Halbfinale: Next Brexit, please! Warum Portugal gegen Wales gewinnen soll ▶ EM taz Seite 15–18 AUSGABE BERLIN | NR. 11062 | 27. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MITTWOCH, 6. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND AfD-Chef wählt Notausgang Ja zum „Nein heißt Nein“ Neue Gesetze im Bundestag SEXUALSTRAFRECHT KARLSRUHE taz | Noch in dieser FREIHANDEL EU lenkt ein: Die nationalen Parlamente dürfen doch über das Ceta-Abkommen mit Kanada mit entscheiden ▶ SEITE 2, 10 FREIDENKER Ein ge- wagtes Leben: Nachruf auf den iranischen Filmemacher Abbas Kiarostami ▶ SEITE 13 BERLIN Radfahren in der Stadt: Senat ignoriert Ratschläge ▶ SEITE 21 Woche wird der Bundestag ein neues Sexualstrafrecht beschließen. Am Mittwoch wird es im Rechtsausschuss beraten und am Donnerstag im Bundestag abgestimmt. Künftig soll im Sexualstrafrecht das Prinzip „Nein heißt Nein“ gelten. Damit wird eine alte Forderung der Frauenbewegung erfüllt. Wegen eines „sexuellen Übergriffs“ macht sich dann strafbar, „wer gegen den erkennbaren Willen“ eines anderen sexuelle Handlungen vornimmt. Außerdem wird mit dem neuen Delikt „sexuelle Belästigung“ das „Grapschen“ strafbar. Nach den Silvester übergriffen von Köln hatte eine Gruppe von Abgeordneten einen Änderungsantrag erarbeitet, der weiter geht als ursprünglich geplant und nun beschlossen wird. Das neue Sexualstrafrecht soll auch für Ausweisungen Folgen haben. Wer wegen „sexuellen Übergriffs“ zu einer Strafe von mindestens einem Jahr verurteilt wird, dürfte in der Regel sein Aufenthaltsrecht verlieren. CHR ▶ Schwerpunkt SEITE 3 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 10 AFDEXIT Spaltung der Landtagsfraktion in BadenWürttemberg: Nach Streit über antisemitische Schriften eines Kollegen verlassen 13 von 23 AfDAbgeordneten ihre Fraktion – auch der AfD-Bundes vorsitzende Jörg Meuthen ▶ SEITE 5 Foto oben: dpa VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Uni Mainz bereut Verträge verboten verfolgt mit wachsendem Interesse die Vorgänge in der schrumpfenden AfD-Fraktion von Baden-Württemberg, rät den Abtrünnigen von dem Namen „Alfa“ ab und schlägt als neuen, eingängigen Namen vor: Alternative zur Alternative für Deutschland Kein Witz: AfD-Bundeschef Jörg Meuthen am Dienstag in Stuttgart kurz vor seinem Rücktritt als AfD-Landtagsfraktionschef Foto: Bernd Weissbrod/dpa TAZ MUSS SEI N KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE ZUR SPALTUNG DER AFD IN BADEN-WÜRTTEMBERG Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.040 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Die Stiftung hatte insgesamt 150 Millionen Euro gespendet. ▶ Schwerpunkt SEITE 4 F ast alle Versuche, in Deutschland rechtspopulistische Parteien zu etablieren, sind an dem gleichen Widerspruch zerschellt. Die Rechten polterten gegen den liberalen Mainstream und Migranten, wollten aber gleichzeitig als wahre Konservative gelten. Genau dieser Spagat ist Republikanern, SchillPartei und anderen rechten Parteien in schöner Regelmäßigkeit misslungen. Die antiliberalen Hassreden zogen magnetisch Rechtsextreme an. Der Schein des Gutbürgerlichen verschwand, übrig blieben obskure rechte Spittergruppen. Die AfD schien bisher das Gegenteil zu beweisen. Doch der Aufstieg der Rechtspopulisten kann mit dem Austritt von Parteichef Jörg Meuthen und Das Ende des Aufstiegs einem Dutzend Abgeordneten aus der AfD-Fraktion in Baden Württemberg vorbei sein. Spaltungen und innere Kämpfe wirken auf das rechtsbürgerliche Publikum, das es lieber aufgeräumt mag, ohnehin deprimierend. Dass der Chef der AfD nun aus der eigenen Fraktion flieht, ist mehr als ein Krisenzeichen. Meuthen beteuert zwar unverdrossen, dass die Rechtspopulisten „eine staatstragende Partei sind“. Doch das ist die AfD nicht. Die Fraktion in Stuttgart ist nicht in der Lage, einen Abgeordneten auszuschließen, der das „Talmud-Judentum“ für den „inneren Feind des christlichen Abendlandes“ hält. Schon die Vorgeschichte dieses Eklats war bezeichnend. Wer ein paar Zitate aus Wolfgang Gedeons Agitpropschriften las, wusste, dass man kein wissenschaftliches Gutachten braucht, um zu erkennen, dass es sich hier um puren Antisemitismus handelt. Doch knapp die Hälfte der AfD-Fraktion in Stuttgart ist nicht in der Lage, das Selbstverständliche zu tun. All das passiert nicht im Osten, wo Höcke & Co. völkische Propaganda forcieren, sondern im Südwestern der Republik. Dort, wo die AfD sich Innere Kämpfe wirken auf das rechtsbürgerliche Publikum deprimierend um das Image bemüht, das liberal-konservative Bürgertum zu verkörpern. Das Erfolgsgeheimnis der AfD war es bis dato, wie ein Staubsauger allen Verdruss aufzusammeln und gegen die da oben zu bündeln. Die Legende, die einzige Opposition in „der linksgrün versifften Republik“ zu sein, so Parteichef Jörg Meuthen, war der Kitt, der auch das Unvereinbare verband. Kann sein, dass es mit diesem glatten Aufstieg erst einmal vorbei ist. Der Gedeon-Eklat ist keine Etappe in einem Häutungsprozess, an dessen Ende eine rechtskonservative, demokratische Partei stehen wird. Er zeigt vielmehr, welchen geistigen Schutt die AfD mit sich führt. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN US-WAH LKAMPF NACH STRAATHOF-URTEI L DI E TAZ I M N ETZ Hillary Clinton entkommt dem FBI Mehr TierschutzKontrollen gefordert taz.de/twitter MAGDEBURG | Nach dem Tier- taz.de/facebook WASHINGTON | Die US-Bundes- Vor 70 Jahren: Micheline Bernardini mit dem ersten Bikini Foto: dpa Vier Dreiecke und Schnüre I t was an Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini“ – so klang nicht nur der Sommerhit des Jahres 1960, der Song von Bryan Hyland löste auch einen Kassensturm auf Bikinis aus. Zu knapp, zu unzüchtig; das war der Ruf des damals längst nicht mehr neuen Zweiteilers. Vor 70 Jahren wurde er erstmals in Paris vorgeführt. Und so handelt Hylands Lied mit der eingängigen Melodie denn auch davon, wie sich eine junge Frau partout nicht aus der Kabine traut in ihrem „klitzekleinen mini-wini“ Bikini. Auch Bikini-Erfinder Louis Réard fand im Juli 1946 zunächst kein Mannequin. Nur die Nackttänzerin Micheline Bernardini brachte den Mut auf und präsentierte die „vier Dreiecke und ein paar Schnüre“ am 5. Juli im Pariser Schwimmbad Molitor. Die Idee zum Zweiteiler soll Réard am Strand von St. Tropez gekommen sein. Im Laufe der 1930er Jahre hatte sich das Schönheitsideal von der „noblen Blässe“ zur „gesunden Bräune“ gewandelt. Diese zu erreichen, war im damals recht prüden Europa jedoch schwierig. In Deutschland etwa galt seit 1932 der sogenannte Zwickelerlass, der das Tragen von Zweiteilern beim Baden untersagte. Auch in Frankreich wurde hochgeschlossen gebadet. Und so beobachtete Réard Frauen, die mühevoll ihre Badeanzüge hochkrempelten, um mehr Sonne an ihre Haut zu lassen. Réard wusste, dass das knappe Stück Stoff mediale Beachtung finden würde. Deswegen bedruckte der gelernte Automechaniker seine Kreation über und über mit Schlagzeilen. Réard wollte provozieren. Ein richtiger Bikini sei maximal so groß, dass man ihn durch einen Ehering ziehen könne. Als Namensgeber wählte er das Bikini-Atoll, jene Insel, auf der die USA wenige Tage zuvor Atomwaffentests durchgeführt hatten. Sicher eine explosive Wahl, geschmackvoll nicht unbedingt. Doch der Erfolg ließ auf sich warten. In vielen Ländern war das bauchfreie Baden gar verboten. Dann kam 1962 „Bond jagt Dr. No“ in die Kinos – und Ursula Andress schuf im Bikini die Legende des Bond-Girls. Seinen 70. Geburtstag feiert der Bikini als „Must Have“ der Badesaison – auch wenn ein Badeanzug beim Herumtollen in den Wellen wohl die besser sitzende Wahl bleibt. DINAH RIESE Der Tag M IT TWOCH, 6. JU LI 2016 polizei FBI sieht keinen Grund für eine Anklageerhebung gegen Ex-Außenministerin Hillary Clinton in der Affäre um ihren privaten E-Mail-Server. Dies sei auch die Empfehlung seiner Behörde an das Justizministerium, sagte FBI-Chef James Comey am Dienstag. Es gebe keine klaren Hinweise dafür, dass Clinton oder ihre Mitarbeiter hätten Gesetze brechen wollen. Vielmehr lägen Anzeichen für einen „extrem verantwortungslosen Umgang“ mit den E-Mails vor. Für einen erfolgreichen Hackerangriff hätten die Ermittler zwar keine Belege gefunden. Allerdings könne dies auch nicht ausgeschlossen werden. Über eine Anklage gegen die demokratische Präsidentschaftsbewerberin muss nun das Justizministerium entscheiden. Clinton stand zuletzt wegen der Nutzung eines privaten E-Mail-Kontos während ihrer Zeit als Außenministerin zunehmend unter Druck. Am Samstag hatte sie dem FBI freiwillig Auskunft über die Nutzung des Computers erteilt. Ihr republikanische Rivale Donald Trump nennt die Affäre ein Beispiel dafür, dass man Clinton nicht trauen dürfe. (rtr) haltungsverbot gegen den Schweinehalter Straathof hat der BUND Sachsen-Anhalt eine Überprüfung aller Tierhaltungsanlagen im Land gefordert. Tierschützer hofften nun, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Magdeburg Schule mache, so der BUND. Sie sei ein „Meilenstein mit bundesweiter Auswirkung im Umgang des behördlichen Tierschutzes mit der Tierhaltungsindustrie“. Das Gericht hatte zuvor die StraathofKlage gegen ein Tierhaltungsverbot abgewiesen. (epd) taz intern Presserat-Rüge Der Presserat hat eine Rüge gegen die taz ausgesprochen. Die taz hatte am 3. 3. 2016 unter der Überschrift „Einsamer Segler“ über eine mumifizierte Leiche auf einer Yacht berichtet, samt Abbildung. Unangemessen sei die Darstellung insbesondere dann, wenn der Mensch zu einem Objekt herabgewürdigt werde. Das Foto ermögliche es, dem Toten, so wie er gestorben ist, direkt ins Gesicht zu sehen, er werde zu einem Objekt voyeuristischer Betrachtung. Die ironisierende Beschreibung sei herabwürdigend und nicht durch öffentliches Informationsinteresse gedeckt. taz.de/vimeo Folgen Liken Klicken www.taz.de Bei Ceta knickt EU-Chef Juncker ein EU-KOMMISSION Nach Kritik gesteht die EU allen nationalen Parlamenten ein Zustimmungsrecht über das Abkommen mit Kanada zu. Ceta soll aber in Kraft treten, noch bevor alle Parlamente abgestimmt haben AUS BRÜSSEL ERIC BONSE Am Ende war Jean-Claude Juncker der Inhalt wichtiger als die Form. Das umstrittene Freihandelsabkommen Ceta zwischen der EU und Kanada soll daher nun doch als „gemischtes Abkommen“, also mit Beteiligung des Bundestags und anderer nationaler Parlamente ratifiziert werden. Juncker knickte ein, verkaufte es aber als Sieg der Vernunft. Allerdings ging der Chef der Brüsseler EU-Behörde nicht selbst in die Bütt, um seine Kehrtwende zu erklären. Das überließ der politisch ange- schlagene Luxemburger seiner Handelskommissarin Cecilia Malmström. Und die pries erst einmal die Vorteile dieses „fortschrittlichsten Freihandelsabkommens aller Zeiten“. Damit all die Vorteile von Ceta schnell greifen, wolle man aber keine Zeit mehr verlieren, so Malmström weiter. Deshalb soll das Abkommen nun so schnell „Fortschrittlichstes Freihandelsabkommens aller Zeiten“ KOMMISSARIN CECILIA MALMSTRÖM wie möglich ratifiziert werden – durch das Europaparlament und 42 nationale und regionale Parlamente, Großbritannien eingeschlossen. Nach Zustimmung der EU-Abgeordneten soll Ceta vorläufig in Kraft treten, fügte die Schwedin hinzu. Im Herbst könnte es schon so weit sein. Doch was ist, wenn ein nationales Parlament Nein zu Ceta sagt? Was passiert, wenn das höchste EU-Gericht, das noch über ein Handelsabkommen mit Singapur befinden muss, neue rechtliche Hürden aufstellt? Dazu wollte sich Malmström nicht äußern. Auch Juncker hielt Er will Ceta retten: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Foto: Vincent Kessler/reuters Spreewaldgurke bleibt, Rind kommt CETA mit einer breiten Bewegung gegen den „neoliberalen“ Kurs der EU und gegen Sonderrechte für Konzerne und andere private Investoren zu tun. Sie wird von außerparlamentarischen Bewegungen wie Attac und Campact organisiert, die mit Petitionen gegen das „trojanische Pferd Ceta“ anrennen. Diese bejubelten am Dienstag die Kehrtwende der EU-Kommission. „Die Kritik von Bürgerinnen und Bürgern ist in Brüssel angekommen“, twitterte auch LobbyControl. Widerstand kommt aber weiter aus Städten wie Barcelona, die sich zur „TTIP- und Ceta-freien Zone“ erklärt hat. Eine weitere Front steht auf der Ebene der nationalen und regionalen Parlamente. Sie fordern ein Mitspracherecht bei wichtigen EU-Entscheidungen. Während sich der Bundestag noch nicht auf eine Position festgelegt hat, sagt die französischsprachige belgische Region Wallonie „Non“ zu Ceta. Die dritte und wohl entscheidende Front verläuft zwischen der EU-Kommission und den nationalen Regierungen. Sie werfen sich wechselseitig vor, im Streit um den Freihandel versagt zu haben. Vor allem die deutsche Regierung habe es versäumt, offensiv für Ceta und TTIP zu kämpfen, heißt es in Brüssel. Angeheizt wird der Streit durch den Sieg der EU-Gegner in Großbritannien. Auf britischen Druck hatte die EU-Kommission schon vor dem Brexit-Referendum angekündigt, nationale Parlamente künftig stärker an EU-Entscheidungen zu beteiligen. Meinung + Diskussion SEITE 10 THEMA DES TAGES sich bedeckt. „Ich habe auf die Staats- und Regierungschefs und auf die nationalen Parlamente gehört“, ließ er schriftlich mitteilen. Dabei hatte er noch vor einer Woche beim EU-Gipfel erklärt, dass die nationalen Abgeordneten bei Ceta nichts zu melden hätten. Nun sollen sie doch mitent scheiden. Damit geht ein wochenlanger Machtkampf zu Ende. Im Kern geht es dabei um die Rolle der Mitgliedstaaten in der Handelspolitik, aber auch um den künftigen Kurs der EU. Juncker und Malmström kämpfen gleich an drei Fronten: Zum einen haben sie es Was steht drin im europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen? Wo sind die Risiken, wo der Nutzen? BERLIN taz | Freihandelsabkommen galten lange als Gähnthema. Seit 2009 wurde Ceta, das EU-Abkommen mit Kanada, verhandelt, kaum jemand störte sich daran. Aber dann kam die große „Schwester“ – TTIP – in die Diskussion. Ceta gilt als „Blaupause“ für den hochumstrittenen Vertrag zwischen den USA und der EU: Die Liste der Kritikpunkte an TTIP ist lang – und gilt ähnlich für Ceta. Skeptiker fürchten auch hier Einschnitte beim Verbraucherschutz, eine Aushöhlung der De- mokratie und zu viel Macht für Großkonzerne. Seit Ende 2014 ist Ceta – anders als TTIP – ausverhandelt. Inzwischen liegt das 1.600 seitige Abkommen vor. Die EU-Kommission verspricht, dass Europas Firmen damit Zölle in Höhe von 500 Millionen Euro jährlich sparen, durch weniger Papierkram und Zertifizierungen noch mal die gleiche Summe. Ceta soll die Märkte weitgehend öffnen, so die Europas für kanadisches Rindfleisch und die Kanadas für Käse aus Europa. Gleichzeitig sollen 145 EU-Herkunftsbezeichnungen in Übersee geschützt bleiben, so die für Spreewälder Gurken oder Tiroler Speck. Die Kommission hofft auf ein langfristiges Plus beim Waren- und Dienstleistungsaustausch von 23 Prozent, allein die deutsche Wirtschaftsleistung erhöhe sich um jährlich 0,19 Prozent. Kritiker des Abkommens halten das für mikroskopisch wenig angesichts der Gefahren durch Ceta. Tatsächlich ist Kanada als Handelspartner nicht besonders wichtig für die EU. Der Wa- renaustausch mit Deutschland betrug 2015 etwa 14 Milliarden Euro. Damit lag Kanada auf Platz 31 der deutschen Handelspartner, knapp vor Portugal und Singapur. Umgekehrt ist Europa nach den USA der zweitwichtigste Handelspartner der Kanadier: Immerhin knapp 10 Prozent des Außenhandels entfallen auf die EU. In etlichen brisanten Feldern, versichert Brüssel, verändert sich für Europa nichts. Als Beleg verweist die Kommission auf eine „Arbeitsmarktklausel“. Auch Mindestlohn oder Tarifverträge seien nicht in Gefahr. Beim besonders umstrittenen Thema Investitionsschutz haben die Europäer sogar im Nachhinein eine Regelung in Ceta verhandelt, die engere Grenzen für die Streitschlichtungsverfahren zwischen Konzernen und Staaten setzt: Nun soll es einen öffentlichen Handelsgerichtshof statt der vorher geplanten privaten Schiedsgerichte geben – eine „Paralleljustiz“ sei so unmöglich. KAI SCHÖNEBERG Schwerpunkt Sexualstrafrecht M IT TWOCH, 6. JU LI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Was bedeutet „Nein heißt Nein“ eigentlich? Was wird sich mit den neuen Paragrafen ändern? Und wie praktikabel sind sie? „Auch Kopfschütteln oder Weinen genügt“ GESETZ Die Juristin Tatjana Hörnle erklärt, was „Nein heißt Nein“ in der Praxis bedeutet und warum die Reform nicht zu mehr Falsch beschuldigungen führt INTERVIEW CHRISTIAN RATH taz: Frau Hörnle, am Donnerstag wird der Bundestag des neue Sexualstrafrecht beschließen. Was bedeutet „Nein heißt Nein“ eigentlich? Tatjana Hörnle: Künftig ist es bereits strafbar, wenn der Täter sexuelle Handlungen am Opfer gegen dessen „erkennbaren Wil len“ ausübt. Und das ist neu? Ja. Bisher war für die sexuelle Nötigung und Vergewaltigung erforderlich, dass der Täter das Opfer entweder mit Gewalt oder mit schweren Drohungen oder durch Ausnutzen einer schutz losen Lage dazu brachte, sexu elle Handlungen zu dulden. Die entscheidende Frage wird künftig also sein, was war der „erkennbare Wille“ des Opfers? Ja. Es genügt, wenn die Frau zu sexuellen Handlungen „Nein“ sagt? Ja. Auf den Wortlaut kommt es aber nicht an. Es kann auch ein „Hör auf!“ sein oder „Lass das!“. Es muss aber eindeutig sein. Ein schlecht gelauntes „Muss das sein?“ genügt nicht. Ein Wille kann aber auch dann erkennbar sein, wenn nichts gesagt wird? Ja. Es genügt, wenn der Wille klar zum Ausdruck kommt. Al lerdings reicht das innerliche Empfinden nicht, wenn es nicht erkennbar ist. Wie kann ein Nein zum Ausdruck kommen, ohne dass gesprochen wird? Zum Beispiel durch Kopfschüt teln oder Weinen. Genügt auch ein lustloser Gesichtsausdruck? Nein, auch nonverbale Signale müssen eindeutig sein. Der BGH-Richter und Kolumnist Thomas Fischer kritisiert, dass hier schon Fahrlässigkeit bestraft wird, wenn der Täter den erkennbaren Willen der Frau nicht erkennt und deshalb missachtet. Das ist nicht richtig. „Erkennbar“ dient der Abgrenzung von „in nerlich“. Den entgegenstehenden Willen des Opfers muss der Täter jedoch erkannt haben. Der sexu Klar zeigen, wenn man nicht will. Ein schlecht gelauntes „Muss das sein?“ reicht da nicht aus Foto: Judith Dekker/Hollandse Hoogte/plainpicture elle Übergriff ist kein Fahrlässig keitsdelikt. Es genügt für den Täter also zu sagen: „Ich habe das Kopfschütteln nicht gesehen“? Und schon fehlt dem Täter der Vorsatz und er bleibt straffrei? Eine solche Aussage muss schon plausibel und glaubwürdig sein. Offensichtliche Schutzbehaup tungen dürften in der Regel kei nen Erfolg haben. Sind solche Fragen – was das Opfer ausgedrückt hat, was der Täter verstanden hat – wirklich geeignet für ein Gerichtsverfahren? Menschliche Kommunikation ist bei vielen Delikten relevant, etwa beim Betrug. Was hat der Verkäufer versprochen? Wollte er den Kunden täuschen? Da gibt es auch große Beweis probleme. Trotzdem ist der Be trug ganz selbstverständlich strafbar, und niemand will das ändern. Noch mal Thomas Fischer: Er lehnt das neue Gesetz auch deshalb ab, weil es Frauen mit unmündigen Kindern gleichsetze. Was ist dran an diesem Vorwurf? Das ist eine absurde Behaup tung ohne juristische Substanz. Sexuelle Handlungen mit Kin dern sind strafbar, selbst wenn das Kind zustimmt. Dagegen kann eine Frau sexuellen Hand lungen mit einem Mann natür lich rechtlich wirksam zustim men. Dass künftig das Nein der Frau geschützt wird, ändert da ran überhaupt nichts. Ein weiteres Problem der neuen Rechtslage: Ein Paar liegt im Bett, sie will Sex. Er sagt, er sei zu müde. Sie gibt nicht auf und streichelt seinen Penis, bis er doch Lust hat. Ist das künftig strafbar, weil sie sein Nein ignoriert hat? Das Verhalten der Frau mag zwar den Tatbestand des neuen Gesetzes erfüllen. Aber ich bitte Sie, welcher Mann zeigt seine Partnerin nach einer solchen Situation an? Unmittelbar danach tut er das sicher nicht. Aber vielleicht geht sie einen Monat später fremd. Er trennt sich, ist verletzt und zeigt sie nun wegen ihrer mehrfachen sexuellen Übergriffe an. Was soll die Staatsanwaltschaft tun? Im Lauf von Beziehungen gibt es viele Vergehen, etwa Belei digungen. Und im Verlauf von Trennungen wird mit Blick auf bestimmte Gegenstände der Vorwurf der Unterschlagung er hoben. Das Strafrecht ist nicht dazu da, all solche Vergehen in Beziehungen aufzuarbeiten. Hier würde das Verfahren we gen „geringer Schuld“ einge stellt. Sehen Sie eine Beziehung als rechtsfreien Raum? Natürlich nicht. Es war ein wichtiger Schritt, dass seit den 1990er Jahren auch die Verge waltigung in der Ehe strafbar ist. Aber das von Ihnen geschil derte Verhalten ist damit ja wohl nicht zu vergleichen. Schauen wir uns die Reform mal von der anderen Seite an. Geht sie denn überhaupt weit genug? Die Istanbul-Konvention des Europarats verlangt, dass jede „nicht einverständliche“ sexuelle Handlung bestraft wird. Das geplante Gesetz greift diese sehr weitgehende Formulierung aber nicht auf … Die Mitgliedstaaten des Europa rats haben eine gewisse Freiheit beim Wortlaut der Umsetzung, solange das sexuelle Selbstbe stimmungsrecht konsequent geschützt wird. Aber es geht doch um ein anderes Konzept. Wenn nur einverständliche sexuelle Handlungen straffrei sein sollen, heißt das Motto „Nur Ja heißt Ja“. Wäre das nicht ein noch besserer Schutz der sexuellen Selbstbestimmung? Es ist moralisch sicher ein gu tes Konzept, beim Sex immer auf ein ausdrückliches Ja des anderen zu warten. Gerade für die Erziehung und Sensibilisie rung junger Menschen halte ich das für geeignet. Dieses Konzept sollte aber nicht mit strafrechtli chen oder anderen Sanktionen verknüpft werden. Warum nicht? Beim Sex gibt es immer wieder ambivalente, uneindeutige Situ ationen. Es wäre unfair, die Ver antwortung dann allein beim Täter zu verorten. Es ist vielmehr sinnvoll, dass auch vom Opfer gewisse Eigenverantwortung verlangt wird, indem es zeigen muss, wenn es sexuelle Hand lungen ablehnt. Was ist nun die Bedeutung der bevorstehenden Reform? Wird es mehr Verurteilungen geben? Es gibt jährlich nur eine kleine Zahl von Fällen, bei denen die Beweislage gut ist, aber die Rechtslage eine Verurteilung verhinderte. Meist scheitert die Verurteilung wegen Sexual delikten bisher an der Beweis barkeit. Das wird so bleiben. Es kommt aber auch nicht darauf an, wie viele zusätzliche Verur teilungen es gibt. Worauf dann? Dass das sexuelle Selbstbestim mungsrecht erstmals konse quent im Strafgesetzbuch um gesetzt wird. Dass ein Nein zu sexuellen Handlungen endlich rechtlich ernst genommen wird. Das wird noch in Jahrzehnten als historischer Moment aner kannt werden. Kritiker befürchten, dass es künftig zu mehr Falschbeschuldigungen kommt. Sie auch? Nein. Wer jemandem eine Ver gewaltigung anhängen will, konnte das auch bisher tun. Bei Sexualdelikten sind meist nur zwei Menschen zugegen. Es steht also Aussage gegen Aus sage. Letztlich kommt es im mer auf die Plausibilität und Glaubwürdigkeit der Aussa gen an. Ich sehe deshalb keine neuen Gefahren durch die Re form. Und natürlich gilt auch in Zukunft der Satz „Im Zweifel für den Angeklagten.“ Tatjana Hörnle ■■ist Professorin für Strafrecht an der HumboldtUniversität Berlin und Foto: Holznagel gilt als führende Expertin für Sexualstrafrecht „Nein heißt Nein“ wird Gesetz REFORM Große Koalition führt neue Delikte ein: „sexueller Übergriff“, „sexuelle Belästigung“, „Straftaten aus Gruppen“ FREIBURG taz | Künftig soll im Sexualstrafrecht das Prinzip „Nein heißt Nein“ gelten. Hierzu wird das neue Delikt „sexueller Übergriff“ eingeführt. Danach macht sich strafbar, „wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt“. Ein „Nein“ darf künftig nicht mehr über gangen werden, auch wenn der Täter keine Gewalt ausübt oder Drohungen ausspricht. Ein „sexueller Übergriff“ soll mit Freiheitsstrafe von sechs Mo naten bis zehn Jahren bestraft werden. Als sexueller Übergriff soll daneben auch strafbar sein, „wenn der Täter ein Über raschungsmoment“ ausnutzt, etwa indem er sich anschleicht und dann zupackt. Das bisher zentrale Delikt der „sexuellen Nötigung“ wird wei ter mit Gefängnis ab einem Jahr bestraft. Hier ist wie bislang er forderlich, dass der Täter das Op fer mit Gewalt oder schweren Drohungen zu sexuellen Hand lungen nötigt oder eine schutz lose Lage ausnützt. Auch die „Vergewaltigung“ bleibt als Delikt erhalten. Sie ist ein besonders schwerer Fall der sexuellen Nötigung, bei der der Täter zum Beispiel die Penetra tion des Opfers erzwingt. Hier beträgt die Mindeststrafe wie bisher zwei Jahre. Neu ist das Delikt „sexuelle Belästigung“. Danach kann künftig mit Haft bis zwei Jah ren oder Geldstrafe sanktioniert werden, wenn jemand „eine an dere Person in sexuell bestimm ter Weise berührt und dadurch belästigt“. Umgangssprachlich spricht man von „Grapschen“. Bisher war selbst ein Griff an die weib liche Brust oder in den Schritt oft straflos, wenn er über der Kleidung erfolgte. Neu ist auch das Delikt „Straftaten aus Gruppen“. Hiernach macht sich auch jemand straf bar, der in einer Gruppe ein Op fer „bedrängt“, um Straftaten zu begehen. Der neue Tatbestand greift, wenn sich die Gruppe verabre det, um Opfer zu bestehlen, die Situation dann aber zu Sexual straftaten nutzt. CHRISTIAN RATH
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