Dr. Frank Meessen, hr 4 Übrigens, Montag, 18. Juli 2016 Der Blick aufs Ganze Ich bin immer wieder erstaunt, was man zu Fuß oder auf dem Fahrrad in der Landschaft so alles mitbekommt. Ich denke da an eine Situation vor wenigen Monaten. Es war im Frühjahr. Irgendetwas war mir vom Fahrrad runtergefallen, ein Päckchen Taschentücher glaub ich. Ich halte an und hebe es vom Weg auf. Da fällt mein Blick auf den angrenzenden Acker. Und jetzt sehe ich die winzigen Pflänzchen, die da zu meinen Füßen wachsen. Sie sind in ihrem zaghaften Grün kaum vom Braun der Erde zu unterscheiden. Richtig mickrig sehen sie eigentlich aus. Dann erhebe ich den Blick und sehe eine lange, schmale Reihe, wie sie den ganzen Acker durchzieht, richtig grün, wie mit einem Filzstift gezeichnet. Und nebendran noch eine und noch eine. Und in diesem Moment erkenne ich: Der Acker ist ja eine einzige, zartgrüne Fläche! Toll! Dann wandert mein Blick wieder auf das kleine unscheinbare Pflänzchen zu meinen Füßen. Und da begreife ich dieses Lehrstück. Denn wie oft nimmt mich der Blick auf Kleinigkeiten des Alltags gefangen: Die vielen Details, die für sich genommen auch wichtig sind. Aber ich kann mich in ihnen auch verlieren. Dann finde ich es nötig, einmal Abstand einzulegen und eine Auszeit zu nehmen. Damit der Blick aufs Ganze meines Lebens möglich wird. Der kommt oft nur bei den wenigen großen Ereignissen zum Tragen. Wenn sich Kollegen in den Ruhestand verabschieden oder Bekannte beerdigt werden. Schade eigentlich! Denn der Blick aufs Ganze zeigt mir auch, was gut und schön und wertvoll ist in meinem Leben: dass die Scheune meines Lebens voll ist. Und dann erinnere ich mich wieder, wie ich da am Rande des Ackers stehe vor so einem kleinen, unscheinbaren Pflänzchen und nur den Kopf zu heben brauche für das zarte Grün des ganzen großen Ackers.
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