taz.die tageszeitung

Halbfinale: Next Brexit, please!
Warum Portugal gegen Wales gewinnen soll ▶ EM taz Seite 15–18
AUSGABE BERLIN | NR. 11062 | 27. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
MITTWOCH, 6. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
AfD-Chef wählt Notausgang
Ja zum „Nein
heißt Nein“
Neue
Gesetze im Bundestag
SEXUALSTRAFRECHT
KARLSRUHE taz | Noch in dieser
FREIHANDEL EU lenkt
ein: Die nationalen
Parlamente dürfen doch
über das Ceta-Abkommen mit Kanada mit­
entscheiden ▶ SEITE 2, 10
FREIDENKER Ein ge-
wagtes Leben: Nachruf
auf den iranischen
Filmemacher Abbas
Kiarostami ▶ SEITE 13
BERLIN Radfahren in
der Stadt: Senat ignoriert Ratschläge ▶ SEITE 21
Woche wird der Bundestag ein
neues Sexualstrafrecht beschließen. Am Mittwoch wird es im
Rechtsausschuss beraten und
am Donnerstag im Bundestag
abgestimmt. Künftig soll im Sexualstrafrecht das Prinzip „Nein
heißt Nein“ gelten. Damit wird
eine alte Forderung der Frauenbewegung erfüllt. Wegen eines
„sexuellen Übergriffs“ macht
sich dann strafbar, „wer gegen
den erkennbaren Willen“ eines anderen sexuelle Handlungen vornimmt. Außerdem
wird mit dem neuen Delikt „sexuelle Belästigung“ das „Grapschen“ strafbar. Nach den
Silvester­
übergriffen von Köln
hatte eine Gruppe von Abgeordneten einen Änderungsantrag erarbeitet, der weiter geht
als ursprünglich geplant und
nun beschlossen wird. Das neue
­Sexualstrafrecht soll auch für
Ausweisungen Folgen haben.
Wer wegen „sexuellen Übergriffs“ zu einer Strafe von mindestens einem Jahr verurteilt
wird, dürfte in der Regel sein
Aufenthaltsrecht verlieren. CHR
▶ Schwerpunkt SEITE 3
▶ Meinung + Diskussion SEITE 10
AFDEXIT Spaltung der
Landtagsfraktion
in BadenWürttemberg:
Nach Streit über
antisemitische
Schriften eines
Kollegen verlassen
13 von 23 AfDAbgeordneten ihre
Fraktion – auch
der AfD-Bundes­
vorsitzende Jörg
Meuthen ▶ SEITE 5
Foto oben: dpa
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Uni Mainz
bereut Verträge
verboten verfolgt mit wachsendem Interesse die Vorgänge in der schrumpfenden
AfD-Fraktion von Baden-Württemberg, rät den Abtrünnigen
von dem Namen „Alfa“ ab und
schlägt als neuen, eingängigen
­Namen vor:
Alternative zur Alternative
für Deutschland
Kein Witz: AfD-Bundeschef Jörg Meuthen am Dienstag in Stuttgart kurz vor seinem Rücktritt als AfD-Landtagsfraktionschef Foto: Bernd Weissbrod/dpa
TAZ MUSS SEI N
KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE ZUR SPALTUNG DER AFD IN BADEN-WÜRTTEMBERG
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30627
4 190254 801600
BERLIN taz | Die Universität
Mainz hat schwere Fehler in
zwei Verträgen mit der Boehringer Ingelheim Stiftung eingeräumt. „Ein Vetorecht bei Berufungsvereinbarungen war nicht
intendiert und hat in den Ver­
trägen nichts verloren“, sagte
der Präsident der Universität,
Georg Krausch, gegenüber der
taz. Um einen möglichen Missbrauch in der Zukunft auszuschließen, wolle man die Verträge entsprechend ändern.
Die Stiftung hatte insgesamt
150 Millionen Euro gespendet.
▶ Schwerpunkt SEITE 4
F
ast alle Versuche, in Deutschland
rechtspopulistische Parteien zu etablieren, sind an dem gleichen Widerspruch zerschellt. Die Rechten polterten gegen den liberalen Mainstream
und Migranten, wollten aber gleichzeitig als wahre Konservative gelten. Genau
dieser Spagat ist Republikanern, SchillPartei und anderen rechten Parteien in
schöner Regelmäßigkeit misslungen.
Die antiliberalen Hassreden zogen magnetisch Rechtsextreme an. Der Schein
des Gutbürgerlichen verschwand, übrig
blieben obskure rechte Spittergruppen.
Die AfD schien bisher das Gegenteil zu beweisen. Doch der Aufstieg der
Rechtspopulisten kann mit dem Austritt von Parteichef Jörg Meuthen und
Das Ende des Aufstiegs
einem Dutzend Abgeordneten aus der
AfD-Fraktion in Baden Württemberg vorbei sein. Spaltungen und innere Kämpfe
wirken auf das rechtsbürgerliche Publikum, das es lieber aufgeräumt mag, ohnehin deprimierend.
Dass der Chef der AfD nun aus der eigenen Fraktion flieht, ist mehr als ein
Krisenzeichen. Meuthen beteuert zwar
unverdrossen, dass die Rechtspopulisten „eine staatstragende Partei sind“.
Doch das ist die AfD nicht. Die Fraktion
in Stuttgart ist nicht in der Lage, einen
Abgeordneten auszuschließen, der das
„Talmud-Judentum“ für den „inneren
Feind des christlichen Abendlandes“
hält. Schon die Vorgeschichte dieses Eklats war bezeichnend. Wer ein paar Zitate
aus Wolfgang Gedeons Agitpropschriften las, wusste, dass man kein wissenschaftliches Gutachten braucht, um zu
erkennen, dass es sich hier um puren Antisemitismus handelt. Doch knapp die
Hälfte der AfD-Fraktion in Stuttgart ist
nicht in der Lage, das Selbstverständliche zu tun. All das passiert nicht im Osten, wo Höcke & Co. völkische Propaganda forcieren, sondern im Südwestern der Republik. Dort, wo die AfD sich
Innere Kämpfe wirken
auf das rechtsbürgerliche
Publikum deprimierend
um das Image bemüht, das liberal-konservative Bürgertum zu verkörpern.
Das Erfolgsgeheimnis der AfD war es
bis dato, wie ein Staubsauger allen Verdruss aufzusammeln und gegen die da
oben zu bündeln. Die Legende, die einzige Opposition in „der linksgrün versifften Republik“ zu sein, so Parteichef Jörg
Meuthen, war der Kitt, der auch das Unvereinbare verband.
Kann sein, dass es mit diesem glatten Aufstieg erst einmal vorbei ist. Der
Gedeon-Eklat ist keine Etappe in einem
Häutungsprozess, an dessen Ende eine
rechtskonservative, demokratische Partei stehen wird. Er zeigt vielmehr, welchen geistigen Schutt die AfD mit sich
führt.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
US-WAH LKAMPF
NACH STRAATHOF-URTEI L
DI E TAZ I M N ETZ
Hillary Clinton entkommt dem FBI
Mehr TierschutzKontrollen gefordert
taz.de/twitter
MAGDEBURG | Nach dem Tier-
taz.de/facebook
WASHINGTON | Die US-Bundes-
Vor 70 Jahren: Micheline Bernar­dini
mit dem ersten Bikini Foto: dpa
Vier Dreiecke
und Schnüre
I
t was an Itsy Bitsy Teenie
Weenie Yellow Polka Dot Bikini“ – so klang nicht nur der
Sommerhit des Jahres 1960, der
Song von Bryan Hyland löste
auch einen Kassensturm auf Bikinis aus. Zu knapp, zu unzüchtig; das war der Ruf des damals
längst nicht mehr neuen Zweiteilers. Vor 70 Jahren wurde er
erstmals in Paris vorgeführt.
Und so handelt Hylands Lied mit
der eingängigen Melodie denn
auch davon, wie sich eine junge
Frau partout nicht aus der Kabine traut in ihrem „klitzekleinen mini-wini“ Bikini.
Auch Bikini-Erfinder Louis
Réard fand im Juli 1946 zunächst
kein Mannequin. Nur die Nackttänzerin Micheline Bernardini
brachte den Mut auf und präsentierte die „vier Dreiecke und
ein paar Schnüre“ am 5. Juli im
Pariser Schwimmbad Molitor.
Die Idee zum Zweiteiler soll
Réard am Strand von St. Tropez gekommen sein. Im Laufe
der 1930er Jahre hatte sich das
Schönheitsideal von der „noblen
Blässe“ zur „gesunden Bräune“
gewandelt. Diese zu erreichen,
war im damals recht prüden
Europa jedoch schwierig. In
Deutschland etwa galt seit 1932
der sogenannte Zwickelerlass,
der das Tragen von Zweiteilern
beim Baden untersagte. Auch
in Frankreich wurde hochgeschlossen gebadet. Und so beobachtete Réard Frauen, die mühevoll ihre Badeanzüge hochkrempelten, um mehr Sonne an ihre
Haut zu lassen.
Réard wusste, dass das
knappe Stück Stoff mediale Beachtung finden würde. Deswegen bedruckte der gelernte Automechaniker seine Kreation
über und über mit Schlagzeilen. Réard wollte provozieren.
Ein richtiger Bikini sei maximal
so groß, dass man ihn durch einen Ehering ziehen könne. Als
Namensgeber wählte er das Bikini-Atoll, jene Insel, auf der die
USA wenige Tage zuvor Atomwaffentests durchgeführt hatten. Sicher eine explosive Wahl,
geschmackvoll nicht unbedingt.
Doch der Erfolg ließ auf sich
warten. In vielen Ländern war
das bauchfreie Baden gar verboten. Dann kam 1962 „Bond
jagt Dr. No“ in die Kinos – und
Ursula Andress schuf im Bikini
die Legende des Bond-Girls. Seinen 70. Geburtstag feiert der Bikini als „Must Have“ der Badesaison – auch wenn ein Badeanzug beim Herumtollen in
den Wellen wohl die besser sitzende Wahl bleibt. DINAH RIESE
Der Tag
M IT TWOCH, 6. JU LI 2016
polizei FBI sieht keinen Grund
für eine Anklageerhebung gegen Ex-Außenministerin Hillary
Clinton in der Affäre um ihren
privaten E-Mail-Server. Dies sei
auch die Empfehlung seiner Behörde an das Justizministerium,
sagte FBI-Chef James Comey am
Dienstag. Es gebe keine klaren
Hinweise dafür, dass Clinton
oder ihre Mitarbeiter hätten Gesetze brechen wollen. Vielmehr
lägen Anzeichen für einen „extrem verantwortungslosen Umgang“ mit den E-Mails vor. Für
einen erfolgreichen Hackerangriff hätten die Ermittler zwar
keine Belege gefunden. Allerdings könne dies auch nicht ausgeschlossen werden. Über eine
Anklage gegen die demokratische Präsidentschaftsbewerberin muss nun das Justizministerium entscheiden. Clinton stand
zuletzt wegen der Nutzung eines
privaten E-Mail-Kontos während ihrer Zeit als Außenministerin zunehmend unter Druck.
Am Samstag hatte sie dem FBI
freiwillig Auskunft über die Nutzung des Computers erteilt. Ihr
republikanische Rivale Donald
Trump nennt die Affäre ein
Beispiel dafür, dass man Clinton nicht trauen dürfe. (rtr)
haltungsverbot gegen den
Schweinehalter Straathof hat
der BUND Sachsen-Anhalt eine
Überprüfung aller Tierhaltungsanlagen im Land gefordert. Tierschützer hofften nun, dass die
Entscheidung des Verwaltungsgerichts Magdeburg Schule mache, so der BUND. Sie sei ein
„Meilenstein mit bundesweiter
Auswirkung im Umgang des behördlichen Tierschutzes mit der
Tierhaltungsindustrie“. Das Gericht hatte zuvor die Straat­hofKlage gegen ein Tierhaltungsverbot abgewiesen. (epd)
taz intern
Presserat-Rüge
Der Presserat hat eine Rüge gegen die taz ausgesprochen. Die
taz hatte am 3. 3. 2016 unter der
Überschrift „Einsamer Segler“
über eine mumifizierte Leiche auf
einer Yacht berichtet, samt Abbildung. Unangemessen sei die
Darstellung insbesondere dann,
wenn der Mensch zu einem Objekt herabgewürdigt werde. Das
Foto ermögliche es, dem Toten,
so wie er gestorben ist, direkt
ins Gesicht zu sehen, er werde
zu einem Objekt voyeuristischer
Betrachtung. Die ironisierende
Beschreibung sei herabwürdigend und nicht durch öffentliches
Informationsinteresse gedeckt.
taz.de/vimeo
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Liken
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www.taz.de
Bei Ceta knickt EU-Chef Juncker ein
EU-KOMMISSION Nach Kritik gesteht die EU allen nationalen Parlamenten ein Zustimmungsrecht über das
Abkommen mit Kanada zu. Ceta soll aber in Kraft treten, noch bevor alle Parlamente abgestimmt haben
AUS BRÜSSEL ERIC BONSE
Am Ende war Jean-Claude Juncker der Inhalt wichtiger als
die Form. Das umstrittene Freihandelsabkommen Ceta zwischen der EU und Kanada soll
daher nun doch als „gemischtes Abkommen“, also mit Beteiligung des Bundestags und anderer nationaler Parlamente ratifiziert werden. Juncker knickte
ein, verkaufte es aber als Sieg der
Vernunft.
Allerdings ging der Chef der
Brüsseler EU-Behörde nicht
selbst in die Bütt, um seine
Kehrtwende zu erklären. Das
überließ der politisch ange-
schlagene Luxemburger seiner Handelskommissarin Cecilia Malmström. Und die pries
erst einmal die Vorteile dieses
„fortschrittlichsten
Freihandelsabkommens aller Zeiten“.
Damit all die Vorteile von Ceta
schnell greifen, wolle man aber
keine Zeit mehr verlieren, so
Malmström weiter. Deshalb soll
das Abkommen nun so schnell
„Fortschrittlichstes
Freihandelsabkommens aller Zeiten“
KOMMISSARIN CECILIA MALMSTRÖM
wie möglich ratifiziert werden
– durch das Europaparlament
und 42 nationale und regionale
Parlamente, Großbritannien
eingeschlossen.
Nach Zustimmung der EU-Abgeordneten soll Ceta vorläufig in
Kraft treten, fügte die Schwedin hinzu. Im Herbst könnte es
schon so weit sein. Doch was ist,
wenn ein nationales Parlament
Nein zu Ceta sagt? Was passiert,
wenn das höchste EU-Gericht,
das noch über ein Handelsabkommen mit Singapur befinden muss, neue rechtliche Hürden aufstellt?
Dazu wollte sich Malmström
nicht äußern. Auch Juncker hielt
Er will Ceta retten: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Foto: Vincent Kessler/reuters
Spreewaldgurke bleibt, Rind kommt
CETA
mit einer breiten Bewegung gegen den „neoliberalen“ Kurs der
EU und gegen Sonderrechte für
Konzerne und andere private Investoren zu tun.
Sie wird von außerparlamentarischen Bewegungen wie Attac und Campact organisiert, die
mit Petitionen gegen das „trojanische Pferd Ceta“ anrennen.
Diese bejubelten am Dienstag
die Kehrtwende der EU-Kommission. „Die Kritik von Bürgerinnen und Bürgern ist in
Brüssel angekommen“, twitterte
auch LobbyControl.
Widerstand kommt aber
weiter aus Städten wie Barcelona, die sich zur „TTIP- und
Ceta-freien Zone“ erklärt hat.
Eine weitere Front steht auf
der Ebene der nationalen und
regio­nalen Parlamente. Sie fordern ein Mitspracherecht bei
wichtigen EU-Entscheidungen.
Während sich der Bundestag
noch nicht auf eine Position
festgelegt hat, sagt die französischsprachige belgische Region
Wallonie „Non“ zu Ceta.
Die dritte und wohl entscheidende Front verläuft zwischen der EU-Kommission und
den nationalen Regierungen.
Sie werfen sich wechselseitig
vor, im Streit um den Freihandel versagt zu haben. Vor allem
die deutsche Regierung habe
es versäumt, offensiv für Ceta
und TTIP zu kämpfen, heißt es
in Brüssel.
Angeheizt wird der Streit
durch den Sieg der EU-Gegner
in Großbritannien. Auf britischen Druck hatte die EU-Kommission schon vor dem Brexit-Referendum angekündigt,
nationale Parlamente künftig
stärker an EU-Entscheidungen
zu beteiligen.
Meinung + Diskussion
SEITE 10
THEMA
DES
TAGES
sich bedeckt. „Ich habe auf die
Staats- und Regierungschefs
und auf die nationalen Parlamente gehört“, ließ er schriftlich
mitteilen. Dabei hatte er noch
vor einer Woche beim EU-Gipfel erklärt, dass die nationalen
Abgeordneten bei Ceta nichts zu
melden hätten.
Nun sollen sie doch mitent­
scheiden. Damit geht ein wochenlanger Machtkampf zu
Ende. Im Kern geht es dabei um
die Rolle der Mitgliedstaaten in
der Handelspolitik, aber auch
um den künftigen Kurs der EU.
Juncker und Malmström
kämpfen gleich an drei Fronten: Zum einen haben sie es
Was steht drin im europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen? Wo sind die Risiken, wo der Nutzen?
BERLIN taz
| Freihandelsabkommen galten lange als
Gähnthema. Seit 2009 wurde
Ceta, das EU-Abkommen mit
Kanada, verhandelt, kaum jemand störte sich daran. Aber
dann kam die große „Schwester“ – TTIP – in die Diskussion.
Ceta gilt als „Blaupause“ für den
hochumstrittenen Vertrag zwischen den USA und der EU: Die
Liste der Kritikpunkte an TTIP ist
lang – und gilt ähnlich für Ceta.
Skeptiker fürchten auch hier
Einschnitte beim Verbraucherschutz, eine Aushöhlung der De-
mokratie und zu viel Macht für
Großkonzerne.
Seit Ende 2014 ist Ceta – anders als TTIP – ausverhandelt. Inzwischen liegt das 1.600 seitige
Abkommen vor. Die EU-Kommission verspricht, dass Europas Firmen damit Zölle in Höhe
von 500 Millionen Euro jährlich
sparen, durch weniger Papierkram und Zertifizierungen noch
mal die gleiche Summe. Ceta soll
die Märkte weitgehend öffnen,
so die Europas für kanadisches
Rindfleisch und die Kanadas für
Käse aus Europa. Gleichzeitig
sollen 145 EU-Herkunftsbezeichnungen in Übersee geschützt
bleiben, so die für Spreewälder
Gurken oder Tiroler Speck. Die
Kommission hofft auf ein langfristiges Plus beim Waren- und
Dienstleistungsaustausch von
23 Prozent, allein die deutsche
Wirtschaftsleistung erhöhe sich
um jährlich 0,19 Prozent.
Kritiker des Abkommens halten das für mikroskopisch wenig
angesichts der Gefahren durch
Ceta. Tatsächlich ist Kanada als
Handelspartner nicht besonders wichtig für die EU. Der Wa-
renaustausch mit Deutschland
betrug 2015 etwa 14 Milliarden
Euro. Damit lag Kanada auf Platz
31 der deutschen Handelspartner, knapp vor Portugal und Singapur. Umgekehrt ist Europa
nach den USA der zweitwichtigste Handelspartner der Kanadier: Immerhin knapp 10 Prozent des Außenhandels entfallen auf die EU.
In etlichen brisanten Feldern, versichert Brüssel, verändert sich für Europa nichts. Als
Beleg verweist die Kommission
auf eine „Arbeitsmarktklausel“.
Auch Mindestlohn oder Tarifverträge seien nicht in Gefahr.
Beim besonders umstrittenen Thema Investitionsschutz
haben die Europäer sogar im
Nachhinein eine Regelung in
Ceta verhandelt, die engere
Grenzen für die Streitschlichtungsverfahren zwischen Konzernen und Staaten setzt: Nun
soll es einen öffentlichen Handelsgerichtshof statt der vorher
geplanten privaten Schiedsgerichte geben – eine „Paralleljustiz“ sei so unmöglich.
KAI SCHÖNEBERG
Schwerpunkt
Sexualstrafrecht
M IT TWOCH, 6. JU LI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Was bedeutet „Nein heißt Nein“ eigentlich? Was wird sich mit
den neuen Paragrafen ändern? Und wie praktikabel sind sie?
„Auch Kopfschütteln oder Weinen genügt“
GESETZ Die Juristin
Tatjana Hörnle
erklärt, was „Nein
heißt Nein“ in der
Praxis bedeutet
und warum die
Reform nicht zu
mehr Falsch­
beschuldigungen
führt
INTERVIEW CHRISTIAN RATH
taz: Frau Hörnle, am Donnerstag wird der Bundestag
des neue Sexualstrafrecht beschließen. Was bedeutet „Nein
heißt Nein“ eigentlich?
Tatjana Hörnle: Künftig ist es
bereits strafbar, wenn der Täter
sexuelle Handlungen am Opfer
gegen dessen „erkennbaren Wil­
len“ ausübt.
Und das ist neu?
Ja. Bisher war für die sexuelle
Nötigung und Vergewaltigung
erforderlich, dass der Täter das
Opfer entweder mit Gewalt oder
mit schweren Drohungen oder
durch Ausnutzen einer schutz­
losen Lage dazu brachte, sexu­
elle Handlungen zu dulden.
Die entscheidende Frage wird
künftig also sein, was war der
­„erkennbare Wille“ des Opfers?
Ja.
Es genügt, wenn die Frau zu
sexuellen Handlungen „Nein“
sagt?
Ja. Auf den Wortlaut kommt es
aber nicht an. Es kann auch ein
„Hör auf!“ sein oder „Lass das!“.
Es muss aber eindeutig sein. Ein
schlecht gelauntes „Muss das
sein?“ genügt nicht.
Ein Wille kann aber auch dann
erkennbar sein, wenn nichts
gesagt wird?
Ja. Es genügt, wenn der Wille
klar zum Ausdruck kommt. Al­
lerdings reicht das innerliche
Empfinden nicht, wenn es nicht
erkennbar ist.
Wie kann ein Nein zum Ausdruck kommen, ohne dass gesprochen wird?
Zum Beispiel durch Kopfschüt­
teln oder Weinen.
Genügt auch ein lustloser Gesichtsausdruck?
Nein, auch nonverbale Signale
müssen eindeutig sein.
Der BGH-Richter und Kolumnist Thomas Fischer kritisiert,
dass hier schon Fahrlässigkeit
bestraft wird, wenn der Täter
den erkennbaren Willen der
Frau nicht erkennt und deshalb missachtet.
Das ist nicht richtig. „Er­kennbar“
dient der Abgrenzung von „in­
nerlich“. Den ent­gegenstehenden
Willen des Opfers muss der Täter
jedoch erkannt haben. Der sexu­
Klar zeigen, wenn man nicht will. Ein schlecht gelauntes „Muss das sein?“ reicht da nicht aus Foto: Judith Dekker/Hollandse Hoogte/plainpicture
elle Übergriff ist kein Fahrlässig­
keitsdelikt.
Es genügt für den Täter also zu
sagen: „Ich habe das Kopfschütteln nicht gesehen“? Und schon
fehlt dem Täter der ­Vorsatz und
er bleibt straffrei?
Eine solche Aussage muss schon
plausibel und glaubwürdig sein.
Offensichtliche Schutzbehaup­
tungen dürften in der Regel kei­
nen Erfolg haben.
Sind solche Fragen – was das
Opfer ausgedrückt hat, was der
Täter verstanden hat – wirklich
geeignet für ein Gerichtsverfahren?
Menschliche Kommunikation
ist bei vielen Delikten relevant,
etwa beim Betrug. Was hat der
Verkäufer versprochen? Wollte
er den Kunden täuschen? Da
gibt es auch große Beweis­
probleme. Trotzdem ist der Be­
trug ganz selbstverständlich
strafbar, und niemand will das
ändern.
Noch mal Thomas Fischer: Er
lehnt das neue Gesetz auch
deshalb ab, weil es Frauen mit
unmündigen Kindern gleichsetze. Was ist dran an diesem
Vorwurf?
Das ist eine absurde Behaup­
tung ohne juristische Substanz.
Sexuelle Handlungen mit Kin­
dern sind strafbar, selbst wenn
das Kind zustimmt. Dagegen
kann eine Frau sexuellen Hand­
lungen mit einem Mann natür­
lich rechtlich wirksam zustim­
men. Dass künftig das Nein der
Frau geschützt wird, ändert da­
ran überhaupt nichts.
Ein weiteres Problem der neuen
Rechtslage: Ein Paar liegt im
Bett, sie will Sex. Er sagt, er sei
zu müde. Sie gibt nicht auf und
streichelt seinen Penis, bis er
doch Lust hat. Ist das künftig
strafbar, weil sie sein Nein ignoriert hat?
Das Verhalten der Frau mag
zwar den Tatbestand des neuen
Gesetzes erfüllen. Aber ich bitte
Sie, welcher Mann zeigt seine
Partnerin nach einer solchen
Situation an?
Unmittelbar danach tut er
das sicher nicht. Aber vielleicht geht sie einen Monat
später fremd. Er trennt sich,
ist ­verletzt und zeigt sie nun
wegen ihrer mehrfachen
­
­sexuellen Übergriffe an. Was
soll die Staatsanwaltschaft
tun?
Im Lauf von Beziehungen gibt
es viele Vergehen, etwa Belei­
digungen. Und im Verlauf von
Trennungen wird mit Blick auf
bestimmte Gegenstände der
Vorwurf der Unterschlagung er­
hoben. Das Strafrecht ist nicht
dazu da, all solche Vergehen
in Beziehungen aufzuarbeiten.
Hier würde das Verfahren we­
gen „geringer Schuld“ einge­
stellt.
Sehen Sie eine Beziehung als
rechtsfreien Raum?
Natürlich nicht. Es war ein
wichtiger Schritt, dass seit den
1990er Jahren auch die Verge­
waltigung in der Ehe strafbar
ist. Aber das von Ihnen geschil­
derte Verhalten ist damit ja wohl
nicht zu vergleichen.
Schauen wir uns die Reform
mal von der anderen Seite an.
Geht sie denn überhaupt weit
genug? Die Istanbul-Konvention des Europarats verlangt,
dass jede „nicht einverständliche“ sexuelle Handlung bestraft wird. Das geplante Gesetz
greift diese sehr weitgehende
Formulierung aber nicht auf …
Die Mitgliedstaaten des Europa­
rats haben eine gewisse Freiheit
beim Wortlaut der Umsetzung,
solange das sexuelle Selbstbe­
stimmungsrecht konsequent
geschützt wird.
Aber es geht doch um ein anderes Konzept. Wenn nur einverständliche sexuelle Handlungen straffrei sein sollen,
heißt das Motto „Nur Ja heißt
Ja“. Wäre das nicht ein noch
besserer Schutz der sexuellen
Selbstbestimmung?
Es ist moralisch sicher ein gu­
tes Konzept, beim Sex immer
auf ein ausdrückliches Ja des
anderen zu warten. Gerade für
die Erziehung und Sensibilisie­
rung junger Menschen halte ich
das für geeignet. Dieses Konzept
sollte aber nicht mit strafrechtli­
chen oder anderen Sanktionen
verknüpft werden.
Warum nicht?
Beim Sex gibt es immer wieder
ambivalente, uneindeutige Situ­
ationen. Es wäre unfair, die Ver­
antwortung dann allein beim
Täter zu verorten. Es ist vielmehr
sinnvoll, dass auch vom Opfer
gewisse Eigenverantwortung
verlangt wird, indem es zeigen
muss, wenn es sexuelle Hand­
lungen ablehnt.
Was ist nun die Bedeutung der
bevorstehenden Reform? Wird
es mehr Verurteilungen geben?
Es gibt jährlich nur eine kleine
Zahl von Fällen, bei denen die
Beweislage gut ist, aber die
Rechtslage eine Verurteilung
verhinderte. Meist scheitert
die Verurteilung wegen Sexual­
delikten bisher an der Beweis­
barkeit. Das wird so bleiben. Es
kommt aber auch nicht darauf
an, wie viele zusätzliche Verur­
teilungen es gibt.
Worauf dann?
Dass das sexuelle Selbstbestim­
mungsrecht erstmals konse­
quent im Strafgesetzbuch um­
gesetzt wird. Dass ein Nein zu
sexuellen Handlungen endlich
rechtlich ernst genommen wird.
Das wird noch in Jahrzehnten
als historischer Moment aner­
kannt werden.
Kritiker befürchten, dass es
künftig zu mehr Falschbeschuldigungen kommt. Sie
auch?
Nein. Wer jemandem eine Ver­
gewaltigung anhängen will,
konnte das auch bisher tun. Bei
Sexualdelikten sind meist nur
zwei Menschen zugegen. Es
steht also Aussage gegen Aus­
sage. Letztlich kommt es im­
mer auf die Plausibilität und
Glaubwürdigkeit der Aussa­
gen an. Ich sehe deshalb keine
neuen Gefahren durch die Re­
form. Und natürlich gilt auch in
Zukunft der Satz „Im Zweifel für
den Angeklagten.“
Tatjana Hörnle
■■ist Professorin für
Strafrecht
an der
HumboldtUniversität
Berlin und
Foto: Holznagel
gilt als
führende Expertin für Sexualstrafrecht
„Nein heißt Nein“ wird Gesetz
REFORM
Große Koalition führt neue Delikte ein: „sexueller Übergriff“, „sexuelle Belästigung“, „Straftaten aus Gruppen“
FREIBURG taz | Künftig soll im
Sexualstrafrecht das Prinzip
„Nein heißt Nein“ gelten. Hierzu
wird das neue Delikt „sexueller
Übergriff“ eingeführt.
Danach macht sich strafbar,
„wer gegen den erkennbaren
Willen einer anderen Person
­sexuelle Handlungen an dieser
Person vornimmt“. Ein „Nein“
darf ­künftig nicht mehr über­
gangen werden, auch wenn der
Täter keine Gewalt ausübt oder
Drohungen ausspricht. Ein
„sexueller Übergriff“ soll mit
Freiheitsstrafe von sechs Mo­
­
naten bis zehn Jahren bestraft
werden.
Als sexueller Übergriff soll
daneben auch strafbar sein,
„wenn der Täter ein Über­
raschungsmoment“ ausnutzt,
etwa indem er sich anschleicht
und dann zupackt.
Das bisher zentrale Delikt der
„sexuellen Nötigung“ wird wei­
ter mit Gefängnis ab einem Jahr
bestraft. Hier ist wie bislang er­
forderlich, dass der Täter das Op­
fer mit Gewalt oder schweren
Drohungen zu sexuellen Hand­
lungen nötigt oder eine schutz­
lose Lage ausnützt.
Auch die „Vergewaltigung“
bleibt als Delikt erhalten. Sie ist
ein besonders schwerer Fall der
sexuellen Nötigung, bei der der
Täter zum Beispiel die Penetra­
tion des Opfers erzwingt. Hier
beträgt die Mindeststrafe wie
bisher zwei Jahre.
Neu ist das Delikt „sexuelle
Belästigung“. Danach kann
künftig mit Haft bis zwei Jah­
ren oder Geldstrafe sanktioniert
werden, wenn jemand „eine an­
dere Person in sexuell bestimm­
ter Weise berührt und dadurch
belästigt“.
Umgangssprachlich spricht
man von „Grapschen“. Bisher
war selbst ein Griff an die weib­
liche Brust oder in den Schritt
oft straflos, wenn er über der
Kleidung erfolgte.
Neu ist auch das Delikt „Straftaten aus Gruppen“. Hiernach
macht sich auch jemand straf­
bar, der in einer Gruppe ein Op­
fer „bedrängt“, um Straftaten zu
begehen.
Der neue Tatbestand greift,
wenn sich die Gruppe verabre­
det, um Opfer zu bestehlen, die
Situation dann aber zu Sexual­
straftaten nutzt. CHRISTIAN RATH