SWR2 Tandem

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Was ist deutsch?
Ghettostolz aus Notwehr
Von Ingrid Strobl
Sendung: Donnerstag, 7. Juli 2016, 10.05 Uhr, Länge: 23'30
Redaktion: Nadja Odeh
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
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WAS IST DEUTSCH?
1 O-Ton Autorin - Bob:
Was ist typisch Deutsch? - Schweinefleisch. - Noch was? - Ja. Deutsch. - Lachen.
Bob (lachend): Ja, die sprechen Deutsch und so, keine Ahnung. Und benehmen sich
komisch. - Wie: komisch? - Die sind so, wie soll man sagen. Sind manchmal
unreligiös so. Ja, is so. Ja, die haben kein Benehmen einfach so. Also, manche. Und
sind asozial. Ja. - Was ist asozial? - Ja, Schwein zu essen.
Atmo 1 Schule Flur - vom Klassenzimmer aus unter Erzählerin
Erzählerin:
Der Junge, der sich als "Bob" vorstellt, hat dichtes schwarzes Haar, dunkle Augen,
einen wachen Blick. Jetzt gerade grinst er, halb amüsiert, halb herausfordernd.
Dorothee Plass, seine Lehrerin, schüttelt leicht den Kopf. Die SchweinefleischNummer hat die Klasse eigentlich schon hinter sich. Aber jetzt ist diese Journalistin
da, die man nicht kennt, und da muss man erst mal aufdrehen. Testen, wie sie
reagiert. Die Jugendlichen haben mit ihrer Lehrerin besprochen, dass sie sich für die
Aufnahmen andere Namen geben. So fühlen sie sich freier, Klartext zu reden. Bob,
der aus einem der Balkanstaaten kommt, heißt also nicht Bob. Und Michel, der sich
gerade zu Wort meldet, hat in Wahrheit einen spanischen Namen, denn seine Eltern
kommen aus Südamerika.
2 O-Ton Michel:
Ich glaube, typisch deutsch ist, die essen Currywurst oder sowas. Ich weiß nicht. Mädchen kichert - Die lachen nicht so viel, ne. Gibt es Leute, die auch lachen, aber
sind nicht so sympathisch, manche Leute.
Erzählerin:
Dorothee Plass hat mit ihrer neunten Klasse viel und lange zu dem Thema "was ist
typisch deutsch?" gearbeitet. Sie ist Filmemacherin, Lehrerin und unterrichtet Kunst.
Ihre Schule ist eine Hauptschule und liegt in einem sogenannten Problemviertel,
sprich: Hier wohnen viele Arme, viele Migranten und viele arme Migranten. Von ihren
15 Schülerinnen und Schülern haben gerade mal vier deutsche Eltern. Einige von
ihnen kommen aus sehr armen Familien, einige aus problematischen Elternhäusern,
einige sind als Roma noch zusätzlich stigmatisiert. Doch sie haben Wege gefunden,
der Ausgrenzung etwas entgegenzusetzen.
3 O-Ton Dorothee Plass:
So im Laufe des achten Schuljahrs hat sich gezeigt, dass viele Schüler sich als
"ausländisch" - und das Wort wird dann auch ganz klar benutzt - einsortieren. Und
dass damit einhergehend sie so einen Stolz entwickelten. Ein Kind fing an, die
Holzordner, in denen die Materialien stehen, nach ausländisch und deutsch zu
sortieren. Vor dem Hintergrund, wir Ausländer sind was Besonderes und Besseres
und wir wollen nicht mit den Deutschen zusammen stehen da im Regal. Und andere
haben gesagt, "ja, typisch deutsch!", wenn jemand was gesagt hat, was ihnen nicht
gefallen hat. Ich hab dann mitbekommen, dass da eigentlich so Selbstbehauptung
und Stolz dahinter stecken und war auch neugierig, was die Jugendlichen damit
verbinden, wenn sie sagen "wir Ausländer".
2
4 O-Ton Schülerin Carolina:
Also, die Deutschen, die heiraten so mit 30, so mit 35 bekommen die Kinder, mit 40,
keine Ahnung, heiraten die vielleicht nochmal, und bei Ausländer ist das so, die
heiraten so mit 16, mit 18 haben sie ´n Kind, mit 20 haben die schon drei Kinder und
(lacht) ja... - Alle Ausländer? - Nicht alle, es gibt aber viele Ausländer, die das
machen.
Erzählerin:
Carolina, die ebenfalls nicht wirklich Carolina heißt, sieht älter aus als die fünfzehn,
die sie ist. Sie kommt aus Mazedonien, macht einen ziemlich selbstbewussten
Eindruck und lacht gern. Auch über sich selbst. Und über die Vorurteile, mit denen
sie häufig konfrontiert ist.
5 O-Ton Carolina:
Ich hab keine richtigen deutschen Freunde. - Warum nicht? - Lacht. Keine Ahnung.
Die sind so langweilig irgendwie. Zum Beispiel, die klauen nicht. Lacht. Nein, aber,
die sind so, (lachend) ja, diese Art von denen, das gefällt mir nicht so.
Erzählerin:
Carolinas Mitschüler amüsieren sich prächtig. Dorothee Plass bemüht sich, ernst zu
bleiben.
6 O-Ton Dorothee Plass:
Ich hab dann einzelne erst mal gefragt, wenn du das so sagst, "Ausländer", was ist
denn jetzt genau anders bei euch "Ausländern"? Und hab dann gehört - nach langem
Überlegen - zum Beispiel: Ausländer binden sich nicht die Schuhe zu, die sind so
insgesamt lässiger und so. Das fand ich jetzt eher platt, weil ich ja auch deutsche
Kinder sehr, sehr unterschiedlicher Art habe. Und habe dann die Frage in die Runde
gerichtet, und wir haben ne Unterrichtseinheit dazu gemacht, in der wir erst mal eine
Tabelle hergestellt haben mit typischen Merkmalen.
Erzählerin:
Der Junge, der sich Kevin nennt, und dessen Eltern aus Sizilien eingewandert sind,
hat bisher eher zugehört. Aber jetzt schließt er sich den anderen "Ausländern" an.
7 O-Ton Kevin:
Also für die Ausländer ist das so, wenn wir rausgehen, kommen wir erst nächsten
Tag zuhause oder wir kommen erst um zehn Uhr zuhause oder um elf Uhr. Für die
Deutschen ist das so, die haben eine bestimmte Uhrzeit, sie müssen Punkt neun Uhr
oder zehn, oder wenn wir Fernsehen gucken, dürfen wir lang wie wir wollen. Und für
die Deutschen haben die eine Uhrzeit auch für Fernseher, also um acht Uhr müssen
sie schlafen gehen oder um neun Uhr, und, ja.
8 O-Ton Dorothee Plass:
Dann sind wir aber nochmal hingegangen und haben auf der Europakarte erst mal
geguckt, wer wo herkommt und was jetzt eigentlich ausländisch ist. Und haben dann
auch schon gemerkt, es gibt unterschiedliche Arten von Ausländisch-sein. Du kannst
hier geboren werden, hier alles ganz in Ordnung finden. Und du kannst hier geboren
werden und das alles hier sehr schwierig finden. Und du kannst auch wo anders
3
geboren sein, froh sein, dass du hier bist oder nicht. Du kannst ´n belgischen Opa
haben und dich irgendwie auch als ausländisch empfinden. Trotzdem sagt dann
jemand anders vielleicht, das ist aber ne andere Art von Ausland, die sind ja wie die
Deutschen.
9 O-Ton Patrizia:
Also, ich finde es Scheiße, dass viele Leute meinen, die Deutschen sind einfach nur
Scheiße. Was gar nicht stimmt. Manche Deutsche kriegen mit 14 und mit 16 und mit
18 Kinder und heiraten noch nicht mal. Die Deutschen, die sind einfach frei, die
dürfen machen, was sie wollen.
Erzählerin:
Patrizia sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl, hält ihren Kugelschreiber fest wie eine
Abwehrwaffe, aus ihren Augen blitzen Wut und Verletzlichkeit. Sie hat sich eine
Zeitlang als Belgierin bezeichnet, ihr Großvater kommt da her, und sie hatte gehofft,
damit dem uncoolen Label "Deutsche" zu entrinnen.
10 O-Ton Patrizia:
Und ich finde auch, dass Ausländer die Deutschen einfach hier raus werfen aus
Deutschland - Junge: Du bist ausländerfeindlich!!!! - Ja und? - kurz Gebrüll - Ich bin
nicht bei allen Ausländern feindlich. Euch mag ich!!! Nur die Leute, die einfach nicht
Respekt vor Deutschen haben, wie meine Nachbarn oder so, das - Gebrüll.
Erzählerin:
Dorothee Plass schreitet nicht ein. Sie kennt das und lässt die Jugendlichen sich erst
mal anbrüllen.
11 O-Ton Dorothee Plass:
Die Schüler haben die große Chance, sich überhaupt kennenzulernen. Und dadurch
die anderen Personen differenziert anzugucken. Und die können das. Die
beobachten sich sehr genau, die legen jedes Wort auf die Goldwaage, sie machen
sich ganz viele Gedanken dazu. Und können ausdrücken, was ihnen an dem andern
nicht passt, und wenn sie dann sagen, "das ist typisch deutsch", oder "typisch
ausländisch", dann können sie auch darüber noch reden. Anderswo, draußen im
Viertel, gibt es diese Chance oft gar nicht. Da kommt´s entweder zum Streit unter
Nachbarn oder manchmal auch zu Kloppereien. Aber die Schüler hier an der Schule,
die sind, ich erleb das in meiner Klasse ganz deutlich, wo sie so ´n bisschen älter
werden auch, in der Lage, sich immer differenzierter zu sehen.
Erzählerin:
Dorothee Plass ist eine erfahrene Pädagogin. Sie lässt sich auch von Reizworten
nicht irritieren. Wenn zum Beispiel die fünfzehnjährige Patrizia Sätze von sich gibt,
die nach AFD klingen, verortet sie das Mädchen deshalb nicht gleich rechts außen.
Dafür kennt sie ihre Schülerin zu gut.
4
12 O-Ton Dorothee Plass:
Ich verstehe das eher so als Selbstbehauptung. So 'nen eigenen Stolz: na und, wir
sind hier geboren, ist doch auch in Ordnung, ist doch gut! Dass die Deutschen sich
sagen, wir Deutschen sind was Besseres, das hab ich interessanterweise in meiner
Klasse nicht. Es gibt allerdings, also die formulieren trotzdem Befürchtungen und
Ängste, was ist, wenn hier jetzt so viele Leute sind, und wie soll´s uns dann gehen.
Weil wir doch auch nicht alle Chancen haben, meine Eltern arbeiten hart, können ja
auch nichts zahlen. Aber es ist nicht so ein ganz pauschales "Wir sind was
Besseres". Das haben sie tatsächlich nicht.
Erzählerin:
Umgekehrt fühlt Dorothee Plass sich nicht angegriffen, wenn nicht-deutschstämmige
Schülerinnen und Schüler schon mal den Unterricht verweigern. Mit dem Argument:
"Das hier geht uns nichts an."
13 O-Ton Dorothee Plass:
Wenn ich Schüler RAP-Texte zitieren höre, dann kommt das Wort Ghetto da drin vor,
und sie meinen das auch so. Dieses "wir", das meint auch "wir im Ghetto". Ich denk,
es ist ne Gegenwehr zu einem Teil. Also, die Ablehnung, die sie spüren, immer
wieder, wenn sie ne Praktikumsstelle suchen und irgend ein Chef kommt ihnen mit
einer Ablehnung, die sie nicht verstehen, das ist ja oft auch damit begründet, dass
die Leute ausländerfeindlich sind, Vorbehalte haben, fremdenfeindlich sind.
Erzählerin:
Die Benachteiligung einiger der Schülerinnen und Schüler hat aber auch familiäre
Gründe: Ihre Eltern sprechen kaum Deutsch und können ihnen weder bei den
Hausaufgaben noch bei Bewerbungsschreiben helfen. Manchen Eltern ist es auch
egal, ob ihre Kinder zur Schule gehen oder nicht, sie misstrauen den Lehrerinnen
und Lehrern oder finden den Schulbesuch gänzlich überflüssig. Die Kinder und
Jugendlichen pendeln so ständig zwischen zwei Welten, fühlen sich überfordert und
sind es auch. Und kaschieren ihre Überforderung, indem sie sich hinter einer Art
Ghetto-Stolz verschanzen.
15 O-Ton Dorothee Plass:
Was ich auf jeden Fall mitbekomme, wenn ich mit Anforderungen komme, die die
Schüler nicht erfüllen können oder wollen, oder was auch immer da grade an dem
Tag angesagt ist, dass sich dann Schüler damit wehren, zu sagen, "ach Sie, ich
muss das ja alles hier überhaupt nicht machen! Ihre Regeln gelten für mich nicht."
Also von mir kommt Druck, ich muss unterrichten erst mal (lacht). Und Druck erzeugt
Gegendruck. Und der sieht halt unterschiedlich aus. Und wenn grade mir das schwer
fällt, mich zu konzentrieren und was zu schreiben, dann kann ich ja sagen, "ööö, das
hab ich nicht nötig, was Sie wieder wollen!"
Erzählerin:
Auf die Frage, wie sie darauf reagiert, schmunzelt Dorothee Plass:
16 O-Ton Dorothee Plass:
Ja, ich bin da halt beinhart, die Regeln gelten für alle. Das (lacht) ist meine Art von
Chancengleichheit hier, die ich hier versuche durchzusetzen (lacht).
5
Kurzer Break mit Musik: Kurdo - Nike Kappe umgekehrt
17 O-Ton Schüler:
Was ist für euch typisch deutsch? - Wenn man Deutsch kann. - Wenn man Deutsch
kann und wenn man in Deutschland geboren ist. - Also für mich ist typisch deutsch,
dass zum Beispiel Deutsche immer pünktlich sind. - Eigentlich sind es nicht so viele
Unterschiede, fast sind wir eigentlich alles gleich. - Deutsche haben Kartoffel
erfunden. - Mädchen kichert.
Atmo 2 Klasse Belkisa, Raumatmo Klasse Belkisa während Gespräch
18 O-Ton Belkisa Heykamp:
Wir sind glaub ich neun unterschiedliche Nationen in der Klasse. Und ich hab auch
keine deutsche Herkunft. Und dadurch, dass wir so gemischt sind und aus so vielen
verschiedenen Ecken kommen, haben wir immer die Möglichkeit, zu sagen, so, bei
mir ist es so, und wie ist es bei dir?, und es entsteht ein Austausch.
Erzählerin:
Belkisa Heykamp ist eine der Kolleginnen von Dorothee Plass. Sie ist
Sonderpädagogin und unterrichtet eine siebte Klasse. Und: Belkisa Heykamp kommt
aus Bosnien. Zu Beginn des Jugoslawien-Krieges ist sie nach Deutschland
geflüchtet, seit 15 Jahren unterrichtet sie an der Schule. Mit dem großen Vorteil, dass
zum Beispiel der Satz "Das verstehen Sie sowieso nicht!" bei ihr nicht verfängt.
19 O-Ton Belkisa Heykamp:
Den Satz sagen sie aber meinen deutschen Kollegen sehr oft. Mit diesem Satz
machen sie sie auch unsicher. Aber es ist tatsächlich so, dieser Satz impliziert
einfach so viel. Das sind die ganzen Erfahrungen, die man vielleicht gemacht hat
oder nicht gemacht hat aber hätte machen können, das ist die Erziehung, das ist der
Umgang mit Scham, es ist so viel. Und ich glaube, dass sie dadurch weniger
Schwierigkeiten haben, auf mich zuzugehen und mir Dinge vielleicht zu erzählen, die
sie nicht direkt erzählen würden.
Erzählerin:
Umgekehrt kann Belkisa Heykamp den Schülerinnen und Schülern aber auch
Grenzen aufzeigen und Kontra geben - ohne in den Verdacht zu geraten, sie hätte
etwas gegen "Ausländer".
20 O-Ton Belkisa Heykamp:
Also ich hab schon erlebt, dass die Schüler zu Kollegen gesagt haben, "haben Sie
was gegen die Ausländer?" Nicht deswegen, weil sie das wirklich glauben, sondern
weil sie merken, dass sie uns damit verunsichern können. Es gab auch schon mal
Situationen, wo ich mitgekriegt habe, dass jemand gesagt hat, "Sind sie ein Nazi?"
Bei solchen Äußerungen reagier ich dann auch sehr emotional und sehr schnell und
sehr heftig, und das ist glaub ich auch sehr wichtig. In dem Moment, wo ausländische
Kinder das sagen, da meinen sie das nicht so. Aber die meisten unserer Schüler
haben ein sehr feines Fingerspitzengefühl und merken, wie sie Erwachsene unsicher
machen können. Und in der Situation wollen sie eigentlich nichts anderes als uns
unsicher zu machen und auszuschalten in dem Moment. Damit sie dann Freihat
kriegen, ein bisschen, weiter Quatsch zu machen.
6
21 O-Ton Schüler:
Müssen Deutsche ihre Wohnung mit Flüchtlingsfamilien teilen? Warum wollen
Deutsche, dass Ausländer raus sollen? Welche Probleme kann man als Ausländer in
Deutschland kriegen?
Erzählerin:
Für diese Stunde haben die Zwölf-, Dreizehnjährigen eine Reihe von Fragen
vorbereitet, auf die sie nun antworten wollen. Das große Thema in Belkisa Heykamps
Klasse sind noch immer die Flüchtlinge. Sie arbeiten daran nun schon ein gutes Jahr
lang, und die Haltung einiger der Schülerinnen und Schüler hat sich seither
verändert.
22 O-Ton Belkisa Heykamp:
Es ist dann immer eine Diskussion entstanden, die, ja, am Anfang immer auch
ziemlich emotional geführt wurde. Ich hatte das Gefühl, dass die Schüler sehr wenig
wussten. Oder dass sie nur teilweise, also sehr, sehr wenig Kenntnisse hatten auch
über die Leute, die gekommen sind, die in Deutschland leben.
Erzählerin:
Als einer der Schüler jetzt in die Runde fragt: "Warum wollen Deutsche, dass
Ausländer raus sollen?", melden sich gleich drei seiner Klassenkameraden zu Wort:
Manfred, ein deutscher Junge, Chantal, ein deutsches Mädchen, und Erkan, der
sagt, er ist halb Türkisch, halb deutsch:
23 O-Ton Manfred:
Weil die Deutsche haben wahrscheinlich Angst, dass die Ausländer Deutschland
regieren. Also, dass mehr Ausländer irgendwie als Deutsche gibt. - Ist die Angst
berechtigt? - Nein.
24 O-Ton Chantal:
Die Angela Merkel, die will halt nicht mehr, dass welche Ausländer herkommen. Aber
manche Deutsche wollen, dass wieder welche hier hin kommen, weil, keine Ahnung,
irgendwie wollen die sich verständigen, verstehen, und denen helfen. Aber manche
wollen halt nicht, dass die hier hinkommen.
25 O-Ton Erkan:
Die meisten Deutschen denken halt, dass die Flüchtlinge das Geld geschenkt
bekommen. Aber die kriegen das nicht geschenkt, die kriegen das dazu, dass sie
auch Lebensmittel kaufen können. Weil sie dürfen nicht arbeiten.
Erzählerin:
Erkan hat inzwischen die Zettel mit den vorbereiteten Fragen übernommen, zieht
einen heraus und liest laut vor:
26 O-Ton Erkan:
Wie möchtest du aufgenommen werden, wenn du als Ausländer in einem fremden
Land ankommst? - Ja? - Also, ich möchte gastfreundlich aufgenommen werden, halt
dass die Leute zu mir nett sind. - Und wie wär das, was wäre nett? - Halt mit mir
respektvoll umgehen. Und ja, nicht so doof angucken oder so. Weil, wo ich in der
7
Türkei war, da haben mich die Leute so blöd angeguckt, weil ich nicht so gut mich mit
denen verstehen konnte, weil ich kann ja nicht so gut Türkisch und so.
Erzählerin:
Chantal hat aufmerksam zugehört. Jetzt möchte sie dazu auch etwas sagen.
27 O-Ton Chantal:
Ich hab mich schon mal öfters ausländisch gefühlt, weil hier manche aus der Klasse
reden einfach die eigene Sprache, und das versteh ich dann nicht, und dann fühl ich
mich einfach so ausländisch. Aber manchmal fühl ich mich auch dabei wohl, weil,
wenn die mich beleidigen, dann versteh ich halt nix, und dann ist mir´s auch egal.
Erzählerin:
Auf die Frage, ob sie ihre Herkunftssprache schon mal einsetzen, um andere zu
beleidigen - ohne dass die es verstehen, nicken einige der Jungen...
28 O-Ton Schüler:
Ja! - Ja.
Erzählerin:
Andere widersprechen...
29 O-Ton Schüler:
Also, in Deutschland sollte man nur deutsch reden. Weil es hier Deutschland ist und
hier Deutsche sind, und deshalb verstehen sollen. - Also, zuhause rede ich nur mit
meine eigene Sprache. Aber draußen red ich nur deutsch.
Erzählerin:
In der Klasse von Belkisa Heykamp gibt es auch schon mal Zoff. Als zum Beispiel
eine Schülerin sagte, die Flüchtlinge ließen es sich auf Kosten der Deutschen gut
gehen, schlugen die Wellen hoch.
30 O-Ton Belkisa Heykamp:
Ja, und da haben wir uns dann drüber unterhalten. Und letzten Endes hab ich das
Gefühl, dass jedes Gespräch einfach unheimlich viel bringt, diese Kinder sind keine
abgeschlossenen Menschen. Was wir nicht können, ist, ja, gegen die Einflüsse von
Familie oder Freunden oder Straße zu arbeiten. Wir können aber versuchen, mit
ihnen zusammen zu arbeiten und ich glaub, es wär schon ein großer Gewinn, wenn
ich es verhindern könnte, dass die Kinder aus meiner Klasse in die Hände von
irgendwelchen Rattenfängern kommen, egal, welcher Couleur. Und das geht glaub
ich nur, indem ich ihnen zuhöre und versuche, möglichst viel Wissen zu vermitteln.
Indem ich aber auch versuche, soziale Kompetenzen aufzubauen. Und indem ich
versuche zu erklären, was Respekt ist.
Kurzer Break mit Musik:
Kurdo - Nike Kappe umgekehrt
31 O-Ton Shaban:
Also, mir ist eigentlich egal, ob jetzt Muslime oder Jude oder Christ. Hauptsache,
derjenige, der das ist, der glaubt auch an seine Religion.
8
Erzählerin:
In Dorothee Plass´ Klasse meldet sich gerade Shaban zu Wort. Er kommt aus dem
Kosovo, ein schmaler Fünfzehnjähriger mit intelligenten Augen. Provokation ist nicht
mehr angesagt, die Jugendlichen gehen das Thema deutsch-ausländisch nun
ernsthafter an.
32 O-Ton Shaban:
Wenn ich sehe, der Mensch glaubt daran, und dieser Mensch ist eigentlich
korrektmäßig zu mir und ist eigentlich ein sympathischer Mensch, den mag ich, dann
ist mir egal, ob der jetzt ein Araber, Türke, Kosovo-Albaner, was weiß ich, ist.
Mensch ist Mensch.
Erzählerin:
Und das gilt auch für Deutsche, betont Shaban,
33 O-Ton Shaban:
Was heißt, typisch deutsch? Wenn es halt seine Art ist, was kann ich machen? Soll
ich jetzt sagen, nein, das ist verboten, oder was? Ist ja in Deutschland.
Meinungsfreiheit.
Erzählerin:
Auch der Junge, der sich Michel nennt und aus Südamerika kommt, findet, es gibt
durchaus Positives in Deutschland.
34 O-Ton Michel:
Die Deutschen, die klauen nicht, also nicht so viel. Und die sind, das ist auch positiv,
die sind immer pünktlich mehr, die machen immer die Arbeit genau, die die machen
müssen. Das Gute hier in Deutschland auch ist, gibt es nicht so viel Kriminalität wie
in dem anderen Länder. Und die Polizei ist auch besser. - Haben Sie deutsche
Freunde? - Ja. Nicht so viele, aber ich habe.
Erzählerin:
Lehrerin Dorothee Plass wirkt erleichtert. Ihre Schüler präsentieren sich endlich in
der Differenziertheit, zu der sie durchaus in der Lage sind. Zumindest in der Klasse.
Auf dem Schulhof flammen Konflikte leichter auf, entstehen schneller Fronten. Es
bilden sich Gruppe, lösen sich wieder auf, aus Feinden werden Freunde und
umgekehrt. Im Klassenverband dagegen haben jeden Tag dieselben Schülerinnen
und Schüler miteinander zu tun haben, arbeiten zusammen und lernen sich so immer
besser kennen.
35 O-Ton Dorothee Plass:
Also, da gibt es dieses Phänomen auch wieder: Abgrenzung, Stolz, Vorurteile auf
beiden Seiten. Das wird in der Klasse auch manchmal ein bisschen zelebriert. Aber,
weil man sich dann wieder anguckt und auch kennt, ist es nicht dramatisch. Es führt
halt nicht zur Keilerei. Ich merk andauernd, dass sie sich mögen.
9
Erzählerin:
Das schließt nicht aus, dass jederzeit auch Streit entbrennen kann. Jetzt zum
Beispiel. Einer der Jungen greift noch einmal die Frage auf; "Was unterscheidet
Deutsche und Ausländer voneinander? Worauf Patrizia ihm wütend Contra gibt...
36 O-Ton Schüler, Carolina - Patrizia:
Junge: Sagen wir so: Der Hans ist 50 Jahre alt, fährt ein VW und ist Chefarzt. Der Ali
ist grad mal 19, fährt ein Mercedes Benz und ist arbeitslos. - Gelächter. - Patrizia:
Also, wir Deutschen, wir sparen eben das Geld, weil wir eben viel nötiger Geld
brauchen als die Ausländer. Die Ausländer schmeißen das Geld raus und kriegen
irgendwo nochmal Geld her. Was man eigentlich kaum versteht. Bei den Flüchtlingen
hier auch genauso. Die haben viel mehr Geld als wir andern, die hier wohnen. Lauter Protest - Patrizia: Und Angela Merkel, sie kümmert sich nur noch um die
Flüchtlinge. Aber was ist mit den Leuten, die hier wohnen. Sie soll sich besser um
ihre Leute kümmern, als die ganze Zeit nur um die Flüchtlinge. - Carolina: Aber was
sollen die Leute denn machen, die hier hin kommen? - Junge: Ja! - Carolina: Denkst
du, diese ganzen Spenden, denkst du, eine Person kriegt das Geld? - Patrizia: Also,
fast jeder spendet! Fast jeder. Selbst meine Eltern spenden! - Junge: Ja, siehste. Geschrei. - Shaban: Ein Tag leb als Flüchtling, glaub mir, danach sagst du nie
wieder, na, die haben unheimlich viel Geld.
Erzählerin:
Die halbe Klasse schart sich nun um den Tisch, an dem Carolina sitzt, das
selbstbewusste mazedonische Mädchen, das sich diesen deutschen Aliasnamen
gegeben hat. Patrizia hat sich von ihrem Platz erhoben und steht der Gruppe
gegenüber. Alleine.
37 O-Ton Schüler, Carolina - Patrizia:
Junge: Willst du, dass alle Flüchtlinge zurück gehen und dann in ihrem eigenen Land
sterben? - Patrizia: Ich sag ja nicht, dass die zurückgehen sollen. Aber die sollten
auch mal an andere Leute denken. Hier gibt es so viele Leute, die mich beleidigt
haben oder... - Wer denn bitte? - Die Leute kennst du nicht mal - Wer denn? - Bei mir
in der Gegend überall welche Leute. - Komm, sag wer - Ich kenn doch die ganzen
Namen nicht!!!
Erzählerin:
Patrizia ist den Tränen nahe. Hält sich aber aufrecht, ballt die Fäuste. Die anderen
brüllen weiter ihre Empörung heraus, aber die Stimmung kippt allmählich.
38 O-Ton Schüler, Carolina - Patrizia:
Junge: Ohne uns Ausländer, den ganzen ISIS, die nach Deutschland kommen, glaub
mir, ihr werdet uns dankbar sein, dass hier so viele sind. Dass wir dann auch noch
gegen die kämpfen, für Deutschland. Weil wir auch noch hier bleiben wollen. Falls
das mal passieren würde, glaub mir, jeder, egal wie alt, sogar alte Menschen, die
würden sogar mitkämpfen, ich schwör´s dir auf meine Mutter, ehrlich. - Carolina:
Auch wenn wir immer sagen, "die Deutschen, die Deutschen", trotzdem sind wir für
Deutschland! Trotzdem würden wir lieber in Deutschland leben als unser Land. Weil
hier hat man mehr Rechte, hier hat man mehr Möglichkeiten, und da darf man ja nix!
10
Erzählerin:
Versöhnung liegt in der Luft. Oder zumindest schon mal der Wille zur Versöhnung.
Der Subtext lautet nun: Die, die dir etwas angetan haben, das waren nicht wir. Es
sind nicht alle Ausländer gleich. Carolina schickt ein kurzes Lächeln in Richtung
Patrizia. Die löst die Fäuste.
39 O-Ton Schüler - Patrizia:
Junge: Geh in unser Land, leb da, danach kommt du hierhin und tata! Deutschland
ist gut. Weißt du, wenn du jetzt in Serbien da wärst, du würdest sterben da, du
würdst in Straße liegen und heulen. - Junge: Du kannst nicht sagen, jeder Ausländer,
weißt du..., - Patrizia: Es war nicht "jeder"... - Junge: Sag einfach, es waren ein paar
schlimme Menschen.
Atmo 3 freigestellt: Schulglocke
40 O-Ton Junge:
Wir haben Schule aus, hau rein! - Lachen - Auf Wiedersehen, bis morgen....
Erzählerin:
Einer der Jungen legt Patrizia im Hinausgehen die Hand auf die Schulter. Als die
Klasse sich fast geleert hat, geht Carolina auf Patrizia zu und nimmt sie in den Arm.
Musik: Kurdo - Nike Kappe umgekehrt
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