Früher beste Freunde

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
23./24. Juli 2016, Nr. 170
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Lenin 1916: Entscheidend ist im Imperialismus die Ungleichmäßigkeit des wirtschaftlichen Wachstums. Klassiker
Rohheitspublizistik. Drei deutsche Journalisten sprechen fürs »gesunde Volksempfinden«. Von Arnold Schölzel
Der große Stau. Immer mehr Flüchtlinge
warten auf Entscheidung von Behörden.
Von Gabriele Voßkühler
Seit die Ozeane leergefischt waren,
setzte er Migranten nach Europa über.
Spuren im Wasser. Von Gerd Bedszent
V
on 1994 bis 2004 haben
Sie beim Fernsehsender Vox die Sendung
»Wa(h)re Liebe« moderiert und die bundesdeutsche Bevölkerung in Sachen
Sexualität aufgeklärt. Können Sie
den Leserinnen und Lesern, die Ihre
Sendung nicht kennen, beschreiben,
worum es damals ging?
Von 1993 bis zum Frühsommer 1994 lief
auf Vox donnerstags ein Aufklärungsmagazin namens »Liebe Sünde«. Der Sender
stand vorübergehend vor dem Konkurs,
»Liebe Sünde« ging zu Pro Sieben, und innerhalb einer Woche musste ein Ersatz gefunden werden. Dieser Sendeplatz wurde
von Spiegel TV »verwaltet«, und so bekam
ich einen Anruf, ob ich Lust hätte, eine
Sendung zu den Themen Liebe, Sex, Erotik zu moderieren. Zu der Zeit leitete ich
mit drei Kollegen das »Schmidt-Theater«
in Hamburg, habe im Büro gearbeitet, auf
der Bühne gestanden und war in den Endproben für ein Soloprogramm. Ich hatte
eigentlich überhaupt keine Zeit. Trotzdem
habe ich zugesagt – und nicht eingeschätzt,
worauf ich mich damit einließ. »Wa(h)re
Liebe« lief zehneinhalb Jahre mit 545 Sendungen und einer riesigen Zuschauerresonanz. Trotz der späten Sendezeit um
23 Uhr hatten wir im Schnitt eine Million
Zuschauer, denen die Mischung aus Reportagen, Gesprächen und ungewöhnlichen
Studioaktionen gefiel. Meine Moderation
war eher ungewöhnlich, eine Mischung
aus Beratung und Amüsement. Obwohl
»Wa(h)re Liebe« als Unterhaltungssendung gedacht war, blieb sie den Zuschauern als Aufklärungsformat in Erinnerung.
Sie werden seitdem immer mit der
Sendung in Verbindung gebracht,
obwohl Sie doch auch mit Bühnenprogrammen im deutschsprachigen
Raum auftreten. Haben Sie jemals
bereut, diese Moderation übernommen zu haben?
Ich habe quasi wie nebenbei alle aufgeklärt, die heute älter als 27 sind, denn wir
sprachen über alle Spielarten der Sexualität und waren im Rahmen der Gesetzgebung sehr freizügig. So bin ich in das kollektive Gedächtnis der Deutschen geraten
und habe mein Lebensthema gefunden.
Insofern gibt es kein Bedauern darüber,
Lilo Wanders
… ist eine von dem Hamburger
Schauspieler Ernst-Johann »Ernie«
Reinhardt erfundene und verkörperte
Kunstfigur.
dass man mich als »Sexpertin« bezeichnet. Es ist höchstens ein bisschen schade,
dass meine schauspielerischen Fähigkeiten dadurch nicht mehr wahrgenommen
werden.
War Ihnen zu Beginn Ihrer Tätigkeit
bewusst, wieviel Mut Sie vielen Menschen damals gemacht haben?
Nein, das habe ich erst später erfahren. Für
mich war mein leichter und spielerischer
Umgang mit den Themen eine Selbstverständlichkeit, und mir war nicht bewusst,
dass es vielen Menschen schwerfällt, einen
unbefangenen Zugang zu ihren Wünschen
und Begierden zu haben.
Ganz persönlich gesagt, erinnere
ich mich, dass Sie bezüglich meines
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Normalität?
Ein Gespräch mit Lilo Wanders über ihre
Arbeit als »Sexpertin« im Fernsehen, über
Liebe, Kommerz und den rechten Zeitgeist.
Außerdem: Der große Stau. Immer mehr
Flüchtlinge warten auf eine Entscheidung
von Behörden. Von Gabriele Voßkühler
»So etwas wie ›Normalität‹
gibt es gar nicht«
Gespräch
Mit Lilo Wanders. Über ihre Arbeit als »Sexpertin« im Fernsehen, Liebe,
Kommerz und den rechten Zeitgeist
Siehe Seite 16
n Fortsetzung auf Seite zwei
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»Ein Lobbyregister ist ein Instrument
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Von der Leyens Werbebriefe an Abgeordnete für die »Trendwende
Personal«bei Bundeswehr
CETA stellt Kernelemente des Arbeitsrechts in Frage. Der DGB übersieht das. Von Werner Rügemer
»Weltfriedensfest«: Wie die Nazis die
Olympischen Spiele inszenierten. Von Knut Mellenthin
Opposition überrollt
N
AP PHOTO/RODRIGO ABD
AP PHOTO/PETROS GIANNAKOURIS
Türkei: Staatschef
Erdogan mobilisiert
Anhänger. 10.000
Verhaftungen. Linke
und Kurden gegen
Ausnahmezustand
und Repression.
Von André Scheer
ach dem gescheiterten
Putschversuch sind in der
Türkei innerhalb einer Woche mehr als 10.000 Menschen festgenommen worden. Gegen 4.060 von
ihnen sei Haftbefehl erlassen worden,
erklärte Staatschef Recep Tayyip Erdogan am Freitag in Ankara. Künftig
solle der 15. Juli im Gedenken an die
Opfer der Militärrevolte als »Tag der
Märtyrer« begangen werden, ordnete
er an. Der neue Feiertag werde dafür
sorgen, »dass künftige Generationen
niemals die heldenhaften Zivilisten,
Polizisten und Soldaten vergessen
werden, die demokratischen Widerstand geleistet haben«.
In mehreren Städten der Türkei demonstrierten am Freitag erneut Tausende Menschen ihre Unterstützung
für das Regime und folgten damit
einem Aufruf Erdogans, der seine
Landsleute in einer an bis zu 68 Millionen Empfänger versandten SMS
aufgefordert hatte, die Straßen nicht
zu verlassen. Auch für den späteren
Abend wurden große Kundgebungen
des Regierungslagers erwartet. Oppositionelle Kräfte warnen indes, dass
mit der Mobilisierung nicht die Verteidigung der Demokratie, sondern
ganz andere Ziele erreicht werden
sollen. Schon bei vorherigen »Demokratiemärschen« seien zahlreiche
Auf der Bosporusbrücke von Istanbul demonstrierten am Freitag Erdogan-Anhänger für ihren Präsidenten
Banden durch kurdisch-alevitisch
geprägte Stadtviertel in Istanbul und
Ankara gezogen und hätten ganze
Straßenzüge verwüstet, warnte die
Kurdische Gemeinde Deutschland in
einer Pressemitteilung. Es sei »mehr
als fraglich«, ob die Demonstranten
»tatsächlich für eine Demokratie nach
europäischem Vorbild« auf die Straße
gingen, »oder hier islamisch-konservative sowie türkischnationale Werte«
verteidigten.
Auch in der Bundesrepublik hatten mutmaßliche Anhänger Erdogans
und der neofaschistischen »Grauen
Wölfe« Einrichtungen attackiert, die
sie der Bewegung des im US-Exil
lebenden Predigers Fethullah Gülen
zurechneten. So wurde einem Bericht
der Nachrichtenagentur Reuters zufolge ein Jugendtreff in Gelsenkirchen
angegriffen. Linke, kurdische und
alevitische Einrichtungen wurden bedroht. In dieser Situation haben kurdische Gruppen zu Demonstrationen
in zahlreichen deutschen Städten aufgerufen. In ihrem Aufruf distanzieren
sie sich von dem versuchten Staatsstreich. Dieser sei im Kern Teil eines
Machtkampfs zwischen verschiedenen Gruppen des herrschenden Apparats, deren gemeinsames Ziel aber ein
»Genozid« an der kurdischen Bevölkerung sei. Hintergrund für die Kundgebungen unter anderem in Berlin,
Hamburg, Nürnberg und Dortmund
ist die Forderung nach der Freilassung
des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan, der seit 16 Monaten auf
der Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft gehalten wird. Nach dem
Putschversuch und der Zuspitzung der
Lage durch Erdogan fürchten Öcalans
Anhänger um dessen Leben.
In der Türkei, wo die linken Kräfte
von den Ereignissen zunächst überrollt
worden waren, bemühen sie sich inzwischen um ein Ende der Sprachlosigkeit.
Der Gewerkschaftsbund DISK warnte
in einem am Freitag veröffentlichten
Statement, dass der Ausnahmezustand
zu einer weiteren Verarmung der Arbeiter führen werde, ohne dass diese
auf der Straße, vor Gericht oder im
Parlament Widerstand leisten könnten.
Am selben Tag verbreitete die kurdische Nachrichtenagentur ANF einen
Aufruf des Exekutivkomitees der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte der Türkei sollten einen
Block bilden, um sich gemeinsam gegen Staatsstreiche, aber auch gegen die
Politik der herrschenden Oligarchie zu
stellen, hieß es darin.
Siehe Seiten 3 und 8
Früher beste Freunde
BRD hat eng mit der einstigen argentinischen Militärjunta kooperiert und hält weiterhin Akten geheim
I
n einer Antwort auf eine Anfrage
von Bundestagsabgeordneten der
Linkspartei hat die Bundesregierung am Dienstag eingeräumt, keineswegs alle bedeutenden Aktenbestände zur Kooperation der BRD mit der
einstigen argentinischen Militärdiktatur freigegeben zu haben. Dies hatten
Vertreter des Auswärtigen Amtes vor
und während der Argentinien-Reise
von Außenminister Frank-Walter
Steinmeier (SPD) im Juni behauptet.
Nach Einzelheiten der »Rolle der
westdeutschen Politik und Diploma-
IWF-Chefin Lagarde
muss vor Gericht
tie während der Zeit der Militärdiktatur« hatten die Abgeordneten am 20.
Juni gefragt. Die Mitglieder des Bundestages erkundigten sich nach Aktenbeständen der Regierung, des Bundesnachrichtendienstes (BND) und
des Verfassungsschutzes, die immer
noch mit Sperrfristen versehen sind.
Außerdem fragten die Parlamentarier
nach Waffengeschäften der BRD mit
der Militärjunta, die das Land von
1976 bis 1983 beherrschte und dabei
Zehntausende Menschen ermordete.
Unter ihren Opfern finden sich auch
Dutzende Deutsche, die in Argentinien politisch engagiert waren.
Aus der Antwort der Regierung vom
19. Juli geht hervor, dass Dokumente
nach wie vor gesperrt sind. So werden
eine »einstellige Anzahl von Akten
zum Thema der Anfrage« und »einzelne Dokumente in verschiedenen anderen Akten« des Kanzleramtes weiterhin als Verschlusssachen eingestuft.
Dies betrifft auch »circa 40 Aktenbände« des BND, die »Verschlusssachen verschiedener Geheimhaltungsstufen bis einschließlich VS-Geheim«
beinhalten. Beim Auswärtigen Amt
seien »alle Akten (…) offen und zugänglich bis auf drei Vorgänge, die als
Verschlusssachen eingestuft sind, um
grundlegende Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu schützen«.
Die Bundesregierung hat auf Nachfrage der Linke-Abgeordneten Heike
Hänsel bestätigt, dass Akten zur westdeutschen Argentinien-Politik vorliegen, die geheimgehalten werden.
Die Kriterien dafür sind nicht benannt
worden. (jW)
Siehe Seite 8
Paris. Wegen einer Millionenzahlung aus ihrer Zeit als französische
Wirtschaftsministerin (2007–2011)
muss IWF-Chefin Christine La­
garde (Foto) vor Gericht. Frankreichs Oberster Gerichtshof machte
am Freitag den Weg für das Verfahren frei. Lagarde wird vorgeworfen, sie könne regelwidrig eine Entschädigungszahlung von rund 400
Millionen Euro an Bernard Tapie
ermöglicht haben. Der Geschäftsmann hatte sich von der früheren
Staatsbank Crédit Lyonnais beim
Verkauf seiner Anteile am deutschen Sportartikelhersteller Adidas
geprellt gesehen und deswegen geklagt. Anfang Dezember 2015 hatte
ein Berufungsgericht Tapie verurteilt, die Summe zurückzuzahlen.
In der Angelegenheit war Lagarde
mehrfach von Ermittlern vernommen worden. Sie bezeichnete die
Vorwürfe aber stets als »völlig
unbegründet«. Im Falle einer Verurteilung drohen ihr bis zu einem
Jahr Gefängnis und 15.000 Euro
Strafe.
(dpa/jW)
Schleswig-Holstein
bleibt gottlos
Kiel. In der Landesverfassung
Schleswig-Holsteins gibt es auch
künftig keinen Bezug auf Gott.
Zwei entsprechende Anträge verfehlten am Freitag im Kieler Landtag die für eine Verfassungsänderung nötige Zweidrittelmehrheit. In
einem Fall fehlte nur eine Stimme:
Ein überwiegend von CDU- und
SPD-Abgeordneten getragener
Antrag fand 45 Unterstützer, 46
wären erforderlich gewesen. Ein
anderer Antrag kam auf 37 Stimmen. Für den »Gottesbezug« hatte
sich vor allem SPD-Fraktionschef
und SPD-Bundesvize Ralf Stegner
stark gemacht.
In Deutschland haben neben
dem Grundgesetz neun Landesverfassungen einen Gottesbezug, in
den Verfassungen von sieben Bundesländern findet sich keine solche
Formulierung.
(dpa/jW)
wird herausgegeben von
1.862 Genossinnen und
Genossen (Stand 4.7.2016)
n www.jungewelt.de/lpg