taz.die tageszeitung

TAIWAN
200 km
Unser EM-Film: Das Beste zum Schluss
CHINA
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Südchinesisches
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ParacelInseln
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von China
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THAILAND
AUSGABE BERLIN | NR. 11068 | 28. WOCHE | 38. JAHRGANG
KAMBODSCHA
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Von Trikottest bis Philosophentrash
– das Making-of von 55 taz-Videos heute auf taz.de/EMtaz
Hongkong
beanspruchtes MITTWOCH, 13. JULI 2016
Gebiet („9 dash line“)
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H EUTE I N DER TAZ
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China
MALAYSIA
LAND WEG China vervon China beanspruchtes Gebiet
liert Rechtsstreit gegen
Grenzen der ausschließlichen
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BRUNEI
taz.Grafik: infotext-berlin.de
DATEN WEG Die neue
Vereinbarung zwischen
EU und USA ▶ SEITE 2, 12
LEUTE DA Hilfe für
Geflüchtete: Projekt
auf Lesbos ▶ SEITE 5
BERLIN Wucherpreise
für Geflüchtete: Der
Wohnungsschwarzmarkt ▶ SEITE 21
Foto oben: ap
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
verboten möchte Sie nur kurz
darüber informieren, dass es
jetzt endlich die Konsequenzen
zieht, weil es durch unfassbare Blödheit die gesamte taz,
das alte Rudi-Dutschke-Haus
und den taz-Neubau in Gefahr
gebracht hat. verboten reicht
deshalb mit sofortiger Wirkung
seinen Rücktritt ein. Ab Mittwoch wird an dieser Stelle jemand anderes schreiben.
BUNDESWEHR Ausländer rein: In ihrem neuen
Weißbuch erwägt die Regierung erstmals, auch
Bürger aus anderen EU-Ländern für die deutsche
Armee zu rekrutieren. Denn Ministerin von der
Leyen braucht mehr Personal für mehr Einsätze
Neue Zielgruppe für die Bundeswehr-Personalabteilung: Warteschlange vor einem Arbeitsamt in Athen Foto: Kostas Tsironis/getty images
BERLIN taz | Die Bundesregierung denkt über die Öffnung
der Bundeswehr für Rekruten
aus anderen EU-Staaten nach.
Das geht aus dem Weißbuch zur
Sicherheitspolitik hervor, das
der taz vorliegt und das das Ka-
Dubduu duuu duu.
Right.
binett voraussichtlich am Mittwoch beschließen wird. Die Öffnung der Bundeswehr für Bürgerinnen und Bürger der EU
böte „ein weitreichendes Integrations- und Regenerationspotenzial für die personelle Ro-
bustheit der Bundeswehr“, heißt
es in dem Entwurf.
Das Dokument entstand unter Federführung von Verteidigungsministerin Ursula von
der Leyen (CDU) und ist mit den
SPD-geführten Ministerien ab-
gestimmt. Es löst das bisher
gültige Weißbuch aus dem Jahr
2006 ab und legt die sicherheitspolitischen Leitlinien der Bundesregierung für die nächsten
Jahre fest. In dem Papier kündigt die Regierung an, dass die
Bundeswehr in Auslandseinsätzen häufiger Führungsaufgaben
übernehmen werde. Dies entspreche der „zunehmenden internationalen Verantwortung
LÖW/TS
unseres Landes“. ▶ Schwerpunkt SEITE 3
TAZ MUSS SEI N
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30628
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KOMMENTAR VON MARTIN REEH ZUM NEUEN WEISSBUCH DER BUNDESWEHR
V
ielleicht muss man die Chuzpe
bewundern, mit der die deutsche
Bundesregierung auch im neunten
Jahr der Eurokrise noch ihre nationale Interessenpolitik zulasten Südeuropas als
Beitrag zur europäischen Einheit zu verkaufen sucht. Ein Anschauungsobjekt dafür liefert nun das Weißbuch der Bundeswehr, nach dem künftig auch Bürger
anderer EU-Staaten für die deutsche Armee kämpfen sollen. Dies sei, so heißt es
darin, „ein starkes Signal für die europäische Perspektive“. Diese Sichtweise hat
Deutschland, wie so oft in Europa, ganz
exklusiv.
Vor einem Jahr zwang die Bundesregierung Griechenland zur Kapitulation
Unsere Fremdenlegion
vor der deutschen Austeritätspolitik. Eine
ökonomische Perspektive für Griechenland gibt es seitdem nicht mehr. Stattdessen bietet Deutschland zynische Trostpflaster mit Eigennutz: Vor zwei Wochen
kam Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel
vorbei und versprach Athen ein paar Solaranlagen deutscher Firmen, für die es
hierzulande keinen Abnehmer mehr
gibt.
Gestern leiteten die EU-Finanzminister unter starkem Druck vonseiten Wolfgang Schäubles ein Defizitverfahren gegen Spanien und Portugal ein. Beide Staaten hatten sich nicht an das deutsche
Dogma, in Krisenzeiten die Staatsausgaben einzuschränken, gehalten. Ihre Wirt-
schaft kam zaghaft wieder in Schwung.
Wird die Konjunktur wieder abgewürgt,
dürfte der Exodus junger Spanier und
Portugiesen zur Freude deutscher Unternehmen nach Deutschland wieder
zunehmen.
Zukünftig, so die Botschaft aus dem
Verteidigungsministerium, können sie
aber auch für die Bundeswehr kämpfen. Die Freiheit Deutschlands würde
Deutschland bietet Süd­
europa zynische Trost­
pflaster mit Eigennutz
zukünftig von Arbeitslosen aus Madrid
und Athen am Hindukusch verteidigt
werden. Die letzte Hoffnung von Opfern der deutschen Politik in der Eurokrise heißt: riskieren, für Deutschland zu
sterben. Das mag aus Sicht der Bundeswehr, die Nachwuchsprobleme hat, verständlich sein. Aber es ist einmal mehr
deutscher Zynismus.
In Deutschland aber glauben sie ihre
PR-Sätze, mit denen das Verteidigungsministerium den deutschen Eigennutz
als „europäische Perspektive“ verkauft,
wirklich. Schäubles harte Haltung in der
Defizitfrage und das Weißbuch zeigen: Es
ist kein Ende der deutschen Politik, die
Europa schadet, in Sicht.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
Der Tag
M IT TWOCH, 13. JU LI 2016
NACH RICHTEN
FLÜCHTLI NGE AUS DER TÜRKEI
SÜDITALI EN
EU nahm nach Abkommen erst 798 Syrer auf Mindestens 20 Tote
bei Zugunglück
BRÜSSEL | Drei Monate nach
Rhyzodiastes xii, benannt nach
Xi Jinping Foto: Wang Cheng-Bin
Der zensierte
Käfer Xi
D
arf eine neu entdeckte Käferart nach Chinas mächtigem Partei- und Staatschef Xi Jinping benannt werden?
Ja, das ist eine außerordentliche
Ehrerbietung und Lobpreisung,
meint der chinesische Gastwissenschaftler Wang Cheng-Bin an
der tschechischen Agraruniversität in Prag.
Wang benannte deshalb die
in der südchinesischen Provinz Hainan gefundene Käferart Rhyzodiastes (Temoana) xii
in einem Artikel der zoologischen Fachzeitschrift Zootaxa
Sie sahen den Staatschef zu einer Art
Mistkäfer degradiert
laut der Nachrichtenagentur
AFP nach Chinas Präsident Xi
Jinping „für seine Führung, die
unser Mutterland stärker und
stärker macht“.
Der „äußerst seltene“ Käfer ernähre sich von „verrottetem Holz“ und sei damit eine
Metapher für Chinas Präsidenten. Denn dieser sei eine ebenfalls sehr seltene Person. Seine
massive Kampagne gegen Korruption sei wie das Fressen von
Fäulnis und werde langfristig
zum Verschwinden von Korruption führen.
Doch Chinas Zensoren gefiel dieses große Lob überhaupt nicht. Sie sahen mit der
Namensgebung ihren obersten Führer offenbar zu einer
Art Mistkäfer degradiert. Wie
die Nachrichtenseite China Digital Times am Montag berichtete, wiesen die chinesischen
Zensurbehörden deshalb umgehend alle Medien und Internetdienste des Landes an, jede
Erwähnung der Insektenart zu
löschen. Die Zensoren ließen
sich offenbar auch nicht von
Wangs Beschreibung des seltenen Käfers umstimmen. Er habe
einen „glänzenden Körper“, dessen Genitalbereich sich durch
einen „moderat langen und an
der schmalen Spitze gerundeten
Stiel“ auszeichne.
Wang reagierte mit Unverständnis auf die Entscheidung
der Zensoren. „Hallo! Geliebter
Präsident Xi! Das ist ein seltener
Käfer! Der Name dieser Art wird
für immer existieren! Eine unglaubliche Ehre!“, schrieb Wang
an AFP. Vielleicht hätte er den
Zensoren klarmachen sollen,
dass nach dem 44. US-Präsidenten sogar eine Spinnenart, Apostidum barackobamai, benannt
wurde.
Aber so locker drauf sind Chinas KP-Kader selten. Vielleicht
hätten die Zensoren statt eines
Mistkäfers die Benennung einer schönen Blume nach Xi akzeptiert. Das haben selbst die
sonst knallharten Nordkoreaner durchgehen lassen. Zum 46.
Geburtstag des damaligen Führers Kim Jong Il nannte 1988 ein
japanischer Botaniker eine von
ihm gezüchtete Begonienart
Kimjongilia. Bekanntlich sagte
schon Mao: Lasst hundert Blumen blühen.
SVEN HANSEN
dem Start des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens hat die Europäische Union erst 798 von ursprünglich bis zu 18.000 erwarteten syrischen Flüchtlingen aus
der Türkei aufgenommen. 294
der aufgenommenen Flüchtlinge kamen nach den von der
EU-Kommission auf ihrer Internetseite veröffentlichten Zahlen
nach Deutschland. Schweden
liegt mit 264 aufgenommenen
Syrern auf dem zweiten Platz in
der Europäischen Union.
Insgesamt sind im Rahmen
des EU-Türkei-Abkommens bis
zum 5. Juli nur in zehn EU-Staa-
ten syrische Flüchtlinge gekommen. Die Aufnahme von Syrern
aus der Türkei ist ein Kernbestandteil des im März vereinbarten Abkommens.
Die Türkei sicherte demnach
zu, alle neu auf den griechischen
Mittelmeerinseln ankommenden Flüchtlinge zurückzunehmen. Im Gegenzug verpflichtete
sich die EU, für jeden so abgeschobenen Syrer einen anderen syrischen Flüchtling auf legalem Weg aufzunehmen. Den
Zahlen der EU-Kommission zufolge sind bis Mitte Juni 468
Flüchtlinge aus Griechenland in
die Türkei zurückgekehrt. (afp)
ROM | Mindestens 20 Men-
schen sind bei einem frontalen
Zusammenstoß zweier Züge in
Süditalien ums Leben gekommen. Vier schwebten in Lebensgefahr, sagte der Vizepräsident
der betroffenen Provinz. Dutzende weitere wurden bei einem der schwersten Zugunglücke des Landes verletzt, darunter ein Kleinkind, das lebend
geborgen wurde. Die Regionalzüge waren am Vormittag nördlich der süditalienischen Stadt
Bari auf einer eingleisigen Strecke zwischen Corato und Andria
zusammengestoßen. (dpa)
DI E TAZ I M N ETZ
WALFANG
taz.de/twitter
Kreuzfahrtfirmen
meiden Färöer-Inseln
taz.de/facebook
HAGEN | Wegen des Walfangs auf
taz.de/vimeo
Fol­gen
Liken
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den Färöer-Inseln fahren einige
Kreuzfahrtunternehmen die Inselgruppe nicht mehr an. Aida
(Rostock) und Hapag-Lloyd Cruises (Hamburg) hätten auf Aufforderung des Wal- und Delfinschutz-Forums zugesagt, ihre
Anlandungen vorerst zu stoppen, teilte die Organisation mit.
Tui Cruises (Hamburg) halte dagegen an seiner 2016 geplanten
Anfahrt fest. Auf der zu Dänemark gehörenden Inselgruppe
würden jährlich meist Hunderte
Grindwale und andere Delfin­
arten getötet, hieß es. (epd)
Überwachung leicht gemacht
PRIVATSPHÄRE Persönliche Daten von Nutzern in die USA schicken? Das geht für Unternehmen ab
sofort wieder ohne Aufwand. Und auch weitgehend ohne Kontrolle, kritisieren Verbraucherschützer
VON SVENJA BERGT
Unternehmen in Europa können
ab sofort persönliche Daten von
Nutzern wieder einfacher in die
USA übertragen. Eine entsprechende Regelung, Privacy Shield,
hat die EU-Kommission am
Dienstag beschlossen. „Der Privacy Shield wird die transatlantische Wirtschaft stärken“, sagte
Justizkommissarin Věra Jourová,
die die Entscheidung gestern gemeinsam mit US-Staatssekretärin Penny Pritzker bekannt gab.
Die Kommission hatte sich
um eine neue Regelung zur
Datenübermittlung bemüht,
weil der Europäische Gerichtshof (EuGH) im vergangenen
Herbst den Vorgänger, bekannt
unter dem Namen Safe Harbor, gekippt hatte. Das Gericht
kritisierte dabei vor allem zwei
Punkte: Daten von europäischen Nutzern sind in den USA
„Er wird die
­transatlantische
Wirtschaft stärken“
EU-JUSTIZKOMMISSARIN VĚRA JOUROVÁ
nicht vor der dortigen anlasslosen massenhaften Überwachung durch Geheimdienste geschützt. Und: Einen Rechtsweg,
damit Nutzer gegen eventuellen Missbrauch vorgehen können, gab es nicht.
Daten- und Verbraucherschützer sagen nun: Die aktuelle Vereinbarung ist nicht
besser. Von einem PrivacySchwindel spricht die Bürgerrechtsorganisation EDRi, und
Datenschützer Thilo Weichert
kritisiert: „Beide Kritikpunkte
des EuGH sind auch im Privacy
Shield nicht behoben.“ So ist
in der Vereinbarung etwa von
„bulk collection“, Massensammlung, die Rede, die nur noch die
Ausnahme sein soll, dafür gezielte Überwachung die Regel.
„Es gibt die Zusage der US-Regierung, dass nur auf Daten zugegriffen wird, wenn es nötig
und verhältnismäßig ist“, erklärte Kommissarin Jourová.
Doch Datenschützern sind die
Ausnahmen zu weit gefasst –
und zu schwammig. Dass es
um Belange der „nationalen Sicherheit“ geht, reicht aus. „Das
massenhafte Sammeln von Daten europäischer Nutzer bleibt
Wenn der Privacy Shield nicht hält, was er dem Namen nach verspricht, muss man sich selbst drum kümmern Foto: Gh. & M. David de Lossy/plainpicture
„Europa muss Druck auf die USA machen“
VERUNSICHERUNG
unter der neuen Vereinbarung
möglich“, kritisiert die Bürgerrechtsorganisation Access Now.
Nutzer, die sich beschweren
wollen, wenn sie ein Unternehmen des Datenmissbrauchs verdächtigen, brauchen jedenfalls
einen langen Atem. Der Jurist
Max Schrems, der durch sein
Vorgehen gegen Facebook letztlich Safe Harbor zu Fall brachte,
hat untersucht, welchen Weg
Nutzer im Beschwerdefall gehen müssen. Sein Ergebnis: Sie
müssen sich mindestens durch
sieben unterschiedliche Institutionen kämpfen.
In der Wirtschaft zeigt man
sich dagegen erleichtert. „Die
deutsche Wirtschaft ist stark
exportorientiert und die USA
sind einer der wichtigsten Handelspartner“, sagt Susanne Dehmel vom Branchenverband Bitkom. Profitieren würden vor
allem mittelständische Unternehmen. Sie sparen es sich, vertragliche Regelungen aufzusetzen oder sich das Okay der Nutzer für die Datenübermittlung
einzuholen. Stattdessen können sie einfach aus einer Liste
der US-Unternehmen, die sich
nach dem Privacy Shield selbst
zertifiziert haben, wählen.
Ob die Freude lange hält, ist
unklar. Daten- und Verbraucherschützer sind sicher, dass
die Vereinbarung vor dem
EuGH landen wird. „Der EuGH
wird Nein sagen“, ist Datenschützer Thilo Weichert überzeugt. Ein bis anderthalb Jahre
gibt er dem Privacy Shield, bis
es ihm so geht wie seinem Vorgänger.
Meinung + Diskussion
SEITE 12
THEMA
DES
TAGES
Die Vereinbarung macht es NutzerInnen schwer, ihre Rechte einzufordern, sagt der Grüne Jan Philipp Albrecht
taz: Herr Albrecht, Sie sind
bei Facebook, Twitter, das Betriebssystems Ihres Handys
stammt von einem US-Anbieter, also werden jede Menge
persönliche Daten von Ihnen
in die USA übertragen – Angst?
Jan Philipp Albrecht: Nicht unbedingt Angst. So richtig bewusst ist einem ja nicht, was die
Konsequenzen von Datenmissbrauch sein können. Aber eine
starke Verunsicherung ist schon
da. Vor allem Verunsicherung,
ob mit meinen Daten so umgegangen wird, wie ich das auch
hier in Europa erwarten könnte.
Die EU-Kommission sagt: Seit
Dienstag müssen Sie nicht
mehr vertrauen. Dann tritt das
Privacy Shield in Kraft, das europäischen Unternehmen die
Übermittlung von Nutzerdaten in die USA erleichtert, aber
gleichzeitig Schutz vor Überwachung bieten soll.
Einen Schutz vor Überwachung
bietet es nicht. Im Vergleich zur
Safe-Harbor-Vereinbarung, dem
Vorgänger des Privacy Shield,
der im vergangenen Jahr vom
Europäischen Gerichtshof gekippt wurde, hat sich gar nicht
so viel verändert. Es ist nur viel
komplizierter geworden.
Inwiefern?
Zum Beispiel wenn Nutzer
sich beschweren wollen. Dann
werden sie erst zu einem
­Streitschlichtungsgremium ge-
schickt, bevor sie sich bei der USWettbewerbsbehörde beschweren können. Und wenn sie es
dorthin geschafft haben, brauchen sie einen Anwalt, der eine
US-Zulassung hat. Das macht es
für europäische Nutzerinnen
und Nutzer unheimlich schwer,
ihre Rechte einzufordern.
Rechnen Sie damit, dass der
EuGH auch diese Vereinbarung kippt?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass
der EuGH das Privacy Shield
kippt. Ich bin sicher, dass sich
eine Datenschutzbehörde finden wird, die das Gericht zu einer entsprechenden Prüfung
auffordert.
Wahrscheinlich
schneller, als es einigen lieb ist.
Wie müsste ein Abkommen
aussehen, das die Daten europäischer Nutzer wirklich schützen würde?
Dafür müssten in den USA die
wirklich vergleichbaren Datenschutzstandards gelten wie
in Europa. Die US-Regierung
müsste also neue Gesetze beschließen. Dazu gehört etwa,
dass Daten nicht mehr anlasslos gesammelt werden dürfen.
Und ganz wichtig: Es muss auf
Bundesebene ein einheitliches
Datenschutzrecht für Unternehmen geben.
Halten Sie es für realistisch,
dass die USA auf europäischen
Druck Gesetze beschließen?
Das ist gar nicht so unrealis-
tisch, wie man meinen könnte.
Schon 2012 haben die USA einen V
­ orschlag für ein Datenschutzgesetz diskutiert – das
ist leider im Kongress hängen
geblieben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein solches Gesetz unter einer Clinton-Regierung tatsächlich realisiert wird.
Aber dazu muss Europa weiter
Druck machen.
INTERVIEW SVENJA BERGT
Jan Philipp Albrecht
■■33, sitzt seit
2009 für die
­Grünen im
EU-Parlament.
Foto: Fritz Schumann
Schwerpunkt
Bundeswehr
M IT TWOCH, 13. JU LI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Mehr Führungsverantwortung, mehr Personal, mehr Waffen – vom
Fokus auf die defensiven Aufgaben des Militärs bleibt wenig übrig
„Vor allem ein
PR-Produkt“
Ursachen werden
ignoriert, sagt die Linke
Christine Buchholz
KRIEG
Erster Arbeitstag eines 19-jährigen Matrosen bei der Marine: Die Bundeswehr sucht nach neuen Wegen, um mehr potenzielle Rekruten zu erreichen Foto: Frank Schinski/Ostkreuz
Deutschland will „Impulsgeber“ sein
WEISSBUCH Die Bundeswehr soll aufrüsten, häufiger ins Ausland und Führung übernehmen, vielleicht auch mit
EU-Ausländern in ihren Reihen. So steht es in dem Grundlagenpapier, das das Kabinett heute beschließt
VON PASCAL BEUCKER UND TOBIAS
SCHULZE
BERLIN taz | Es hat gedauert.
Knapp anderthalb Jahre lang
ließ das Verteidigungsminis­
terium über das neue Bundes­
wehrweißbuch diskutieren. Bür­
ger, Militärs, Wissenschaftler
und Politiker durften auf Dut­
zenden Veranstaltungen über
den Inhalt diskutieren. Damit
handelt es sich bei dem Papier
um „das erste sicherheitspoli­
tische Grundlagendokument
Deutschlands, das auf einer in­
klusiven Beteiligungsphase auf­
baut“, wie es in den Vorbemer­
kungen heißt.
Anzumerken ist das dem Do­
kument, das das Kabinett heute
offiziell beschließen wird, aller­
dings nicht. Über weite Strecken
liest sich das neue Weißbuch
vielmehr wie eine Legitimati­
onsschrift: für neue Auslands­
einsätze der Bundeswehr und
für den hohen Finanzbedarf von
Verteidigungsministerin Ursula
von der Leyen (CDU). Durchaus
vorhandene Stimmen, die wei­
terhin für eine militärische Zu­
rückhaltung Deutschlands plä­
dieren, fanden dagegen kein Ge­
hör.
Die „Dynamik unseres Sicher­
heitsumfelds“ habe „zu einem
Anstieg der weltweiten Einsätze
der Bundeswehr geführt“, heißt
es in dem neuen Weißbuch –
ganz so, als handle es sich um
Naturgesetzmäßigkeiten und
nicht um bewusste politische
Entscheidungen der jeweiligen
Bundesregierungen. Nun soll
es angesichts des Konflikts mit
Russland und dem Staatszerfall
im Nahen Osten in die nächste
Etappe gehen: „Deutschland ist
bereit, sich früh, entschieden
und substanziell als Impulsge­
ber in die internationale Debatte
einzubringen, Verantwortung
zu leben und Führung zu über­
nehmen.“ Anders als noch vor
zehn Jahren will sich die Bun­
desrepublik nicht mehr damit
zufriedengeben, nur „verlässli­
cher Partner“ in der EU und der
Nato sein, mittlerweile formu­
liert sie einen „Gestaltungsan­
spruch“.
Konkret mündet dieser An­
spruch in einer Reihe von Vor­
haben, die im bislang gültigen
Weißbuch aus dem Jahr 2006
höchstens am Rande auftauch­
ten. So sei Deutschland zum
Beispiel bereit, „Führungsver­
antwortung in VN-Missionen“
zu übernehmen und innerhalb
der Nato als „Rahmennation“ zu
wirken. Sprich: Die Deutschen
leiten in Einsätzen ganze Ver­
bände, an die sich kleinere Part­
nerstaaten mit ihren Einheiten
anschließen.
Die Bundesregierung will al­
lerdings nicht nur Einsätze un­
ter dem Dach von UNO und
Nato vorantreiben. Im Gegen­
teil: Deutschland will sich ver­
mehrt „an Ad-hoc-Kooperati­
onen beteiligen oder diese ge­
meinsam mit seinen Partnern
initiieren“. Blaupause ist der Ein­
satz der von den USA geführten
Militärkoalition gegen den IS, an
der sich die Bundeswehr bereits
beteiligt. Solche Allianzen sind
flexibel: In ihnen können sich
willige Staaten auch dann zu­
sammentun, wenn UNO und
Nato einen Einsatz ablehnen.
Auf bestimmte Kompeten­
zen beschränken soll sich die
Bundeswehr für künftige Ein­
sätze nicht. Laut Weißbuch muss
Deutschland „militärische Mit­
tel im gesamten Aufgaben- und
Intensitätsspektrum“ vorhalten.
Ein Schwerpunkt könnte in Zu­
kunft aber auf dem Konzept der
„Ertüchtigung“ liegen, das sich
durch das gesamte Dokument
zieht. Dabei geht es um die „Be­
ratung, Ausbildung und Ausrüs­
tung“ von schwächeren Part­
nern – so wie derzeit im Nord­
irak, wo die Bundeswehr die
Über weite Strecken
liest sich das neue
Weißbuch wie eine
Legitimationsschrift
für neue Auslands­
einsätze
kurdischen Peschmerga-Kämp­
fer mit Waffen versorgt.
Neben solchen Missionen
im Ausland beschäftigt sich
das Weißbuch am Rande auch
noch mit Einsätzen im Inland.
Forderungen aus der Union, sol­
che Einsätze durch eine Grund­
gesetzänderung zu erleichtern,
konnte das Verteidigungsminis­
terium wegen Widerständen in
der SPD nicht im Weißbuch un­
terbringen. Dafür hat sich die
Koalition auf die Formulierung
geeinigt, dass Inlandseinsätze
grundsätzlich schon jetzt „auch
bei terroristischen Großlagen
in Betracht“ kämen. Was dieser
Kompromiss für die Praxis be­
deutet, ist noch unklar.
So oder so ergeben sich aus
den gestiegenen Aufgaben aber
kostspielige Konsequenzen. Im
Weißbuch liest sich das so: „Die
finanziellen Rahmenbedingun­
gen müssen es der Bundeswehr
ermöglichen, ihr in Qualität und
Quantität gewachsenes Aufga­
benspektrum und die bündnis­
politischen Anforderungen er­
füllen zu können.“ Denn derzeit
sei die Truppe hinsichtlich ih­
rer Strukturen und Ressourcen
„noch nicht in dem angestreb­
ten Umfang aufgestellt“. Erfor­
derlich sei, „Aufgabenspektrum
und Ressourcenausstattung der
Bundeswehr wieder in Einklang
zu bringen“. Eine „Trendwende“
sei notwendig. Konkret bedeutet
das: ein drastisch höherer Ver­
teidigungsetat, bessere Waffen
und mehr Personal.
Um die aktuellen Personal­
probleme zu lösen, will die Bun­
desregierung offenbar neue
Wege gehen. So böte „die Öff­
nung der Bundeswehr für Bür­
gerinnen und Bürger der EU ein
Regenerationspotenzial für die
personelle Robustheit“. Sprich:
Die Regierung will die Perso­
nallücken mit Ausländern fül­
len. Andere EU-Staaten setzen
dieses Instrument bereits ein.
Bekanntestes Beispiel ist die
französische Fremdenlegion,
die seit dem 19. Jahrhundert
Ausländer in die Streitkräfte
integriert.
Neben dieser möglichen Öff­
nung der Bundeswehr verord­
net die Bundesregierung ih­
rer Armee ein „modernes Di­
versity Management“. Vielfalt
und Chancengerechtigkeit mit
Blick auf „ethnische Herkunft,
Geschlecht, Religion oder se­
xuelle Orientierung“ sollen gar
Führungsaufgabe werden. Auch
dadurch soll die Bundeswehr
neue Rekruten erreichen.
Während die Bundesregie­
rung der Diversity erstmals ein
eigenes Kapitel widmet, ist ein
anderes Leitbild endgültig aus
dem Weißbuch verschwunden.
„Die Bundesregierung betrach­
tet den Frieden als das höchste
Gut“ – so ein Satz, wie er 1970 zu
lesen war, findet sich heute nicht
mehr. Nur noch vage ist von der
„Förderung von Frieden“ die
Rede, aufgeführt als eines von
mehreren Zielen deutschen Re­
gierungshandelns, noch hinter
der Wahrung des Wohlstands.
Die ökonomischen Interessen
werden wichtiger. Im Weißbuch
2006 wurde bereits als im Inte­
resse Deutschlands bezeichnet,
den „freien Welthandel zu för­
dern und dabei die Kluft zwi­
schen armen und reichen Welt­
regionen überwinden zu hel­
fen“.
Auch hier geht die Bundesre­
gierung jetzt weiter: Es wird nun
explizit als „Auftrag der Bundes­
wehr“ definiert, zur Abwehr von
Bedrohungen für „unsere freien
und sicheren Welthandels- und
Versorgungswege beizutragen“.
Von der Überwindung der Kluft
zwischen armen und reichen
Weltregionen ist übrigens keine
Rede mehr.
Kommentar SEITE 1
taz: Frau Buchholz, was gefällt
Ihnen am neuen Weißbuch?
Christine Buchholz: Man kann
das Weißbuch nur als Ganzes
verstehen. Darin geht es um
die Weißwaschung der eigenen
militärischen Interessenpolitik,
um Aufrüstung und um zukünf­
tige Kriege. Darin sehe ich kei­
nerlei positive Ansätze.
Nicht mal, dass die Bundeswehr auf Diversity-Management setzen soll?
Ich bin natürlich dafür, dass der
Kampf gegen Diskriminierung,
Rassismus und Sexismus auch
in der Bundeswehr geführt wird.
Diese Aspekte sollten aber eine
Selbstverständlichkeit sein und
nicht den Blick auf das grund­
legende Problem mit diesem
Weißbuch verstellen: Es wird
die Bundeswehr in neue mili­
tärische Auseinandersetzun­
gen führen.
Die Bundesregierung stellt zunächst mal fest, dass die Welt
unsicherer geworden ist und
Deutschland reagieren muss.
Ist das falsch?
Wer darauf sinnvoll reagieren
möchte, müsste zunächst die
Ursachen für die neue Sicher­
heitslage analysieren. Dazu ge­
hört, dass die Entstehung des IS
ohne den Irakkrieg nicht mög­
lich gewesen wäre. Die Regie­
rung ignoriert im Weißbuch
aber sowohl diese als auch an­
dere kritische Fragen, zum Bei­
spiel nach Kampfdrohnen oder
nach Posttraumatischen Belas­
tungsstörungen bei Soldatin­
nen und Soldaten. Ich sehe das
Weißbuch daher als PR-Produkt.
Die Regierung malt darin Bedro­
hungsszenarien an die Wand,
um die Bereitschaft in der Be­
völkerung zu erhöhen, den Rüs­
tungsetat massiv zu erhöhen –
und um die Rekrutierungspro­
bleme der Bundeswehr zu lösen.
Die Regierung hält sich die Option von Bundeswehreinsätzen
im Inneren offen. Gibt es Pläne
in Ihrer Partei, dagegen zu klagen?
Wir werden das Weißbuch genau
analysieren und dann schauen,
gegen welche Punkte wir Initi­
ativen starten. Dafür müssen
wir es uns aber erst genau nach­
schauen und mit unseren Fach­
leuten sprechen.
Und was passiert mit dem
Weißbuch, falls die Linke ab
2017 mitregiert?
Das Weißbuch ist ein weiteres
Beispiel dafür, welche große
Einigkeit es in sicherheitspoli­
tischen Fragen zwischen SPD
und CDU gibt. Mit den Positio­
nen zur Aufrüstung, zu künfti­
gen Einsätzen und zur Nato ist
es keine Grundlage, auf der die
Linke regieren kann.
INTERVIEW TOBIAS SCHULZE
Christine Buchholz
■■45, ist Abgeordnete der Linken
im Bundestag. Sie ist Mitglied
des Verteidigungsausschusses
und fordert das
Ende von
Auslands­
einsätzen
und ein
Verbot von
Rüstungs­
exporten.
Foto: Rolf Zöllner