GESICHTER EUROPAS Bedrohlicher Nachbar

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 2. Juli 2016 – 11.05 – 12.00 Uhr
KW 26
Bedrohlicher Nachbar?
Belgien und die Atomkraft
Mit Reportagen von Ilka Münchenberg und Jörg Münchenberg
Musikauswahl und Regie: Keno Mescher
Redaktion und Moderation: Katrin Michaelsen
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- unkorrigiertes Exemplar –
„Es gibt wieder ein Bewusstsein, dass es 20 Jahre lang nicht gab. Dass eine atomare Gefahr
im Leben der Menschen eine Rolle spielen könnte.
„Weil es uns alle betrifft, wenn etwas in Belgien passiert. Jeder ist dann Opfer. In Belgien tun
sie nichts dagegen. Sie hören nicht zu. Sie doktern herum statt Maßnahmen zu ergreifen.“
„Das hört sich an, als wenn wir alte und schmutzige Meiler betreiben würden. Wir haben sie
modernisiert wie in Deutschland. Warum dann dieser ständige Vorwurf, die belgischen AKW
seien alt und in einem schlechten Zustand?“
Bedrohlicher Nachbar? Belgien und die Atomkraft. Gesichter Europas mit
Reportagen von Ilka Münchenberg und Jörg Münchenberg. Am Mikrofon ist
Katrin Michaelsen
Alles halb so wild. Die meisten Belgier fürchten die Atomkraft offenbar nicht.
Und das, obwohl die beiden veralteten Meiler Tihange 2 und Doel 3 immer
wieder die Schlagzeilen beherrschen. Weil es Pannen im Betrieb gab: mal kam
es zu automatischen Abschaltungen, mal gab es einen Kurzschluss, mal leckte
eine Heißwasserleitung. Probleme, die aus Sicht der belgischen Regierung aber
lösbar sind. Doch das sehen die Nachbarländer anders. Vor allem die Risse in
den Reaktordruckbehältern beunruhigen Luxemburger, Niederländer und
Deutsche. Sie verlangen, die betroffenen Blöcke aus Sicherheitsgründen
abzuschalten. Ohne Erfolg. Mit Jodtabletten will sich Belgien für die Folgen
eines möglichen Reaktorunfalls wappnen. Ab 2017 sollen sie zum Schutz vor
radioaktiver Strahlung an die gesamte Bevölkerung verteilt werden.
Von dem umstrittenen Reaktor Tihange in der Wallonie sind es nur wenige
Kilometer bis in die Kleinstadt Huy. Viele Bewohner leben schon seit
Jahrzehnten in unmittelbarer Nachbarschaft des Meilers und haben sich damit
mehr oder weniger arrangiert. Jeder auf seine Weise.
REPORTAGE 1
Ein Vormittag in Huy. Noch sind nicht viele Menschen unterwegs. Die wenigen grüßen
jeden, der ihnen entgegenkommt. Eine junge Frau ganz in Schwarz fegt mit Schwung den
Gehsteig vor ihrem Laden in der kleinen Gasse. Im Schaufenster leuchten große Torten aus
knallbunten Süßigkeiten. Argwöhnisch zieht die Frau ihre Augenbraue hoch, als sie die Frage
hört: Sprechen die Menschen hier viel über das Atomkraftwerk? Macht sie sich Sorgen wegen
der Risse in den Reaktordruckbehältern?
„Nein wir sprechen nicht sehr viel darüber. Man tut das mehr auf Ihrer Seite als bei uns. Wir
sind gut geschützt und gut informiert. Deswegen machen wir uns keine Sorgen.“
Energisch stellt sie den Besen an die Wand, packt die große Gießkanne am Henkel und
verschwindet im Laden. Im Kiosk, ein paar Schritte weiter, packt gerade Alain Godfroit
Zeitschriften aus und verteilt sie mit großer Sorgfalt auf die Regalbretter. Kann er die
Aufregung der deutschen Nachbarn verstehen?
„Sie ist ungerechtfertigt. Weil ich glaube, dass die Zentrale gut beschützt ist. Die Risse, die
Probleme, waren schon immer da. Es gibt nichts Neues. Mehrere meiner Familienmitglieder
arbeiten dort. Wenn man mit ihnen spricht, sind es die Medien, die die Probleme aufblasen,
aber ich glaube: Es gibt keine Probleme.“
Die Bewohner haben sich mit dem Atommeiler arrangiert, der allgegenwärtig ist. Tihange
grenzt unmittelbar an die Stadt. Schließlich lebt Huy von der „Centrale“, wie die Menschen
hier das Kernkraftwerk nennen. 1500 Menschen aus der Region haben in Tihange einen Job
gefunden. Wer sich unwohl fühlt angesichts des Atommeilers und der ständigen An-und
Abschaltungen, redet nicht unbedingt darüber.
„Wir haben schon immer so gelebt. Selbst wenn uns die Situation Angst macht, man muss mit
seinem Leben weitermachen. Wir sind eben kleine Leute, die nichts ändern können.“
Mehr will diese Passantin nicht dazu sagen.
Auf der Grand Place, umrahmt von prächtigen Häusern und dem goldverzierten Rathaus,
füllen sich langsam die Tische vor den Cafés. Lieferwagen fahren vor, Arbeiter laden große
Kisten und Bierfässer ab. Vor der Brasserie steht Jean-Michel Rez. Seine Motorradkutte ist
übersät mit aufgenähten Abzeichen. Genüsslich zieht er an seiner Zigarette und beobachtet
das Treiben auf dem Platz. Seit Jahren arbeitet er im Atomkraftwerk:
„Sie machen sich nicht so viele Sorgen. Weil das Sicherheitsniveau der Zentrale sehr, sehr
hoch ist. Und was einen möglichen Unfall betrifft. Nicht weil Tihange alt ist, bricht es auch
auseinander. Ich finde, die Leute verbreiten zu schnell Panik.““
Ein Kellner kommt heraus, drückt ihm eine Espresso-Tasse in die Hand. Jean-Michel Rez
nimmt sich eine neue Zigarette aus der Schachtel:
„Bevor ich in Tihange begonnen habe, zu arbeiten, kannte ich nur Katastrophenfilme. Und
Tschernobyl. Aber wenn man hineingeht, wird man sich darüber bewusst, dass die Sicherheit
sehr hoch ist. Dazu noch die Überwachung durch die entsprechenden Institutionen. Nein,
nein, ich sage nicht: man darf keine Angst haben. Ein Nullrisiko gibt es nicht . Aber ansonsten
würde ich da ja nicht arbeiten.“
Zwei ältere Herren am Nebentisch haben zugehört und sind sich schnell einig. Die Sorgen der
Deutschen? Finden sie übertrieben. Die Belgier seien da ganz anders:
„Ein guter Kaffee, ein gutes Bier, dann sind wir gelassen.“
„Ob das jetzt die Atommeiler sind oder Windräder, jeder hat irgendetwas dazu zu sagen. Wir
verfolgen das, was kommt.“
Noch ein Versuch in der Patisserie Pirotte. Vier kleine Tische, alle sind gut besetzt. Benedicte
Créviaux, eine Enddreißigern, blond, mit Pferdeschwanz, wirbelt mit drei Tellern gleichzeitig
durch den Raum - darauf Croissants, Kuchen und kleine Sahneschälchen. Dann schnell
wieder zurück zur Theke, wo neue Kunden warten. Was denkt sie über das Kraftwerk?
„Das bereitet mir keine großen Sorgen. Ich wohne in Thiange, rund 50 Meter weg vom
Kraftwerk. Das beschäftigt mich nicht all zu viel. Es gibt überall Gefahren, die Attentate und
so weiter. Und wenn man sich nur mit der Zentrale beschäftigen würde, hätte man kein
Leben.“
Die Mutter einer Tochter packt zwei Baguettes in eine Tüte, legt sie auf die Theke und
kassiert. Mit einem Lappen wischt sie ein paar Krümel beiseite.
„Dank der Zentrale gibt es viele Arbeitsplätze. Und sie tut der Wirtschaft gut. Also muss man
sich mit der Zentrale abfinden. Es gibt sie nun einmal.“
Schon ist Benedicte Créviaux wieder an der Cafémaschine: Zwei laits russes – zwei
Milchkaffees - lautet die nächste Bestellung.
Es geht weiter, direkt nach Tihange, zum Kraftwerksgelände. Mit dem Auto sind es nur ein
paar Kurven. Immer an der Maas entlang. Die drei riesigen Kühltürme ragen in den grauen
Himmel. Genau gegenüber gibt es einen Bioladen. Da, wo in Deutschland bestimmt keiner
stehen würde. Hier scheint sich niemand daran zu stören. Der Bioladen hat ein RiesenSortiment, die Nachfrage ist offensichtlich groß. An der Käsetheke stehen die Kunden
Schlange. Die Chefin, Francoise Joris, hat, was das Atomkraftwerk betrifft, ihre eigene
Strategie:
„Keiner macht sich Sorgen. Niemand spricht darüber, Je mehr Sie an etwas denken, umso
mehr wecken Sie Ängste. Ich denke nicht daran, also fürchte ich auch nichts.“
Die Risse in den Reaktordruckbehältern sind im Bioladen kein Thema. Obwohl oder vielleicht
gerade weil viele der AKW-Mitarbeiter als Kunden kommen. Francoise Joris selbst würde
lieber früher als später die Atomenergie abschaffen. Doch, was bringt es eigentlich, wenn
Tihange abgeschaltet würde?
„Ob nun in Belgien, oder da, wo Sie leben. Es gibt überall Atomkraftwerke. In Deutschland.
Die Franzosen haben Meiler ganz in der Nähe der belgischen Grenze gebaut. Statt mitten in
ihrem Land. Deshalb sage ich: Man muss damit leben.“
Alles eine Frage der Perspektive. Es geht nicht nur um veraltete
Atomkraftwerke. Auch die Terroranschläge von Paris und Brüssel haben dazu
geführt, dass sich die belgische Regierung eine geballte Ladung an Kritik
gefallen lassen musste. Vor allem wegen der Zustände im Brüsseler Stadtteil
Molenbeek, wo sich mutmaßliche Attentäter und deren Helfer mehr oder
weniger frei bewegen konnten. Ebenso beunruhigend war die Nachricht, dass
mutmaßliche Terroristen auch die belgischen Atomanlagen ins Visier
genommen haben. Seitdem gelten erhöhte Sicherheitsvorkehrungen.
Nichtsdestotrotz: An Belgien klebt das Negativ-Image eines schlecht
funktionierenden Staates: Terrornester, Fahndungspannen, Zuständigkeitschaos.
Belgiens Ruf hat in den letzten Monaten gelitten.
Geert van Istendael lebt in Brüssel. Der Schriftsteller hat einen recht
schonungslosen Blick auf sein Heimatland, eine Art Hassliebe. Über die
Widersprüche Belgiens schrieb Geert van Istendael einen Text und spricht damit
vielen seiner Landsleute aus der Seele.
Ich liebe Belgien.
Die Korruption ist hier völlig demokratisiert. Jeder Belgier weiß, dass an jedem Gesetz ein
Weg vorbeiführt und handelt dementsprechend. Die Macht ist nicht da zum Gehorsam,
sondern zum kleinen Vorteil jedes Bürgers.
Ich hasse Belgien.
Nichts ist hier möglich ohne Seilschaften und Vetternwirtschaft. Die Tarnkappe der Macht
umhüllt alles.
Ich liebe Belgien.
Richtig gut essen und trinken ist eine Selbstverständlichkeit.
Ich hasse Belgien.
Vom Sonnenaufgang bis zur Schlafenszeit, in Zeitungen und im Fernsehen faselt man
fortwährend über Essen und Trinken.
Ich liebe Belgien.
Wir sind die Weltmeister der byzantinischen Gleichgewichtsübungen, damit Wallonen und
Flamen friedlich miteinander leben können. Wir metzeln einander nicht nieder wie die Serben
und Kroaten, die Basken und Kastilianer oder wie die Nordiren untereinander.
Ich hasse Belgien.
Wann um Gottes Willen, wann werden wir endlich aufhören mit diesem unaufhörlichen
Gezanke.
Alles unter Kontrolle? – Belgien setzt nach wie vor auf Atomkraft. Gut die
Hälfte des Strombedarfs wird von der Kernenergie geliefert. Zwar gibt es auch
in Belgien Pläne für einen Atomausstieg, doch das dauert noch. Angepeilt wird
das Jahr 2025. Die Laufzeiten der beiden umstrittenen Meiler wurden
entsprechend verlängert: Von Doel bei Antwerpen und auch von Tihange in der
Nähe von Lüttich. Das rechnet sich für den Betreiber Electrabel. Einerseits!
Anderseits steht das Unternehmen enorm unter Beobachtung. Wegen der Risse
in den Reaktordruckbehältern der Anlagen. Die Sorge: Dass ein störungsfreier
Betrieb schon lange nicht mehr gewährleistet ist. Electrabel will diesen Vorwurf
so nicht stehen lassen.
REPORTAGE 2
„Nun lege ich den Objektträger unter das Mikroskop. Ich muss nur schauen, ob die
Kalibrierung stimmt.“
Labortechnikerin Alexandra Grégoire ist hoch konzentriert. Doch das vollautomatische
Rasterelektronenmikroskop im Labor von Electrabel, dem belgischen Stromriesen, erledigt
die meiste Arbeit fast von alleine.
„Also sehr kurz: wir werden uns jetzt die interessanten Stellen anschauen. Dann werden wir
das Objekt in feine Scheiben schneiden. Danach wird die Oberfläche poliert. Und mit diesem
Mikroskop hier werden wir ein optisches Bild erzeugen. Das ist das, was wir hier machen.
Mit diesem Mikroskop können wir die Oberfläche beschreiben. Wir können etwa Brüche
entdecken, wie etwas bricht“.
Mikroskop reiht sich an Mikroskop in den großzügigen Kellerräumen des Labors. Die
Arbeitsflächen fast klinisch sauber und aufgeräumt. An den Wänden stehen hohe Regale mit
zahlreichen Materialproben, aufgesägte Röhren etwa und Metallblöcke. Jean Van Vyve
nimmt aus einem Glasschrank behutsam ein poliertes Metallplättchen auf einen runden
Objektträger. Der Ingenieur wirft selbst noch einen Blick auf die spiegelnde Oberfläche und
reicht sie weiter. Er wurde der verantwortliche Projektleiter – nach der Entdeckung von
Haarrissen in zwei Blöcken der Atomkraftwerke Doel und Tihange. Keine leichte Aufgabe,
aber von seiner Arbeit war der über 60-jährige stets überzeugt:
„Man hat Scheiben aus den Metallproben abgeschnitten, sie wurden poliert. Und wenn sie das
gemacht haben – sie können es gerne in die Hände nehmen – dann sehen sie die
Wasserstoffflocken. Da diese kleinen Linien – können sie das erkennen? Das sind die
Flocken. 10 Millimeter lang, ganz dünn. Aber der Rest des Materials ist völlig intakt. Also da
ist etwas innen im Material passiert“.
Es sind genau diese feinen, dünnen Linien – mit bloßem Auge fast kaum zu erkennen - die
eine ganze Region in helle Aufregung versetzen und den belgischen Stromversorger in ernste
Schwierigkeiten gebracht haben. 14.000 kleine Risse, die Experten sagen Wasserstoffflocken,
wurden in den beiden Blöcken Tihange 2 und Doel 3 bei Inspektionen in den
Reaktordruckbehältern 2012 entdeckt.
Einen gigantischen Forschungs- und Dokumentationsaufwand habe man seither betrieben,
jeder Riss mit der entsprechenden Positionierung sei dokumentiert, sagt
Materialwissenschaftler Steven Goedseels, der den gesamten Bereich verantwortet:
„This page here is that we are completely sure that we know exactly how this was positioned
in the piece that we don’t mix up with the size. So it’s fully documented piece by piece –
there were thousands of these pieces”.
“Jede einzelne Flocke wurde identifiziert. Damit wir das bei der nächsten Inspektion
vergleichen können – sind es die gleichen Konturen, am gleichen Ort, in der gleichen Tiefe
und Höhe, die gleiche Ausrichtung, der gleiche Umfang. Drei Mal haben wir das gemacht in
den letzten drei Jahren“.
Ergänzt Nuklearexperte Van Vyve den Aufwand. Das Ergebnis: keine Veränderung bei den
Rissen. Die Schlussfolgerung: ein Fehler beim Schmieden des Stahls, von dem aber keinerlei
Gefahr ausgehe, betont auch Materialwissenschaftler Goedseels beim Rundgang durch die
angrenzenden Laborräume. Auch hier stehen überall hohe Materialschränke, Computer und
Mikroskope:
„Die Bildung von Wasserstoffflocken ist ein bekanntes Phänomen bei der Stahlherstellung.
Das gab es vor allem früher ziemlich oft, in den 60er Jahren, als man sich noch nicht so gut
auskannte mit der Stahlproduktion. Das ist ein Prozess, der von alleine entsteht nach der
Verfestigung des geformten Stahls. Es ist ein Prozess, der bei der Fabrikation entsteht. Und
nicht etwa durch die Bestrahlung oder Ähnlichem“
Durch lange Gänge geht es zum Schluss aus dem Laborbereich ins Besprechungszimmer.
Reiner Zufall – unser Besuch fällt ausgerechnet mit dem letzten Arbeitstag von Projektleiter
Jean Van Vyve zusammen. Jahrzehnte hat er für den Konzern gearbeitet und jetzt will er noch
etwas loswerden. Es geht um den schlechten Ruf der belgischen Atomkraftwerke und damit
letztlich auch um die Wertschätzung der eigenen Arbeit, das eigene Vermächtnis:
„Wenn ich das höre, bin ich sehr unglücklich. Das hört sich an, als wenn wir alte und
schmutzige Meiler betreiben würden. Wir haben sie modernisiert wie in Deutschland. Wie es
auch in der Schweiz gemacht wurde. Warum dann dieser ständige Vorwurf, die belgischen
AKWs seien alt und in einem schlechten Zustand? Woher kommt diese Wahrnehmung? Wir
sollten uns an die Fakten halten.
Gerade auf die Deutschen ist der verantwortliche Ingenieur nicht so gut zu sprechen. Die
ständigen Zweifel, Vorwürfe, wie er sagt, ohne Substanz. Wir sind dafür verantwortlich, dass
die belgischen AKW sicher betrieben werden können, bekräftigt Van Vyve mit
entschlossenem Gesicht. Alle erforderlichen Nachweise habe der Konzern erbracht. Auch bei
Electrabel hat es kritische Fragen gegeben. Aber die Antwort sei eindeutig ausgefallen,
betont der Belgier. Die Meiler sind sicher - bei gleichzeitig sehr hohen Sicherheitspuffern:
“So what can we do more? We had our own review, we had our own conviction if restarting
these plants and operating them is safe. But it is safe with large margins”.
Alles nicht so einfach im deutschen Grenzgebiet. Jedenfalls für NordrheinWestfalen und für Rheinland-Pfalz. Beide Bundesländer gehen inzwischen
juristisch gegen Doel und Tihange vor. Wobei die Landesregierung in Mainz
noch prüft, ob sie sich dem Weg Nordrhein-Westfalens und der Städteregion
Aachen anschließt, die beide Klage vor dem höchsten belgischen
Verwaltungsgericht eingereicht haben, um den Weiterbetrieb der beiden Meiler
zu stoppen.
Doel liegt 150 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, Tihange 65
Kilometer von Aachen. Doch mitreden, wenn es um die Einschätzung des
Sicherheitsrisikos geht, mitreden dürfen weder Landesregierungen noch die
Bundesregierung in Berlin. Zwei EU-Nachbarn, eigentlich eng miteinander
verbunden, planen und denken in Fragen der Atompolitik ganz national.
Immerhin gibt es zwischen Deutschland und Belgien nun eine gemeinsame
Arbeitsgruppe zu Fragen der kerntechnischen Sicherheit, dabei geht es aber
lediglich um die gegenseitige Information, um den politischen und fachlichen
Dialog und nicht darum mitzuentscheiden.
Vielen Menschen in Aachen reicht das nicht. Ihre Forderung: „Tihange
Abschalten“. Mit Demonstrationen, mit Plakataktionen haben die Aachener
unmissverständliche Zeichen gesetzt, und sie decken sich mit Jodtabletten ein.
REPORTAGE 3
Der Marktplatz in Aachen; Herzstück der historischen Altstadt. In der Mitte trohnt der
Karlsbrunnen, nur wenige Meter entfernt vom imposanten gotischen Rathaus. In den
Geschäften und Kneipen herrscht reger Betrieb. Die Stimmung sommerlich entspannt, viele
Aachener nutzen das schöne Wetter für ein Bier oder einen Stadtbummel. Die Aufregung um
Tihange, das umstrittene belgische Atomkraftwerk, 65 Kilometer westlich gelegen, hat sich
scheinbar gelegt. Doch der Eindruck täuscht:
„Guten Tag, guten Tag“
Besuch in der Ratsapotheke, direkt gegenüber dem Rathaus gelegen; stolze 400 Jahre alt;
innen aber modern eingerichtet, viel Licht, hohe Regale, Medikamentenschränke.
Apothekerin Karen Radtke, braunes Haar, Pagenfrisur, gibt freundlich, aber bestimmt
Auskunft auf die Frage, wie das Geschäft mit den Jodtabletten läuft:
„Das hängt immer davon ab, was gerade in der Zeitung steht. Wenn wieder ein Artikel
erschienen ist, dann haben wir eine hohe Nachfrage. Fragen entstehen immer und wenn
wieder etwas im Schwange ist, dann wollen auch alle etwas wissen. Wir haben aufgrund
dieser Lage extra Jodtabletten angeschafft. Das sind ja besondere Jodtabletten, die man nicht
immer auf Lager hat. Die sind sehr hoch dosiert, die bekommt man sonst nicht“.
Mit der Einnahme von sogenannten Kaliumjodid- Tabletten soll die Speicherung von
radioaktivem Jod in der Schilddrüse nach einem Atomunfall verhindert werden. Und damit
eine drohende Krebserkrankung. Doch selbst bei der resoluten Apothekerin ist die
Verunsicherung unüberhörbar:
„Beispielsweise Leukämie durch eine andere Strahlenart, die auch in der Atomwolke drin ist,
wird es nicht vorbeugen. Das ist ganz klar. Und das ist zum Beispiel die nächste Frage: was
kommt als nächstes hier an in der Strahlung: ist das gleichzeitig alles da, wirkt das verspätet;
ist es erst einmal gut Jodtabletten zu nehmen? Das ist mir persönlich nicht klar. Und die
Information hätte ich gerne einmal von einem, der da gerne Bescheid weiß“.
Schwierige Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt; die aber viele Aachener
umtreiben. Seitdem sich die Störfälle in den belgischen Atommeilern in den letzten Monaten
gehäuft haben. Von den entdeckten Rissen in den Reaktordruckbehältern Doel 3 und Tihange
2 ganz zu schweigen. Der Oberbürgermeister empfängt in seinem stattlichen Arbeitszimmer:
Holzvertäfelung, gotische Spitzbögen, altehrwürdige Porträts an der Wänden.
„Es gibt wieder ein Bewusstsein, dass es 20 Jahre lang nicht gab. Dass solche Unfälle oder
eine atomare Gefahr im Leben der Menschen eine Rolle spielen könnte. Ein Vorbereiten auf
Radioaktivität hat ja letztlich in der Geschichte der 60er Jahre stattgefunden. Wo es da um
Aufrüstung ging“.
Seit 2009 ist Marcel Philipp im Amt und er hat sich angesichts der wachsenden öffentlichen
Verunsicherung in der Stadt für eine offensive Strategie entschieden. Und sich damit auch
angreifbar gemacht, räumt der flotte 45-Jährige unumwunden ein:
„Es ist eine Gratwanderung. Wir haben es in der Diskussion in der Öffentlichkeit mit zwei
Lagern zu tun. Mit denjenigen, die uns darauf hinweisen, dass wir ganz offensiv damit
umgehen sollen. Dass wir auch den größten anzunehmenden Unfall als Handlungsszenario
voranstellen müssen. Das hat natürlich zur Folge, dass jeder glaubt, dass Ereignis stünde in
der nächsten Woche bevor“
Dem anderen Lager in der Stadt sind die Störfälle in Tihange und Doel dagegen herzlich egal.
Philipp aber will auf Nummer sicher gehen. Im vergangenen Dezember fand deshalb erstmals
eine großangelegte Notfallübung in Aachen statt.
Hauptwache der Aachener Feuerwehr
„Das ist das Herzstück. Das ist die Leitstelle. Hier werden sämtliche Notrufe für Brandschutz,
für Unwetter, Katastrophe, aber insgesamt auch für Rettungsdienst, Notarztdienst
entgegengenommen und entsprechende Einsatzdienste aus dem Rechner dann disponiert“.
Jürgen Wolff, Typ Ausdauersportler und Chef der Aachener Feuerwehr, erklärt in Uniform
und robustem Schuhwerk die Technik. Die Atmosphäre in der Leitstelle konzentriert und
wachsam, ständig laufen neue Anrufe ein. Die Frontwand zieren große Monitore, die wohl
auch bei einem atomaren Störfall im benachbarten Belgien eine wichtige Rolle spielen
würden:
„Also für Doel und Tihange würde man auf alle Fälle erst einmal ein Livebild hereinholen.
Um auch ein Gefühl, eine Einschätzung zu erhalten, was ist denn tatsächlich die Situation vor
Ort, wie wir das auch an anderer Stelle schon mal tun“.
Es geht zwei Stockwerke höher in der Hauptwache. Wolff präsentiert eine Art
Kommandostelle der Aachener Feuerwehr; Tische sind zu einem großen Quadrat aufgestellt,
Telefone, Computer, an den Wänden Karten und Warntafeln; von hier aus soll im Falle eines
Falles der Krisenstab unter Leitung des Oberbürgermeisters die Kommunikation mit anderen
Krisenstäben, die Warnung der Bevölkerung, eine Erstversorgung oder gar erste
Evakuierungsmaßnahmen übernehmen. Eine Nuklearwolke aus Tihange, könnte, je nach
Wetterlage, Aachen schon in vier Stunden erreichen.
„Wir gehen derzeit eine gewisse strukturelle Vorplanung der Evakuierung an. Wir werden
nicht in die Lage kommen, 250 000 oder tagsüber dann mit den Pendlern 300.000 Menschen
gezielt mit Bussen oder Bahnen evakuieren zu können. Das geht nicht, ganz deutlich“.
Aachen hat sich, so gut es geht, auf das Schlimmste vorbereitet. Ab Herbst sollen auch
erstmals Jodtabletten von den Behörden an die Bevölkerung verteilt werden. Am Ende aber,
das hatte noch im Rathaus Bürgermeister Philipp eingeräumt, könnte man eine Katastrophe,
wenn sie denn erst einmal eingetreten ist, kaum abwehren:
„Das Verteilen von Jodtabletten ist ein kleiner Aspekt. Der ist sehr komplex. Letztlich ist der
wichtigere Punkt der, dass in einem solchen Fall die Kommunikation stimmen muss. Und die
Abstimmung der Ebenen untereinander. Niemand kann mir begründen, warum nicht auch in
Europa ein solcher Unfall unter bestimmten Gebieten möglich sein sollte. Und wenn er
passiert in so dicht besiedelten Gebieten, dann ist die Wirkung so katastrophal, dass ich als
Vermeidungsstrategie nur noch das Abschalten von Atomkraftwerken sehe“.
Alles übertrieben? Die Angst der Deutschen vor Atomkraft und vor
Radioaktivität? Die Sorge, dass eine Katastrophe drohen könnte? Oder die
Gefahren einer geheimen aber gefährlichen Strahlung nicht erkannt werden?
Während in Deutschland der Widerstand gegen die Atomkraft immer schon groß
war, ein Umdenken nach der Katastrophe von Fukushima eingesetzt hat, scheint
sich in Belgien die Aufregung in Grenzen zu halten. Warum aber ist das so?
Warum wird hierzulande politischer Druck aufgebaut, werden juristische Wege
beschritten und in Belgien nicht? Aus Verantwortungslosigkeit? Aus
Abgeklärtheit? Oder aus Gelassenheit?
Wer nach Erklärungsmustern sucht, der wird bei Geert van Istendael fündig,
dem Schriftsteller aus Brüssel, dem genauen Beobachter der belgischen
Gesellschaft. Seine Diagnose: Eine hohe Bereitschaft Kompromisse einzugehen,
aber zu einem hohen Preis:
Der Kompromiss war und ist noch immer die Rettung meines Vaterlandes. Das
wissen die Belgier im tiefsten Inneren. Dazu haben die Belgier im Laufe ihrer
Geschichte immer wieder inbrünstig neue Kompromisse gesucht und haben
nach Jahrzehnten und Jahrhunderten einen sechsten Sinn für gute Kompromisse
entwickelt. Was aber ist ein guter Kompromiss? Das ist sehr einfach. Der gute
Kompromiss ist der schlechte Kompromiss. Diesen guten, beziehungsweise
schlechten Kompromiss erkennt man daran, dass die beteiligten Parteien alle,
ohne Ausnahme, ja wirklich alle, mindestens mit Einzelteilen des Kompromisses
unzufrieden sind. Besser ist, wenn man mit dem ganzen Kompromiss unzufrieden
ist. „Unzufrieden sein“ ist nicht dasselbe wie „nicht einverstanden sein“. Man
ist mehr oder weniger einverstanden, denn man unterschreibt den Kompromiss.
Aber trotzdem ist man nicht zufrieden. Keineswegs. Dass es in Belgien noch
immer keinen Bürgerkrieg gegeben hat, haben wir dieser allgemeinen
Unzufriedenheit mit dem Erreichten zu verdanken. Man verhandelt Stunden,
Tage, Wochen, Monate, jahrelang oder 500 Tage, wie vor einigen Jahren.
Letztendlich verlässt man den Verhandlungstisch. Ein jeder ist todmüde. Ein
jeder hat die Verhandlungen satt. Ein jeder hasst die anderen
Verhandlungspartner und, dies ist besonders wichtig, hasst auch sich selbst. Ein
jeder geht zur Pressekonferenz mit schlechter Laune und finsterer Miene. Ein
jeder, und auch das ist wichtig, ein jeder sagt der Journalistenmeute: „Wir
haben eine Lösung gefunden!“ Man sagt nicht: „Wir haben eine gute Lösung
gefunden!“ Man sagt nicht „Wir haben eine befriedigende Lösung gefunden!“
Man sagt nicht einmal: „Wir haben eine ausreichende Lösung gefunden!“ Man
sagt schlichtweg „Eine Lösung“. Denn keiner ist zufrieden.
Alles ganz schön mühsam wenn man in Belgien den Widerstand gegen die
Atomkraft organisieren will. In einem Land der eigentlich permanent
Unzufriedenen, wie es Geert van Istendael gerade festgestellt hat. Oder wie die
Bioladenbesitzerin in der Kleinstadt Huy mit ihrer Strategie, lieber nicht über
die Probleme zu sprechen, weil sonst umso mehr Ängste geweckt werden. Doch
auf diese Strategie setzen nicht alle. Es gibt in Belgien eine Anti-AKW-
Bewegung, ein paar Bürgerinitiativen, die den Protest organisieren, wenn auch
unter widrigsten Umständen.
REPORTAGE 4
“No rain, no nukes, no rain, no nukes!” –
“Kein Regen, kein Atomkraftwerk!“, ruft Leo Tubbax. Seinen Humor will sich der 62jährige
Wallone durch das nasskalte Wetter bestimmt nicht nehmen lassen. Die rote Baskenmütze,
sein Marken- und Erkennungszeichen bei jeder Kundgebung, hilft ihm allerdings gegen den
Regen gerade wenig: Es schüttet wie aus Kübeln. Ein paar Minuten nur und jeder ist, trotz
Schirm und Regencapes, völlig durchweicht. Fast trotzig halten die Protestler ihre Fahnen in
die Höhe. Zumindest auf ihnen lacht die Sonne: Rot auf gelbem Stoff - seit Jahrzehnten das
Symbol der Antiatomkraftbewegung.
„Stoppt die Atomkraft, stoppt die Atomkraft, und zwar sofort!“
Zufrieden blickt Leo Tubbax auf die –wenn auch recht überschaubare – Menge, die sich
gerade um ihn herum, im sogenannten Keramikviertel in Maastricht, versammelt. Seit über 40
Jahren kämpft der hochgewachsene Mann gegen die Atomkraft in seinem Heimatland. Wo
immer demonstriert wird, ist Tubbax an vorderster Front mit dabei. Umgeben von Deutschen
und Holländern. Seine eigenen Landsleute sind wie so oft in der Unterzahl. Die Sorgen und
die Wut scheinen in Belgien nicht groß genug zu sein. Tubbax hält dagegen:
„Die Belgier haben Angst, sie sind verärgert. Sie gehen aber nicht aus Protest auf die Straße.
Alle seriösen Studien zeigen, dass die Leute angesichts der Atomkraft Angst haben. Sie
finden aber keine Bewegung, die ihnen vertrauenswürdig erscheint. Wir sind ein paar
Tausend. Das reicht ihnen nicht. Die Glaubwürdigkeit der Antiatomkraftbewegung in Belgien
ist gleich null.“
Dabei sei die Antiatomkraftbewegung in Belgien einmal relativ stark gewesen. Der größte
Erfolg der Aktivisten: das belgische Atomausstiegsgesetz, 2003. Sehr viel früher als in
Deutschland. Danach habe der Schwung der Atomkraftgegner merklich nachgelassen,
bedauert Tubbax. Und zieht den Reißverschluss seines hellblauen Anoraks mit Schwung bis
hinauf unter das Kinn.
Die Leute sagen, wir haben ein Gesetz: Was willst Du mehr? Was ich will? Die Schließung
der Reaktoren. Die Gesetze, habe ich eingerahmt und über mein Bett gehängt. Aber das nützt
doch im Moment alles nichts.
Zwar sind es nur ein paar Hundert Demonstranten, die sich heute zusammengefunden haben.
Lautstark sind sie trotzdem. Eine kunterbunte Truppe schiebt sich da gut gelaunt über das
Kopfsteinpflaster. Neben erprobten Anti-Atomkraft-Kämpfern protestieren auffällig viele
junge Menschen.
„Manchmal ist es ja sinnvoll, dass man da hingeht. Wenn die Atomkraftwerke z.B. in Tihange
hochgehen, dann ist das natürlich nicht so gut. Dann muss man die Heimat verlassen, wenn
alles verstrahlt ist. Ich weiß nicht, ob es was bringt, wenn jetzt eine Person mehr ist oder so.
Wenn das aber jeder denken würde, würde ja keiner kommen. Und das ist ja dann nicht so
gut.“
„Ich habe wirklich Schiss, was die belgischen Atomkraftwerke betrifft. Weil selbst
Atomkraftbefürworter gesagt haben, dass es unverantwortlich ist, die Meiler wieder in Betrieb
zu nehmen.“
„Weil es uns alle betrifft, wenn etwas in Belgien passiert. Jeder ist dann Opfer. In Belgien tun
sie nichts dagegen. Sie hören nicht zu. Sie doktern herum statt Maßnahmen zu ergreifen.“
Empört sich eine Holländerin mit kurz geschnittenen grauen Haaren. Leo Tubbax gibt ihr
Recht. Er ist froh über jede Unterstützung aus den Nachbarländern. Ohne den Druck aus
Deutschland und den Niederlanden stünden die belgischen Atomkraftgegner auf verlorenem
Posten:
„Die Tatsache, dass die Dinge sich bewegen in Deutschland, in Holland, in NordrheinWestfalen und Limburg, ist extrem wichtig. Alle Klagen, die jetzt laufen, alle Sorgen, die
formuliert wurden - etwa durch die Bundesumweltministerin Hendricks - sind sehr wichtig.
Weil das unsere Glaubwürdigkeit steigen lässt. In Belgien - ausgerechnet in Belgien - wird
sich alles entscheiden.“
Mittlerweile haben die Demonstranten ihr Ziel, den Marktplatz, erreicht. Dort steht ein kleines
Podium bereit für die Abschlusskundgebung. Der Dauer-Regen hat die meisten Spaziergänger
in die Cafés und Einkaufspassagen vertrieben. Vereinzelte Passanten sind neugierig, bleiben
kurz stehen, gehen dann aber doch weiter. Leo Tubbax nimmt zwei Stufen auf einmal, um die
Bühne zu erklimmen. Bevor er zu seinen Mitstreitern spricht, beugt er sich noch einmal
herunter:
„Ich denke, die Reaktoren werden schließen. Die Frage ist: Wird das vor oder nach der
Katastrophe sein? Wir sind in einem Rennen bei voller Geschwindigkeit: Es muss sich so
schnell wie möglich etwas ändern. Mit einem Plan für die nächsten fünf bis zehn Jahre. Aber
das wird unter einer anderen Regierung sein. Die jetzige ist unsozial, und pro Atomenergie“.
Er schaut vor sich auf das Dach von zusammengeschobenen Regenschirmen. Darunter die
Demonstranten. Die Unermüdlichen. Diejenigen, die beharrlich mit ihren Protesten
durchhalten. So lange es eben dauert.
„Tihange eins, Tihnage zwei, Doel eins, zwei und drei müssen dicht machen. Sie sind
gefährlich. Doel, Tihange, Doel müssen schließen.“
Alles noch ausbaufähig. Belgien will zwar aus der Atomenergie aussteigen, aber
es zeichnet sich noch überhaupt nicht ab mit welcher Strategie. Wer auf
erneuerbare Energien setzt, statt auf Atomstrom, der findet in Belgien noch
wenig Unterstützung. Friedhelm Wirtz hat das in Kauf genommen. Er ist
Bürgermeister in der Eifelgemeinde Büllingen, ganz im Osten Belgiens, einer
Gegend mit viel Wind und damit idealen Voraussetzungen für energiepolitische
Pionierarbeit.
REPORTAGE 5
Im Laufschritt eilt Friedhelm Wirtz den Flur im Rathaus entlang. Der Bürgermeister, ein
sportlicher 57jähriger in Jeans, Blazer und blauen Lederschuhen, schließt die Tür auf zu
seinem Büro. Eine Sekretärin hat er nicht - wie viele Bürgermeister in Belgien, sagt er. Die
beiden Schreibtische sind mit Papierstapeln völlig überladen. Er zieht ein Dokument heraus,
springt vom Sitz auf. Und weiter geht es, hinein in den stattlichen Sitzungssaal. An den
Wänden die Fotos des belgischen Königs und der Königin. In der Mitte die Fahnen Belgiens
und Büllingens. 27 Dörfer bilden die Gemeinde. 5500 Einwohner leben hier. Und nicht
gerade schlecht, sagt Friedhelm Wirtz. Das soll auch so bleiben.
„Da ist es natürlich immer wichtig, und für mich auch als Bürgermeister, dass wir langfristig
planen und dass wir neue Einnahmenquellen erschließen, wo natürlich die Windkraft eine von
eigentlich wenigen ist.“
Büllingen war eine der ersten Gemeinden in Belgien, die Windräder aufstellte. Ganz nach
dem Vorbild Deutschlands. In den 90er Jahren begannen die Planungen. 2001 schloss die
Gemeinde den Vertrag mit Elektrabel, 2008 ging das erste Windrad ans Netz. Rund 44.000
Euro im Jahr brachte die Windkraft zuletzt der Gemeinde ein. Nicht gerade viel, bilanziert
Wirtz, ist aber dennoch zufrieden:
„Damals waren wir schon der Meinung, mit unserem Partner Elektrabel gut verhandelt zu
haben. Wenn ich das aber mit den Zahlen vergleiche, die uns heute geboten werden, war das
eigentlich Peanuts.“
Ein kurzer Blick auf das Smartphone, ob Dringendes erledigt werden muss. Dann macht sich
der Bürgermeister auf den Weg mit dem Dienstwagen auf zur Hochebene. Dort, wo sich der
Windpark erstreckt. Die Straße schlängelt sich hinauf, Kurve für Kurve. An vielen Höfen
vorbei, die inzwischen nicht mehr bewirtschaftet werden.
„Jetzt fahren wir aus Büllingen raus. Jetzt sehen Sie die ersten Windräder, das ist unser
Windpark. Bolder-Biert heißt er. Ja, wie es in Büllingen sehr oft ist: Es fängt an zu regnen!
Ich freue mich immer, wenn ich die Windräder von mir zuhause sehe, in Honsfeld, wo ich
wohne, da sehe ich sie auch. Da denke ich immer: Es ist schon interessant, wenn man weiß,
an dieser Geschichte hast Du mitplanen dürfen.“
Oben angekommen, hält der Wagen im tiefen Matsch. Kaum etwas ist zu hören – nur das
leise Surren der Rotoren, nur wenige Lastwagen, die auf der Landstraße vorbeirauschen. Ein
paar schwarzgefleckte Kühe fläzen sich auf den Wiesen, nur wenige Meter entfernt von einem
Windrad-Mast. Insgesamt sechs Windräder stehen hier. Die Rotoren mit den rot-weißen
Flügeln drehen sich heute nur sehr langsam. Gab es Widerstand aus der Gemeinde gegen die
große Anlage? Der Bürgermeister schmunzelt:
„Die Einnahmen sind für die Gemeindekasse, als hat jeder Bürger was davon. Deswegen gab
es auch schnell eine Akzeptanz bei den Bürgern für dieses Projekt.“
Dass die Dörfer und Städte in der ländlichen Region in einer Umbruchphase stecken, ist dem
Bürgermeister nur zu gut bewusst. Wer will noch den landwirtschaftlichen Betrieb der Eltern
übernehmen? Dabei hat die Eifelgemeinde Büllingen noch Glück: Die Holzwirtschaft ist ein
großer Wirtschaftsfaktor. Wirtz streckt den Arm aus, schwingt ihn um 180 Grad und zeigt
stolz den Besitz der Gemeinde:
„Diese Wälder, die Sie sehen, sind alles gemeindeeigene Wälder. Das ist für uns auch ein
stückweit tägliches Brot. Weil: ohne unsere Wälder hätten wir es sehr schwer als
strukturschwache Gemeinde.“
„Sehen Sie, wenn wir hier stehen, sind wir auf der trockenen Seite.“
Friedhelm Wirtz streicht mit der Hand über die Oberfläche des hellgrauen Masts.
Hinaufsteigen ist verboten. Selbst ihm, dem Bürgermeister. Sein Blick geht nach oben:
„Da wird mir fast schwindelig. Diese Windräder, das sind die höchsten Bauwerke Belgiens.
Wenn ich die Höhenlage nehme plus das Windrad – das addiere – dann ist das das höchste
Bauwerk Belgiens, weil: Es ist die höchstgelegene Gemeinde Belgiens.“
Wenn irgendwo Windräder stehen sollten, dann doch in seiner Gemeinde, sagt Friedhelm
Wirtz. Jeweils 2 Megawatt pro Jahr produziert jedes Rad. Bis zu 3.500 Haushalte können mit
dem Strom versorgt werden. Das soll noch mehr werden. Derzeit laufen Planungen für einen
zweiten Windpark.
Nicht erst seit der Atomkatastrophe in Fukushima hofft Friedhelm Wirtz, dass ganz Belgien
künftig stärker auf erneuerbare Energien setzen wird. In rund 10 Jahren, so ist der Plan, will
die Regierung die Atomkraft abschalten.
„Auf der einen Seite würde ich es mir wünschen. Würde ich auch darauf hoffen. Aber daran
glauben tue ich nicht. Weil es muss ja klar sein. Wir müssen dann Ersatzenergien finden, und
wo nehmen wir die her? Das wird nicht funktionieren in einer relativ kurzen Zeit. Langfristig
ist es irgendwie möglich, aber momentan? Zehn Jahre erscheinen mir doch eine recht kurze
Zeitspanne zu sein, um das umzusetzen.“
Friedhelm Wirtz bahnt sich den Weg durch den Schlamm zurück zu seinem Wagen. Der
nächste Termin wartet auf den Bürgermeister. Ein kurzer Blick noch zurück. Schade, er hätte
so gerne die prächtige Aussicht auf die Landschaft und den ganzen Stolz von Büllingen - die
Windräder - bei besserem Wetter präsentiert.
Bedrohlicher Nachbar? Belgien und die Atomkraft. Das waren Gesichter
Europas mit Reportagen von Ilka Münchenberg und Jörg Münchenberg.
Die Literatur stammt aus dem Buch „Das belgische Labyrinth“ von Geerd van
Istendael, gelesen hat sie der Autor. Musikauswahl und Regie: Keno Mescher.
Ton und Technik: Daniel Dietmann, Angelika Brochaus und Katrin Fidorra. Am
Mikrofon war Katrin Michaelsen