbarrieren
wurden in der Innenstadt errichtet, Tausende
Polizisten sind im Einsatz. Demonstrationen
dürfen nur in festgelegten Zonen stattfinden.
Hubschrauber kreisen über der Stadt.
Auf der Rednerliste des Parteitages stehen
nur wenige prominente Republikaner. Einige
Parteipromis wie die früheren Präsidenten
Foto: Reuters/Carlo Allegri
George Bush und George W. Bush sowie die
vormaligen Präsidentschaftskandidaten Mitt
Romney und John McCain bleiben fern. Auf
die einhellige Unterstützung konservativer
Großspender kann Trump auch nicht hoffen.
So zogen sich die Brüder Charles und David
Koch, die zu den Reichsten der Welt zählen
und ein ganzes Netzwerk an Konservativen
hinter sich versammelt haben, bereits aus dem
US-Wahlkampf zurück. Die Energiemagnaten, die beim Aufstieg der »Tea Party« wesentlich mitmischten, propagieren derzeit lieber einen freundlichen Marktradikalismus.
nd/Agenturen
Seiten 2 und 3
EU warnt Ankara vor Todesstrafe
Bundesregierung sieht Flüchtlingsabkommen aber bislang nicht gefährdet
In Ankara wird nach dem gescheiterten Putschversuch über
eine Wiedereinführung der Todesstrafe nachgedacht. Die EU
warnt, dies würde den Beitritt
des Landes unmöglich machen.
Berlin. Die Bundesregierung hat
signalisiert, dass eine Wiedereinführung der Todesstrafe in der
Türkei das Ende der Gespräche
über eine Mitgliedschaft in der
Europäischen Union zur Folge
hätte. »Deutschland und die EU
haben eine klare Haltung: Wir
lehnen die Todesstrafe kategorisch ab«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in
Berlin. »Die Einführung der Todesstrafe in der Türkei würde
folglich das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen bedeuten«, so
Seibert. »Kein EU-Mitglied kann
die Todesstrafe haben.«
»Rechtsstaatliche Kriterien, das
Gebot der Verhältnismäßigkeit«
müssten weiter Beachtung finden,
mahnte Steinmeier am Rande ei-
nes Treffens der EU-Außenminister in Brüssel. »Alle Verantwortlichen in der Türkei müssen sich an
die demokratischen Spielregeln
halten«, sagte auch ein Sprecher
des Auswärtigen Amts in Berlin.
Steinmeier telefonierte demnach
am Sonntag mit seinem türkischen Kollegen Mevlut Cavusoglu.
Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Außenminister John Kerry anlässlich des Außenministertreffens in Brüssel
wies auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini darauf
hin, dass eine Mitgliedschaft der
Türkei in der Europäischen Union
bei Einführung der Todesstrafe
unmöglich würde. »Kein Land
kann EU-Mitglied werden, wenn
es die Todesstrafe einführt«, erklärte Mogherini. Außerdem sei
die Türkei als Mitglied des Europarats »gehalten, sich an die Europäische Konvention über Menschenrechte zu halten. Das ist
auch ganz eindeutig, so wie bei
der Todesstrafe«.
Tatsächlich würde die Türkei in
Konflikt mit dem Europarat geraten, eine von der EU unabhängige
internationale Organisation mit
Sitz in Straßburg. Der Europarat,
»Die Einführung der
Todesstrafe in der
Türkei würde
folglich das Ende der
EU-Beitrittsverhandlungen
bedeuten.«
Regierungssprecher
Steffen Seibert
dem neben den EU-Staaten auch
andere Länder angehören, neben
der Türkei etwa auch Russland,
entwickelte die Europäische Menschenrechtskonvention, in deren
Zusatzprotokollen ein Verbot der
Todesstrafe vereinbart wurde.
Nach dem am Wochenende
niedergeschlagenen Putsch von
Teilen des türkischen Militärs
wurden tausende Menschen festgenommen. Repressalien trafen
neben Militärs auch tausende
Richter,
Staatsanwälte
und
Beamte. Seibert sprach von »abstoßenden Szenen der Rache und
der Willkür« gegen Soldaten, die
es nach dem Putschversuch gegeben habe. Vorerst spricht sich
die Bundesregierung aber dafür
aus, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei weiterzuführen. »Ich glaube, dass es auch im
Interesse der Türkei ist, diesen
Weg erfolgreich zu Ende zu führen«, so das Außenamt. Bislang
gebe es keinen Grund, vom EUFlüchtlingsabkommen mit der
Türkei abzurücken. Dieses liege
im beiderseitigen Interesse, erklärte Seibert. Bislang lägen keine Informationen vor, dass die
Türkei ihre Verpflichtungen aus
dem Abkommen nicht einhalte.
nd/Agenturen
Seite 5
Baton Rouge. Nach den weiteren Morden an
Polizisten in den USA ist der Täter als afroamerikanischer Marine-Veteran identifiziert
worden. Laut Militär-Personalakte des Mannes hatte der Unteroffizier fünf Jahre als Spezialist für Datennetzwerke gedient – davon
gut ein halbes Jahr in Irak. Der Täter hatte
am Sonntagmorgen (Ortszeit) in Baton
Rouge im Bundesstaat Louisiana das Feuer
auf mehrere Polizisten eröffnet und drei von
ihnen getötet. Drei weitere waren verletzt
worden, einer von ihnen schwebte nach Angaben der Polizei noch in Lebensgefahr.
Der Schütze wurde schließlich von Polizisten getötet. Er beging die Tat an seinem
29. Geburtstag, wie US-Medien unter Berufung auf die Polizei berichteten. Demnach
kam er aus Kansas City im Bundesstaat Missouri – mehr als 1200 Kilometer von Baton
Rouge entfernt. Präsident Barack Obama verurteilte die Schüsse in Baton Rouge als »feige« Tat und rief die US- Amerikaner erneut
zu einem Schulterschluss gegen Gewalt auf.
dpa/nd
Seite 3
Auto fährt für einen
Moment selbst
Minister Dobrindt will Gesetz ändern
Berlin. Bundesverkehrsminister Alexander
Dobrindt (CSU) treibt die Entwicklung computergesteuerter Autos weiter voran. In einem Gesetzentwurf sollen rechtliche Grundlagen für das automatisierte Fahren geschaffen werden, wie das »Handelsblatt«
(Montag) berichtet. Demnach sollen künftig
Fahrzeuge betrieben werden dürfen, »die für
eine bestimmte Zeit und in bestimmten Situationen« die Kontrolle übernehmen. Erlaubt sein solle, »dass sich der Fahrzeugführer während der Fahrzeugführung mittels
automatisierter Fahrfunktion vom Verkehrsgeschehen und der Fahrzeugsteuerung abwenden darf«.
Das Ministerium äußerte sich vorerst nicht
zu inhaltlichen Details. »Der Gesetzentwurf
befindet sich in der internen Abstimmung«,
sagte ein Sprecher am Montag in Berlin.
Vor wenigen Wochen hatte in den USA ein
Unfall mit einem im »Autopilot« fahrenden
Tesla für Aufsehen gesorgt. Dabei war das
Auto vom Computer ungebremst in einen Lkw
gesteuert worden. Der Tesla-Fahrer starb.
nd/dpa
Seiten 4 und 9