Manuskript Beitrag: Streit um Blaue Plakette – Dieselautos droht Fahrverbot Sendung vom 12. Juli 2016 von Hans Koberstein und Felix Zimmermann Anmoderation: Der folgende Beitrag betrifft 13 Millionen Fahrzeughalter: Ihren Dieselautos droht in vielen Städten Fahrverbot, weil der Grenzwert für gefährliche Stickoxide dort deutlich überschritten wird. Schon vor Jahren hatten Gerichte den Behörden auferlegt, „schnellstmöglich“ die Grenzwerte einzuhalten. Aber die Industrie durfte dennoch weiter Autos verkaufen, die nur auf dem Papier sauber sind und auf der Straße schmutzig. Und die Verkehrspolitiker haben dabei zugesehen - so als wären die Geschäfte der Autobranche wichtiger als die Gesundheit der Bürger. Hans Koberstein über den hohen Preis für jahrelanges Zögern. Text: Rund 13 Millionen deutsche Diesel-Autofahrer werden sie nicht bekommen: die Blaue Plakette - und dürfen nicht in belastete Innenstädte fahren, so wie dieser VW Sharan Diesel. Er ist zu schmutzig. O-Ton Bernd Siemer, Dieselfahrer: Ich kaufe ein deutsches Auto, ich kaufe die neueste Technologie. Und nach vier, fünf Jahren kann ich das alles mehr oder weniger in den Mülleimer schmeißen. Millionen Dieselautos droht ein drastischer Wertverlust, weil sie zu viele Stickoxide in die Atemluft blasen und die Gesundheit schädigen. Darunter leiden vor allem Kinder. Wir sind bei einer Asthma-Schulung für Kinder in Darmstadt. O-Ton Andreas: Dass man keine Luft mehr bekommt. O-Ton Dr. Helen Straube, Kinder- und Jugendärztin, Kinderklinik Darmstadt: Du merkst, dass du keine Luft mehr bekommst. Ist das oft der Fall? O-Ton Andreas Ja, manchmal. O-Ton Dr. Helen Straube, Kinder- und Jugendärztin, Kinderklinik Darmstadt: Okay. Was merken die anderen? O-Ton Felix: Dann geht es einfach manchmal gar nicht mehr, dann kann ich einfach nicht mehr weiter. Viele dieser Kinder waren schon mal im Krankenhaus wegen akuter Luftnot. Bei der Asthma-Schulung lernen sie und ihre Eltern, die Krankheit zu verstehen und mit der Panik bei Luftnot umzugehen. Mehr als jedes zehnte Kind in Deutschland leidet an Asthma. Die Krankheit wird verschärft durch Dieselabgase mit ihren Stickoxiden. O-Ton Dr. Helen Straube, Kinder- und Jugendärztin, Kinderklinik Darmstadt: Es kommt zu Entzündungen im Bronchialgewebe. Das können wir auch nachweisen. Es ist außerdem gut untersucht, dass Kinder vermehrt stationär aufgenommen werden müssen, wenn erhöhte Stickstoffdioxidwerte vorliegen und zwar aufgrund Asthmabronchial, also Atemnotsanfälle oder aufgrund chronischer Bronchitis. Zu viele Stickoxide sind gefährlich, das hat die Weltgesundheitsorganisation WHO 2013 in diesem Bericht zusammengefasst: Stickoxide in der Atemluft führen zu Asthma bei Kindern, Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, geringerer Kopfumfang bei Neugeborenen, mehr Notaufnahmen in Krankenhäusern wegen Herzinfarkt und Atemwegsproblemen. Und Stickoxide führen zu erhöhter Sterblichkeit - schon unterhalb des gesetzlichen Grenzwertes von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Atemluft. Bernd Siemer ist Familienvater und will saubere Atemluft in seiner Stadt Berlin. Deshalb hat er vor wenigen Jahren einen Diesel gekauft, der als „besonders sauber“ beworben wurde. Seit dem VW-Skandal aber ist klar: Sein Diesel bläst besonders viele Stickoxide in die Atemluft. Dabei hat das Auto eine ExtraAbgasreinigung mit „AdBlue“-Eindüsung. O-Ton Bernd Siemer, Dieselfahrer: Ich fühle mich da auch total hintergangen, gerade weil mit dieser „AdBlue“-Geschichte wurde immer gesagt: Gerade die Stickoxide werden damit ‚reingewaschen‘, freigewaschen. Deutschland hat auf die Dieseltechnologie gesetzt. Ich habe dem total vertraut, weil alle haben gesagt: Wir haben das im Griff, und jetzt fühle ich mich wirklich verarscht im großen Ganzen. „Verarscht fühlen“ können sich im großen Ganzen alle DieselAutofahrer. Denn so gut wie alle Diesel-Pkw sind auf dem Papier sauber, nicht aber auf der Straße. Das hat das Umweltbundesamt schon vor Jahren festgestellt. O-Ton Martin Schmied, Verkehrsexperte Umweltbundesamt: Wir haben festgestellt, dass im Durchschnitt, im Mittel, alle Diesel-Pkw deutlich mehr emittieren im realen Fahrbetrieb. Das kann man deutlich zeigen bei einem Euro 5 Diesel-Pkw, der emittiert im Schnitt etwa viermal mehr, als der Grenzwert erlaubt. Die schmutzigen Dieselautos belasten die Atemluft in 90 deutschen Städten - so sehr, dass der gesetzliche Grenzwert für Stickstoffdioxid seit Jahren überschritten ist. Beispiel Berlin. An einigen staatlichen Messstellen wird der Grenzwert noch eingehalten. Aber besonders in der Innenstadt liegt die Belastung über Grenzwert. Die gefährlichen Stickoxide dringen selbst in Nebenstraßen, gelangen in Häuser. Das zeigen Messungen im Auftrag von Greenpeace in einer Berliner Kita. Das mobile Messgerät zeigt: Auch hier - in der Kita - liegt die Stickoxidbelastung über Grenzwert. O-Ton Daniel Moser, Greenpeace: Hier in der Kita solche Werte zu messen, im Innenraum, ist beängstigend und schockierend, denn diese Werte zeigen ganz klar, dass die Kinder, die hier jeden Tag spielen und sich aufhalten, eben Belastungen ausgesetzt sind, die ganz klar gesundheitsschädigend sind. Die hohe Belastung lässt sich nur verringern, wenn schmutzige Dieselautos aus der Innenstadt verschwinden, sagt Deutschlands oberste Umweltbehörde. O-Ton Martin Schmied, Verkehrsexperte Umweltbundesamt: Dadurch, dass die Diesel-Pkw einen Großteil der Belastung ausmachen, führt kein Weg vorbei, vor allem an diese DieselPkw heranzugehen. Daher müssen Sie die über kurz oder lang aussperren, weil sonst werden Sie die Grenzwerte nicht einhalten. Das ist in Fachkreisen längst bekannt. Geschehen ist aber so gut wie nichts, sagt Joachim Lorenz. Er ist Beamter der Stadt München im Ruhestand. 20 Jahre lang hat er Luftreinhaltepläne für die Stadt erarbeitet, um die Stickoxidwerte unter den Grenzwert zu senken - ohne Erfolg. O-Ton Joachim Lorenz, ehemaliger Leiter Referat für Gesundheit und Umwelt München: Die Politik hat mir als quasi Verwaltungschef einer städtischen Behörde immer gesagt, dass die Maßnahmen nicht gegen den Autoverkehr gerichtet sein dürfen. Also, immer wenn ich sehr weitreichende, möglicherweise auch wirksame Maßnahmen vorgeschlagen habe, hat die Politik gekniffen, weil die Maßnahmen dann zu stark beschränkend auf den Autoverkehr ausgerichtet gewesen wären. Der Oberbürgermeister von München möchte sich zu dem Thema nicht äußern, wohl aber der Familienvater Oliver Freitag. Er wohnt in der Münchner Innenstadt und will die Schadstoffbelastung über Grenzwert in seiner Gegend nicht länger hinnehmen. O-Ton Oliver Freitag, Familienvater: Wir haben hier ganz viele kleine Kinder, immer mehr, und es ist einfach die Gefahr, dass sie gesundheitliche Schäden davontragen, die sie das ganze Leben begleiten. Wir haben auch alte Leute, die darunter leiden, und da muss einfach was verbessert werden. Freitag fährt selbst ein Dieselauto und wäre von Fahrverboten betroffen. O-Ton Oliver Freitag, Familienvater: Wenn diese Maßnahme die dann notwendige ist, um hier vernünftige Luftverhältnisse herzukriegen, dann müssen wir auch in diesen sauren Apfel beißen und das Auto ersetzen ist ja klar. Freitag engagiert sich bei dem Münchner Verein „Green City“. Der bereitet jetzt ein Bürgerbegehren vor. Die Stadt München soll zum Handeln gezwungen werden. O-Ton Andreas Schuster, Green City, München: Wir fordern nichts weniger als die Einhaltung der gültigen Gesetzgebung. Und ich glaube, wenn wir die Münchnerinnen und Münchner befragen: Wollt ihr zur Aufrechterhaltung eurer eigenen Gesundheit, dass die Stadt München nur einfach Gesetze einhält, ich glaube, dann sagen viele: Ja, das wollen wir! Denn es kann nicht sein, dass es anders ist. So sieht das auch das Verwaltungsgericht München. Das hat jetzt ein Zwangsgeld gegen den Freistaat Bayern beschlossen, weil der nichts gegen die ständigen Grenzwertverstöße in München unternimmt. Geklagt hatte die Deutsche Umwelthilfe in Berlin. Anwalt Remo Klinger plant schon die nächsten rechtlichen Schritte. O-Ton Prof. Remo Klinger, Rechtsanwalt: Nach dem Zwangsgeld kommen eben Zwangshaftandrohungen gegen den Behördenleiter und Behördenleiter ist die Umweltministerin. Das sind die Maßnahmen, die das Recht vorsieht. Die Zwangshaft heißt einfach, man kommt solange in Haft, bis man etwas tut. Seit Jahren klagen Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe und sein Anwalt Remo Klinger auf Einhaltung der Gesetze - und gewinnen. Die Gerichte urteilen: Die zuständigen Umweltbehörden müssen für saubere Luft sorgen – wenn es sein muss, mit Fahrverboten. So etwa im Fall Darmstadt - gegen das Land Hessen, das Verwaltungsgerichtsurteil ist von 2012. Passiert ist bisher wenig. O-Ton Jürgen Resch, Geschäftsführer Deutsche Umwelthilfe: Es gibt viele Maßnahmen, die in Hessen durchgeführt werden könnten, man macht es dort genauso wenig wie in BadenWürttemberg oder anderen Städten, man wartet bräsig darauf, dass sich von alleine die Qualität der Luft verbessert. Wir fragen nach bei der grünen Umweltministerin Hessens. O-Ton Frontal 21: Warum haben Sie es all die Jahre nicht geschafft, dass die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten werden. Das ist doch eigentlich Ihre gesetzliche Pflicht. O-Ton Priska Hinz, B‘90/GRÜNE, Landesumweltministerin Hessen: Wir haben alle Maßnahmen ausgeschöpft, die wir ausschöpfen können mit landesrechtlichen Maßnahmen, jetzt liegt es an dem Bund, uns die Blaue Plakette an die Hand zu geben, dann können wir viel mehr tun. Der Bund soll es nun richten - und per Verordnung die Blaue Plakette einführen. Das haben die Umweltminister der Länder im April einstimmig beschlossen. Dann müssen die betroffenen Städte neue Umweltzonen einführen. Nur die allerneuesten Dieselautos mit Abgasnorm Euro 6 bekommen eine Blaue Plakette und dürfen einfahren. O-Ton Ulrich Chiellino, ADAC: Also, ganz klar: Augen auf beim Dieselkauf. Am besten, man lässt sich das schriftlich geben, dass der Realausstoß bei den Dieselfahrzeugen nicht abweicht von dem, was der Hersteller in seinen Prüfzyklen angibt, damit man auch hinterher auch eine Handhabe hat, wenn es dementsprechend dann anders sein sollte. Dieser Ratschlag kommt für Bernd Siemer zu spät. Wenn die Blaue Plakette kommt, kann er seinen Diesel-VW nur noch mit hohem Wertverlust verkaufen. O-Ton Bernd Siemer, Dieselautofahrer: Für mich müsste einfach geschehen, dass das Auto zurückgekauft werden würde, und ich mir dementsprechend ein sauberes Auto kaufen könnte. Und so, wie das jetzt so lässig gehandhabt wird, kommt es ja beim Verbraucher an, dass der Verbraucher die Zeche zahlen muss. Und das verlange ich von der Politik, dass das aufhört. Die Automobilindustrie, so viel ist klar, will ihren Kunden den Schaden nicht ersetzen. Dabei hat die Industrie schmutzige Dieselautos unters Volk gebracht - und die Bundesregierung hat dabei zugesehen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. 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