Manuskript Beitrag: Der Putsch in der Türkei – Die Folgen für Deutschland Sendung vom 19. Juli 2016 von Christian Esser, Anna Feist, Jörg Göbel, Michael Haselrieder, Herbert Klar, Asli Özarslan und Dominik Müller-Russell Anmoderation: Als der Putsch begann, sahen Beobachter von außen genau zwei Möglichkeiten. Entweder, das Militär gewinnt, die Folge: Unterdrückung. Oder Präsident Erdogan gewinnt, die Folge: Unterdrückung. So oder so wäre die Demokratie bedroht - und so ist es auch gekommen. Denn obwohl auch viele Oppositionelle den Putsch verurteilten, zieht Erdogan die von ihm angekündigten „Säuberungen“ gegen alle möglichen Gegner durch. „Säuberungen“, schon das Wort beschmutzt demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien. Und es macht vielen auch in Deutschland Angst - wie unsere Reporter zeigen. Text: Gelsenkirchen-Hassel, am vergangenen Samstag. 150 ErdoganAnhänger attackieren einen Jugendtreff, die der Gülen-Bewegung nahe steht - laut Erdogan ist sie verantwortlich für den Putsch. Auch drei Tage nach dem Überfall, sitzt der Schock noch tief: O-Ton Ismail Aktitiz, Jugendtreff Hassel: Da fühlt man sich natürlich betroffen. Die Hetze geht weiter im Netz. Und gerade jetzt, gerade diese ganze Propaganda, die ähnelt eigentlich den 30er Jahren der deutschen Geschichte, auf jeden Fall. Der türkische Konflikt - längst hat er Deutschland erreicht. Istanbul. Freitagabend, kurz vor 23 Uhr: Soldaten sperren die Brücke über den Bosporus. Auf dem Taksim-Platz bewachen Militärs das Denkmal der Republik. Kenan Berzan war Augenzeuge. Der Dokumentarfilmer lebt in Berlin, arbeitet derzeit in Istanbul. Er filmte mit seinem Handy die Ereignisse auf dem Taksim-Platz. O-Ton Kenan Berzan, Augenzeuge: Alle Soldaten waren bewaffnet. Und nach einigen Momenten hat man Hubschrauber und auch Militärflugzeuge, die nennt man F16 die sind richtig tief geflogen, es hat sich die Erde bewegt. Und danach gab es Schießereien. Der Putsch scheitert. Erdoğan-Anhänger strömen zu Tausenden auf die Straßen, erobern das Denkmal auf dem Taksim-Platz zurück. Imame rufen die ganze Nacht zur Gegenwehr auf. O-Ton Cigdem Akyol, Erdoğan-Biografin: Das waren Imame, die halt auch zum Widerstand aufgerufen haben gegen die Putschisten, aber auch zu Solidarität mit dem Staatspräsidenten. Auch Cigdem Akyol war während des Putschversuchs in Istanbul, lebt in Deutschland. Sie hat dieses Jahr eine Biografie über Erdoğan veröffentlicht. O-Ton Cigdem Akyol, Erdoğan-Biografin: Erdoğan will 2023 immer noch als Staatspräsident die türkische Republik lenken, denn 2023 feiert die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen, und dann würde er in einem Atemzug mit dem Staatsgründer Atatürk genannt werden. Erdoğan will ein Präsidialsystem mit umfassenden Vollmachten und da ist er gerade auf der Zielgeraden. Der Putsch, der hilft ihm dabei. Erdoğan ruft auf zum Kampf, seine Anhänger schlagen zu. Der Putschversuch kostet fast 300 Menschen das Leben. Die Erdoğan-Regierung spricht trotzdem von einem „Festtag der Demokratie“. O-Ton Recep Tayyip Erdoğan, Präsident Türkei: Dieser Aufstand ist ein großes Geschenk Gottes. Das ist die Möglichkeit, dass wir unsere bewaffneten Kräfte, die eigentlich rein sein sollten, säubern können. Über 9.000 Verdächtige hat die Regierung bisher festgenommen, darunter 755 Richter und Staatsanwälte. Zehntausende Beamte werden suspendiert. In Deutschland verurteilt die Bundeskanzlerin den Putsch, vermeidet aber direkte Kritik an Erdoğan: O-Ton Angela Merkel, CDU, Bundeskanzlerin: Deutschland steht an der Seite all derjenigen in der Türkei, die die Demokratie und den Rechtsstaat verteidigen. Abgeordnete der CSU finden da deutlichere Worte: O-Ton Hans-Peter Uhl, CSU, MdB, Auswärtiger Ausschuss Bundestag: Die Türkei nimmt unter Erdoğan einen ganz schlimmen Weg weg von Rechtsstaat, weg von Freiheit, hin zu einem autoritären, autokratischen System, dem Führerprinzip: Führer befiehl, wir befolgen. Wir Deutsche haben hier eine ganz besondere Vergangenheit. Das macht uns sehr nachdenklich. Wir müssen Erdoğan zeigen, dass er auf dem falschen Weg ist. Bei der Kritik bekommt die CSU seltene Unterstützung – von den Linken: O-Ton Sevim Dagdelen, DIE LINKE, MdB, Auswärtiger Ausschuss Bundestag: Mit offensichtlich vorbereiteten Listen macht Erdoğan eine riesen Säuberungswelle in der Türkei, im Staatsapparat, gegen andersdenkende säkulare Kräfte und auch Oppositionelle. Ich finde die Beitrittsgespräche müssen angesichts dieser massenhaften Menschenrechtsverletzungen sofort gestoppt werden, die Bundeswehr muss sofort abgezogen werden, die militärische Kooperation muss beendet werden. Doch die Türkei ist NATO-Mitglied, 105 Atombomben sind dort stationiert. Sie ist EU-Beitrittskandidat und wichtigster Partner beim Flüchtlingsabkommen. O-Ton Hans-Peter Uhl, CSU, MdB, Auswärtiger Ausschuss Bundestag: Eins muss auch klar sein, wenn ich an das Flüchtlingsabkommen denke, der Preis, den wir bezahlen sollten - Visa-Befreiung jetzt und sofort für 75 Millionen Türken - den kann er unter diesen Voraussetzungen nicht erhalten. Hamburg, türkisches Konsulat. Auch hier gehen Erdoğan-Getreue in der Putschnacht auf die Straße: „Allahu Akbar“-Rufe - Gott ist groß. Die Unterstützung für den türkischen Präsidenten religiös aufgeladen, neben der türkischen Fahne die Flagge des Jihad. O-Ton: Adil Yiğit, Journalist: Also, diese schwarze IS-Flagge mit arabischer Schrift und dann noch mit Erdoğan-T-Shirt haben sie dort immer wieder gerufen: „Hoch lebe Erdoğan“ und dann „Allahu Akbar, Allahu Akbar“. An dem Abend waren sie sehr aggressiv. Es war nicht nur gegen Putschisten, auch gegen andersdenkende Personen haben sie drauf gewartet, irgendwie loszugehen. Der Journalist Adil Yiğit hat die Demo beobachtet. Er fühlte sich bedroht, suchte Polizeischutz. Er lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Eine solch aggressive Stimmung in der türkischen Gemeinde habe er noch nicht erlebt. O-Ton: Adil Yiğit, Journalist: In der Türkei Militärputsch. Ich habe die Türkei damals deswegen verlassen. Aber jetzt lebe ich hier in einer Demokratie und hier hast du auch Probleme. Die Menschen, die hier in Deutschland irgendwie leben, sind so aggressiv geworden, und dass sie dann also wirklich weitermachen, ich verstehe das nicht, als wenn die Hand von Erdoğan bis hierher irgendwie kommt. Erdoğan-Anhänger in Deutschland rufen derweil im Netz dazu auf, Gegner zu denunzieren – vor allem die der Gülen-Bewegung: „Wir zeigen alle an, die Fetoyu unterstützen. Ich habe in Hattingen und Bochum angefangen. Es ist die Zeit der Zusammenkunft. Es gibt kein Mitleid mit diesen Leuten.“ Eine Telefonnummer in Ankara liefert er gleich mit. Wir machen den Test und rufen an: O-Ton Mann, Originalton nachgesprochen: Amt des Premierministers. O-Ton Frontal 21: Hallo, ich weiß jetzt nicht, ob das stimmt, aber Freunde von mir haben mir die Nummer gegeben. Kann ich hier GülenSympathisanten anzeigen? O-Ton Mann, Originalton nachgesprochen: Möchten Sie etwas gegen Fetullah Gülen aussagen? O-Ton Frontal 21: Ja, ich habe so etwas gehört - auf Facebook. Die Nummer stimmt. Hier kann man Erdoğan-Gegner denunzieren. Zurück in Gelsenkirchen, heute Vormittag. Die Schäden haben die Betreiber des Jugendzentrums notdürftig repariert. Doch zu ihrem Namen sollen sie nicht mehr stehen. O-Ton Ahmet Özbay, Jugendtreff Hassel: Die Polizei hat uns gebeten, einsichtig zu sein und hier die beiden Werbetafeln runterzunehmen, weil die Protestierer sich davon provoziert gefühlt haben. Für mich ist das ehrlich gesagt schmerzhaft. Erdoğans Aufruf zur Säuberungen – er wirkt bis nach Gelsenkirchen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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