Unser Gespenst HENDRIK SCHMIDT/DPA Karl Marx’ Theorie einer herrschaftsfreien Gesellschaft hat das vermeintliche »Endspiel« der Systemauseinandersetzung überlebt. Gedanken über die Zukunftsfähigkeit der dialektischen Methode. Von Thomas Metscher SEITEN 12/13 GEGRÜNDET 1947 · FREITAG, 15. JULI 2016 · NR. 163 · 1,50 EURO (DE), 1,70 EURO (AT), 2,20 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Wahrheit suchen Kontakte pflegen Unruhe stiften Kämpfen lernen 3 4 6 7 Brandenburgs NSU-Ausschuss befasst CSU-Politiker will bei Fest der türkisich auch mit Sachsens heutigem schen faschistischen »Grauen Geheimdienstchef Wölfe« in München auftreten In der Ukraine sorgt eine »Friedenspro- Ein kleines Dorf im Osten Frankreichs zession« der Ukrainisch-Orthowehrt sich gegen Pläne, dort ein doxen Kirche für Aufregung Atommüllager einzurichten Generalstreik mit Gauck WOLFGANG KUMM/DPA- BILDFUNK M it einem ausgewachsenen Generalstreik haben die Arbeiter in Uruguay am Donnerstag Bundespräsident Joachim Gauck begrüßt, der nach seinem Staatsbesuch in Chile am Vormittag (Ortszeit) nach Montevideo weitergereist war. Die Visite des 76jährigen war allerdings nicht der Grund für die Proteste. Mit dem Ausstand wandte sich der Gewerkschaftsbund PIT-CNT gegen die von der Regierung des Präsidenten Tabaré Vázquez beschlossenen Lohnleitlinien, die Grundlage für die Tarifverhandlungen zwischen den Gewerkschaften und den öffentlichen wie privaten Unternehmen sind. Das vom Linksbündnis Frente Amplio gestellte Kabinett hatte Anfang Juli beschlossen, die im vergangenen Jahr erlassene Obergrenze für Gehaltssteigerungen zwischen acht und zehn Prozent nicht zu erhöhen. Nur so könnten Arbeitsplätze gesichert werden, erklärte Wirtschafts- und Finanzminister Danilo Astori. Die Gewerkschaften verweisen dagegen auf die Inflation und warnen vor Reallohnverlusten. Zudem verlangen die Arbeiter größere Investitionen des Staates insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheitsversorgung. Es geht ihnen auch um eine bessere Absicherung für sie bei Unternehmensschließungen sowie um Beschäftigungsquoten für Körperbehinderte in der Privatwirtschaft. Schließlich soll der Leerstand von Wohnungen unter Strafe gestellt werden. Nach Informationen der kubanischen Agentur Prensa Latina beteiligten sich rund eine Million Beschäftigte an dem Generalstreik, und damit die Mehrheit der nach Angaben der Weltbank rund 1,7 Millionen »wirtschaftlich aktiven« Bürger des südamerikanischen Landes. Ob der Generalstreik die wichtigen Gauck besuchte am Dienstag in Santiago das »Museum der Erinnerung«. Ein Treffen mit Opfern der Diktatur lehnte er ab Aktivitäten des deutschen Staatsgastes beeinträchtigen würde, war zunächst nicht absehbar. Für Donnerstag nachmittag (Ortszeit) war laut Bundespräsidialamt eine Zeremonie zur Vorstellung von zwei Sonderbriefmarken der uruguayischen Post anlässlich des 160jährigen Jubiläums der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Uruguay vorgesehen. Insgesamt dürfte der bis Samstag abend angesetzte Besuch in Uruguay weniger Konfliktpotential bieten als die am Donnerstag beendete Visite in Chile. Dort hatte Gauck die Opfer der deutschen Foltersekte »Colonia Dignidad« brüskiert, als er diesen ein persönliches Gespräch verweigerte. Die 1961 gegründete Kolonie hatte nach dem Putsch der chilenischen Militärs gegen die demokratisch gewählte Regierung 1973 bis 1990 als Geheimgefängnis gedient, in dem Oppositionelle und Widerstandskämpfer gefoltert und ermordet wurden. Eine juristische Mitverantwortung Deutschlands dafür wies Gauck zurück. Die Verantwortung des chilenischen Staates könne nicht auf Deutschland übertragen werden, wenn sich in Chile ein Gruppe von kriminellen Deutschen an Landsleuten und Chilenen vergangen habe. »Wir können als Deutsche nur bedauern, dass Landsleute mit der chilenischen Diktatur so zusammenge- arbeitet haben, dass die in deren Nähe ein Folterzentrum errichten konnten«, zitierte dpa den Bundespräsidenten. Tatsächlich aber hat die deutsche Justiz die Täter lange Jahre aktiv geschützt: Der 2011 in Chile wegen Beihilfe zu sexuellem Kindesmissbrauch verurteilte Sektenarzt Hartmut Hopp lebte jahrelang unbehelligt in Krefeld. Erst Anfang Juni 2016 beantragte die Staatsanwaltschaft entsprechend einem chilenischen Gesuch, dass Hopp die gegen ihn verhängte Haftstrafe in der Bundesrepublik absitzen solle. Ob und wann der 72jährige tatsächlich hinter Gitter muss, ist jedoch noch völlig offen. Siehe Seite 8 Moskau ruft zu Deeskalation auf NATO-Russland-Rat trifft in Brüssel zusammen. Bessere Flugkontrollen über Ostsee gefordert R ussland hat den Abzug von NATO-Soldaten aus Gebieten nahe der russischen Grenze gefordert. Für eine Stabilisierung der Lage müsse die Allianz ihre Entscheidungen über Truppenverlegungen in Osteuropa einfrieren, forderte der russische NATO-Botschafter Alexander Gruschko nach dem Treffen des NATO-Russland-Rates am Mittwoch in Brüssel. »Ein weiterer (Schritt) ist der Abzug der schon stationierten Einheiten«, sagte er der Agentur TASS zufolge. Außerdem hat Russland dem Rat einen Vorschlag zur Risikoreduzie- rung bei militärischen Flugmanövern über der Ostsee unterbreitet. Konkret gehe es um den Einsatz der sogenannten Transponder. Vorgeschlagen wird, dass zukünftig in bestimmten Gebieten der Ostsee-Region Flüge nur noch mit eingeschalteten Transpondern erfolgen. Zuvor müssten aber noch technische Details geklärt werden. Falls es zur Umsetzung käme, »so könnte das ein erster und sehr wichtiger Schritt auf dem Weg zur Deeskalation sein«, erklärte Gruschko. Sowohl die NATO wie auch Russland werfen sich seit längerem ge- genseitig vor, bei Manövern zum Teil nicht über Funk erreichbar zu sein und ihre Transponder abzuschalten. Diese Funkkennungsgeräte übermitteln automatische Funksignale mit wichtigen Angaben zu einem Flugzeug, wie etwa die Kennung oder den Typ. Jüngst gab es mehrere Vorfälle, bei denen sich Kampfjets beider Seiten gefährlich nahe kamen. Der NATO-Russland-Rat kam nur wenige Tage nach dem NATO-Gipfel am vergangenen Wochenende in Warschau zusammen. Dort hat die westliche Kriegsallianz ihren Konfronta- tionskurs gegen Moskau weiter verschärft: So wurde beschlossen, vier multinationale rotierende Bataillone von je 1.000 Soldaten nach Polen, Lettland, Litauen und Estland zu entsenden. »Diese Territorien werden zu einem Brückenkopf für politisch-militärischen Druck auf Russland«, kritisierte Gruschko. Dies sei überflüssig und kontraproduktiv und führe zurück zu Sicherheitssystemen wie im Kalten Krieg. »Russland ist keine Gefahr für die Mitglieder der Allianz«, betonte der Diplomat. (dpa/jW) REUTERS Uruguay: Gewerkschaftsbund kämpft für höhere Löhne. Bundespräsident brüskiert Opfer von deutscher Foltersekte in Chile. Von André Scheer 3.694 Flüchtlinge ums Leben gekommen Berlin. Im ersten Halbjahr 2016 sind laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) bereits mindestens 3.694 Flüchtlinge ums Leben gekommen. Im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2015 bedeute dies einen Anstieg um 18 Prozent, sagte IOMGeneraldirektor William Swing gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Die weltweit gefährlichste Fluchtroute bleibt das Mittelmeer in Richtung Europa: Allein dort wurden bis Ende Juni mindestens 2.905 Flüchtlinge getötet oder für vermisst erklärt – mehr als 2.500 ertranken demnach auf dem Weg von Afrika nach Italien. Nach der Schließung der »Balkanroute« und den Vereinbarungen zwischen EU und Türkei würden die Flüchtlinge in ihrer Verzweiflung andere Wege suchen. Die Opposition warf der Bundesregierung deswegen vor, am Tod von Schutzsuchenden mitverantwortlich zu sein. Dies sei »unmenschlich«, erklärte Bernd Riexinger, Vorsitzender der Linkspartei. (dpa/jW) Zahl rechtsextremer Aufmärsche verdreifacht Berlin. Im vergangenen Jahr hat es in Deutschland nach einem Bericht des Berliner Tagesspiegels (Freitagausgabe) die seit 1990 höchste Zahl an rechtsextremen Aufmärschen und sonstigen Kundgebungen gegeben. Das geht dem Blatt zufolge aus einem Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz hervor. Insgesamt seien 690 solche Veranstaltungen registriert worden, mehr als dreimal so viele wie 2014. Rund drei Viertel der Kundgebungen fanden demnach in Ostdeutschland statt. Nicht enthalten sind in den Zahlen die Demonstrationen der Pegida-Bewegung in Dresden, da diese bislang nicht als rechtsextremistisch dominiert eingestuft wird. Erfasst wurden allerdings Veranstaltungen einiger Pegida-Ableger. Allein 266 der registrierten Aufmärsche wurden dem Bericht zufolge von der NPD organisiert. (AFP/jW) wird herausgegeben von 1.862 Genossinnen und Genossen (Stand 4.7.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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