Zwangsarbeit bei Thyssen. - H-Soz-Kult

T. Urban: Zwangsarbeit bei Thyssen
Urban, Thomas: Zwangsarbeit bei Thyssen.
„Stahlverein“ und „Baron-Konzern“ im Zweiten
Weltkrieg. Paderborn: Schöningh 2014. ISBN:
978-3-506-76629-8; 196 S.
Rezensiert von: Jens Binner, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Celle
Die Welle der Forschungen zur Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg ist mittlerweile am
Abebben. Stattdessen macht sich angesichts
manch eines voluminösen Werkes Skepsis
breit, ob der wissenschaftliche Ertrag es rechtfertigt, jede Firma und jede Branche detailliert zu untersuchen. Vielmehr wäre inzwischen eine Synthese an der Zeit, die im Anschluss an die grundlegenden Studien von
Ulrich Herbert und Mark Spoerer1 versucht,
den Effekt des Phänomens Zwangsarbeit auf
die Entwicklung der nationalsozialistischen
Herrschaft während der Kriegsjahre einzuordnen. Dass es aber immer noch durchaus lohnend sein kann, Einzeluntersuchungen zu erstellen, zeigt der Band von Thomas Urban über Zwangsarbeit bei Thyssen im
Zweiten Weltkrieg, der aus dem innovativen
Projekt „Die Unternehmerfamilie Thyssen im
20. Jahrhundert“ hervorgegangen ist, bei dem
„kulturwissenschaftlich inspirierte [...] Familiengeschichte“ (S. 7) und eine zeitgemäße
unternehmensgeschichtliche Sicht verknüpft
wurden. Dass die Untersuchung derart ertragreich ist, ergibt sich zunächst aus dem Untersuchungsgegenstand, der über die Vielfalt
der zu untersuchenden Betriebe nicht nur eine vergleichende Perspektive nahelegt, sondern über die Besonderheiten der Unternehmensführung auch die Frage nach dem Spielraum unternehmerischen Handelns in der nationalsozialistischen Diktatur aufdrängt.
Das Buch ist in fünf Teile gegliedert. Auf
die Einführung, die sich vor allem der Charakterisierung der untersuchten Betriebe und
der Besonderheiten der personellen Führung der Unternehmensteile widmet, folgt
der Hauptteil, in dem die spezifischen Bedingungen in den schwerindustriellen Werken des „Stahlverein“-Komplexes (August
Thyssen-Hütte AG und Werk Thyssen Mühlheim), den Schiffbaubetrieben des „BaronKonzerns“ (Bremer Vulkan AG und Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft) und des eben-
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so zum „Baron-Konzern“ zählenden Bergbauunternehmens Gewerkschaft Walsum untersucht werden. Der dritte Teil ist kürzer,
aber ebenso zentral, beschreibt er doch die
Handlungsspielräume der betrieblichen Akteure im Lager- und Arbeitsalltag. Im vierten
Teil wird knapp die Bedeutung der Zwangsarbeit in den Entnazifizierungsverfahren geschildert und der fünfte Teil widmet sich zusammenfassend der Einschätzung des Handelns der Thyssen-Akteure unter den damaligen Umständen.
Die Voraussetzungen in den Unternehmensteilen waren bemerkenswert unterschiedlich. Der „Stahlverein“ gehörte zur
Erbmasse von Fritz Thyssen, der nach seinem Bruch mit dem Nationalsozialismus
bei Kriegsbeginn enteignet wurde. Dementsprechend lag hier seit diesem Einschnitt
die Verantwortung stärker auf den einzelnen Betriebsführern, die mit dem Staat als
Miteigentümer rechnen mussten und davon ausgingen, dass sie als Beschäftigte in
ehemaligen Betrieben eines Regimegegners
unter besonderer Beobachtung standen. Der
sogenannte Baron-Konzern dagegen, der Erbteil von Heinrich von Thyssen-Bornemisza,
wurde von der Schweiz aus gelenkt und war
damit dem direkten Zugriff des deutschen
Staates entzogen.
Diese Besonderheiten in der Unternehmensführung im Zusammenhang mit den
Spezifika der Betriebe und ihrer verschiedenen Branchen geben eine gute Folie für vergleichende Betrachtungen ab. Eingeschränkt
wird diese Möglichkeit durch die disparate
und lückenhafte Quellenlage, die aufgrund
des Fehlens einer zentralen Überlieferung eine breit angelegte Recherche in insgesamt
22 Archiven notwendig machte. Die Werke
des „Stahlvereins“ folgten den typischen Wellen der Schwerindustrie beim Einsatz von
Zwangsarbeitern. Er kam erst mit dem sogenannten „Russeneinsatz“ – also der Beschäftigung von zunächst sowjetischen Kriegsgefangenen und später auch Zivilarbeiterinnen
und Zivilarbeitern aus der Sowjetunion –
1 Vgl.
Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis
des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des
Dritten Reiches. Berlin 1985; Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Dritten Reich
und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart 2001.
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richtig in Schwung. Erst dieser massive Einsatz von Zwangsarbeit ermöglichte es, dass
die Stärke der Belegschaft nicht nur gehalten, sondern sogar ausgeweitet werden konnte – ebenso, wie die Erzeugung von Roheisen
und -stahl 1942/43 ihren Höhepunkt erreichte. Entscheidend für die Zuteilung ausländischer Arbeitskräfte war dabei der Anteil von
rüstungsnahen Produkten. Diese Verteilungskämpfe um das „Menschenmaterial“ (S. 56)
lassen sich gut an der Schwerindustrie im
Ruhrgebiet aufzeigen, die entscheidend für
die Fortsetzung des Krieges war. Es ging darum, die zur Wehrmacht eingezogenen deutschen Arbeitskräfte möglichst gleichwertig
ersetzen können, und dabei spielten Einschätzungen der verschiedenen Gruppen von Ausländern eine Rolle, die nicht nur an deren
Fähigkeiten orientiert waren, sondern denen
auch rassistische ideologische Wertungen zugrunde lagen. Daneben zeigen die diversen
Schriftwechsel, dass man auch in höchsten
Firmenkreisen durchaus darüber informiert
war, dass bei Menschen aus der Sowjetunion aufgrund ihrer Behandlung mit einer geringeren körperlichen Leistungsfähigkeit gerechnet werden musste. Man war bei den
Thyssen-Werken des „Stahlvereins“ grundsätzlich bereit, KZ-Häftlinge einzusetzen; nur
pragmatische Gründe und bessere Alternativen waren der Grund, dass es nicht dazu kam.
Die behandelten Schiffsbaubetriebe in Bremen und Flensburg zeigen widersprüchliche Zielsetzungen der beteiligten Stellen, aber
auch die Flexibilität des Systems, nachdem
der Beschluss zum Einsatz von Zwangsarbeit
grundsätzlich gefallen war. Beim Bremer Vulkan ging es um die Produktion hochsensibler
Rüstungsgüter wie U-Boote. Dadurch war
zum einen die Stammbelegschaft vergleichsweise lange vor großangelegten Einberufungen geschützt, zum anderen zögerte man wegen vermuteter Spionage- und Sabotagegefahr damit, Menschen aus anderen Ländern
dort einzusetzen. Symptomatisch dafür ist,
dass die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen in der Maschinenbauabteilung des Bremer Vulkan in einem Käfig innerhalb der
Schlosserei arbeiten mussten. Wenn der Anteil der ausländischen Zwangsarbeiter auf
den Werften verglichen mit der Stahlindustrie
auch durchgängig niedriger blieb, ermöglich-
ten sie auch dort nicht nur den Ausgleich der
personellen Abgänge, sondern ebenfalls eine
Ausweitung der Zahl der Beschäftigten.
Das erst seit 1936 produzierende Bergwerk
Walsum wiederum verdeutlicht trotz einiger
Sonderfaktoren gut die Situation im Bergbau,
wo eine standesbewusste Stammbelegschaft
sich lange gegen den großflächigen Einsatz
von Ausländern wehrte. Als man diesen Widerstand schließlich aufgab, wurden vor allem sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt,
die bei der schweren Handarbeit unter Tage von deutschen Hauern überwacht wurden.
Gerade Walsum entwickelte sich „zu einer regelrechten Ausländerzeche“ (S. 103), mit einem Ausländeranteil von knapp 70 Prozent.
Sowjetische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter machten dabei bis zu 60 Prozent der Belegschaft aus. Nur dadurch war der starke Ausbau der Belegschaft von 900 im Jahr 1938 auf
knapp 2.900 im Jahr 1942 möglich.
Insgesamt bilanziert Urban in Übereinstimmung mit der allgemeinen Forschung,
dass die Sterblichkeit unter osteuropäischen
Zwangsarbeitern – und unter ihnen noch einmal gesteigert bei den sowjetischen Kriegsgefangenen – deutlich höher war, als unter
westeuropäischen. An dem konkreten Beispiel des niederländischen Schlossers Klaas
Touber zeigt er aber, dass auch diese Arbeiter
Repressionen und Gewalt zu erwarten hatten,
wenn sie ihre untergeordnete Stellung nicht
beachteten. Touber hatte sich gewehrt, nachdem ein deutscher Arbeiter ihn aus der Warteschlange in der Kantine der Bremer VulkanWerft gedrängt hatte. Die daraus entstehende Schlägerei wurde vom Werkschutz beendet und Touber als Rädelsführer von der Gestapo in das Arbeitserziehungslager BremenFarge eingewiesen. Als er nach acht Wochen
an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, wog er
nur noch 40 Kilogramm.
Urban zeigt an verschiedenen Beispielen
auf, dass für die Deutschen in den Betrieben,
gleich welche Position sie einnahmen, durchaus Handlungsspielräume bei der Behandlung der verschiedenen Gruppen von Ausländern bestanden. Dies war vor allem bei
der Sicherstellung der Grundbedürfnisse wie
Ernährung, Unterkunft und arbeitsgerechte
Bekleidung von Belang. Zunehmend wurde
auch der Luftschutz ein überlebenswichtiger
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T. Urban: Zwangsarbeit bei Thyssen
Faktor. Hier blieb die von oben vorgegebene
rassistische Hierarchie handlungsleitend, sodass Arbeitskräften aus der Sowjetunion seltener Hilfe zuteilwurde als denen aus westlichen Ländern.
Im Kapitel über die Entnazifizierung schildert Urban die „geradezu bizarre[n] Züge“
(S. 148) von Verfahren gegen Angehörige des
ehemaligen Lagerpersonals. Ausgangspunkt
waren von Thyssen selbst initiierte Vernehmungen jener Initiatoren und Exekutoren von
„Aufsicht“, Bestrafung und Exzess. Im Ergebnis wurden die zahllosen Misshandlungen
und Gewalttaten als angemessen beurteilt,
da sich unter den Zwangsarbeitern „Arbeitsscheue“, „Verbrechernaturen“ oder „asoziale
Elemente“ befunden hätten (S. 150). Letztendlich wurden viele jener Täter in die Kategorie
IV der bloßen Anhänger des Nationalsozialismus eingestuft. Auch von den Führungskräften der verschiedenen Werke wurde niemand
empfindlich bestraft, sowohl Amerikaner als
auch Briten schätzten dagegen ihre Sachkunde und setzten sie bald wieder in verantwortliche Positionen ein. Dass ein grundlegender
Gesinnungswandel nicht stattgefunden hatte,
zeigen auch die bereits im August 1945 durch
den neuen Vorstandsvorsitzenden der August
Thyssen-Hütte AG, Eduard Herzog, erarbeiteten „Grundsätze für die politische Reinigung der Betriebe“, in denen Gewalttaten gegenüber Zwangsarbeitern mit „dem häufig
herausfordernden Verhalten der Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter“ (S. 146) gerechtfertigt und nicht voraussetzungslos als Grund
für eine Entlassung oder Zurückstufung eingestuft wurden.
In dem Fazit zu den Verantwortlichkeiten
der leitenden Thyssen-Akteure wägt Urban
umsichtig ab und kommt dennoch zu eindeutigen Urteilen. So hätten Thyssen-Bornemisza
und sein Vertrauter Wilhelm Roelen zwar keinen so aggressiven Expansionsdrang bewiesen wie etwa Friedrich Flick und auch symbolträchtige Auftritte mit den Größen des Regimes vermieden, andererseits seien sie aber
auch jeder Konfrontation ausgewichen und
hätten sich bereitwillig am Aufrüstungskurs
und der Kriegsproduktion beteiligt, um das
Bestehen und die Ausweitung ihrer Werke zu
sichern. Letztlich standen bei ihnen und auch
bei ihren Untergebenen fast immer Interessen
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der Aufrechterhaltung der Produktion höher
als Bemühungen zur Linderung des Leides
der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Urbans sorgfältig gearbeitete Studie zeigt in
vergleichender Perspektive, dass spätestens
seit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941
Zwangsarbeit als Allheilmittel zur Linderung
wirtschaftlicher Zwangslagen galt. Gleichzeitig führten spezifische Probleme auch zu unterschiedlichen Lösungen. Die Werft in Flensburg setzt zunächst auf freiwillige Anwerbungen in Dänemark, da sie nach Kriegsbeginn aufgrund der Grenznähe von der
Zuteilung ausländischer Arbeitskräfte ausgeschlossen ist. Das Bergwerk Walsum verhält
sich anfangs zögerlich, entwickelt sich dann
aber zu einem Betrieb, in dem mehr russisch
als deutsch gesprochen wird. Auf diese Art
lassen sich jeweils unterschiedliche Entwicklungen feststellen, denen gemein ist, dass der
bedenkenlose Einsatz ausländischer Zwangsarbeit zunehmend in strategische Planungen
und betriebswirtschaftliche Kalkulationen integriert wird. Die Menschen aus ganz Europa werden in dieser Denkweise zu Produktionsfaktoren ohne berechtigte Eigeninteressen
und so häufig zu Opfern bewusst diskriminierender Arbeits- und Lebensumstände.
HistLit 2016-3-039 / Jens Binner über Urban,
Thomas: Zwangsarbeit bei Thyssen. „Stahlverein“ und „Baron-Konzern“ im Zweiten Weltkrieg.
Paderborn 2014, in: H-Soz-Kult 15.07.2016.
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