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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Welches Kind darf leben?
Probleme der Pränatal-Diagnostik
Von Christine Werner
Sendung: Mittwoch, 19. Juni 2013, 08.30 Uhr
Wiederholung: 29. Juni 2016, 08.30 Uhr
Redaktion: Sonja Striegl
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2013
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MANUSKRIPT
O-Ton 1 - Maria Neuling:
Es war nach der Geburt relativ schnell auffällig, dass irgendwas mit Ferdinand nicht
stimmt, weil er nicht trinken konnte oder nur ganz, ganz schlecht. Und einfach auch
die Lebensfunktionen nicht so da waren wie bei einem anderen Kind, er wurde
schnell kalt. Und kam dann, ich glaube in seiner zweiten Nacht auf der Welt kam er
dann auf die Intensivstation, weil er wurde immer weniger und die Ärzte haben
gemerkt, dass das nichts wird so.
Autorin:
Maria Neuling erzählt von der ersten Zeit mit ihrem Sohn Ferdinand. Sie war 30 als
sie mit ihm schwanger war, er war ein Wunschkind. Heute ist Ferdinand fast fünf
Jahre alt, er ist aber gerade mal 80 Zentimeter groß und wiegt nur acht Kilo. Es ist
ein kleines Bündel Mensch, dass da auf einer Decke im Wohnzimmer liegt und jetzt
nach dem Mikrofonkabel greift.
O-Ton 2 - Maria Neuling:
Er kann nicht krabbeln, aber er kann sich drehen und wenn ihn was besonders
interessiert, dann macht er das auch, relativ zielgerichtet in eine Richtung, immer in
die, wo er nicht hin soll natürlich.
Autorin:
Ferdinand kann auch nicht stehen, nicht alleine sitzen und nicht sprechen. Was er
wahrnimmt? Schwer zu sagen. Während der Schwangerschaft gab es keine
Schwierigkeiten, sagt Maria Neuling, das Baby in ihrem Bauch war zwar relativ klein,
aber die Ärzte machten sich keine Sorgen. Sie wusste also nicht, dass ihr zweites
Kind mit einer schweren Behinderung auf die Welt kommen wird. Hat sie sich je die
Frage gestellt: Was hätten wir getan, wenn wir es gewusst hätten?
O-Ton 3 - Maria Neuling:
Nee, ehrlich gesagt, die Frage habe ich mir noch nie gestellt. Weil es ist ja eine
schwierige Frage. Und irgendwie bin ich froh, dass wir das vorher nicht wussten.
Dass wir diese Frage nicht vorher beantworten mussten.
Ansage:
„Welches Kind darf leben? - Probleme der Pränataldiagnostik“. Eine Sendung
von Christine Werner.
Autorin:
Die Pränataldiagnostik stellt heute immer mehr Frauen und Paare vor diese
schwierige Frage. Schwangeren wird heute eine breite Palette an Untersuchungen,
Tests und Screenings angeboten, mit denen das ungeborene Kind durchleuchtet
werden kann. Auf Erbkrankheiten, Chromosomenstörungen und geistige
Behinderungen, Down-Syndrom, Herzfehler und offenen Rücken. Mit Ultraschall,
Fruchtwasseruntersuchung und inzwischen auch mit einem einfachen Bluttest.
Professor Wolfram Henn ist Humangenetiker und Medizinethiker, er leitet die
genetische Beratungsstelle der Universität des Saarlandes in Homburg und kennt die
Auswirkungen dieser Angebotspalette.
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O-Ton 4 - Wolfram Henn:
Na, es gibt schon so eine Haltung der Qualitätskontrolle sozusagen, man glaubt,
dass man durch vorgeburtliche Untersuchung Behinderung vermeiden kann, was
vollkommener Unsinn ist. Und das führt dann schon zu einer solchen
Defensivhaltung, dass da niemand mehr ganz entspannt an Schwangerschaften ran
geht. So richtig freuen, wie das früher der Fall war, so naiv freuen, das schafft man
heute ja kaum mehr.
Autorin:
Pränataldiagnostik beginnt etwa ab der neunten Schwangerschaftswoche. Man
unterscheidet invasive Methoden, also direkte Eingriffe in die Gebärmutter, wie die
Fruchtwasseruntersuchung, und nicht-invasive Methoden, das sind spezielle
Ultraschall- und Bluttests. Im Sommer 2012 kam der Praenatest auf den Markt - ein
Bluttest mit dem man eine Chromosomenstörung nachweisen kann. Zuerst gab es
den Test nur für Trisomie 21, das Down-Syndrom, inzwischen können damit auch die
selteneren Trisomien 13 und 18 festgestellt werden, beide führen zu schweren
Entwicklungsstörungen. Beim Praenatest reicht eine einfache Blutentnahme, denn
ab der achten Woche schwimmen Bruchstücke des kindlichen Erbguts im Blut der
Mutter - diese werden analysiert. Bei seiner Einführung sorgte der Test für
Diskussionen. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung - Hubert Hüppe sieht in ihm ein „Verfahren zur Selektion“. Andere sprechen von einer
Rasterfahndung, besonders nach Menschen mit Down-Syndrom. Denn schon heute,
so schätzt man, werden neun von zehn Schwangerschaften mit Trisomie 21
abgebrochen.
O-Ton 5 - Wolfram Henn:
... wenn man es ganz zu Ende denkt, wenn alle Schwangeren diesen Test machen
würden und praktisch alle Kinder mit Down-Syndrom erfasst würden, außer der
Kinder, der wenigen die sich beispielsweise aus religiösen Gründen bewusst
dagegen entscheiden, dann würden kaum noch Kinder mit Down-Syndrom geboren
werden und das ist auch eine Frage an die Gesellschaft, ob wir das wirklich wollen.
Autorin:
Eine Frage, mit der sich der Deutsche Ethikrat beschäftigt hat. Er hat am 30. April
eine Stellungnahme zur genetischen Diagnostik herausgegeben, in der das Dilemma
der Debatte deutlich wird, wie Professor Jochen Taupitz erläutert, einer der
stellvertretenden Vorsitzenden des Ethikrates:
O-Ton 6 - Jochen Taupitz:
Hintergrund der Pränataldiagnostik ist natürlich schon der Grundkonflikt ob
Schwangerschaftsabbrüche, sprich Abtreibungen, in Deutschland zulässig sein
sollten und in welchem Ausmaß. Denn die Pränataldiagnostik wird ja nicht aus Jux
und Dollerei gemacht, sondern die Frau will in der Regel eine Grundlage haben, für
ihre Entscheidung lasse ich das Kind abtreiben oder trage ich das Kind aus. Und,
ebenso wie eben bei dieser Grundkontroverse zur Abtreibung unterschiedliche
Auffassungen bestehen, setzt sich das dann fort in die Pränataldiagnostik hinein.
Autorin:
In der Pränataldiagnostik ist der Ethikrat in fast allen Punkten gespalten. Was darf
eine Frau über ihr ungeborenes Kind wissen? Welche Krankheiten sollen
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diagnostiziert werden? Welchen Schwangeren wird der Praenatest angeboten und
wer finanziert ihn? In Deutschland ist der Test nur über Frauenärzte und
Pränatalzentren erhältlich, im Moment sind das etwa 200 Praxen. Diese dürfen ihn
laut Gesetz aber nur durchführen, wenn eine Ultraschall-Untersuchung einen
auffälligen Befund ergab, es muss also schon ein Verdacht auf eine
Chromosomenstörung vorliegen. Außerdem müssen die Frauen vor dem Test zu
einer genetischen Beratung und sie müssen die Kosten von gut 1.200 Euro selbst
bezahlen. Die Mehrheit der Mitglieder des Ethikrates möchte, dass das so bleibt. Der
Mannheimer Medizinrechtler Taupitz und einige andere plädieren dafür, den
Praenatest allen Schwangeren anzubieten und ihn von den Krankenkassen
finanzieren zu lassen.
O-Ton 7 - Jochen Taupitz:
Also ich finde es schon gut, dass es auch Tests gibt, die nach bestimmten, für die
Frauen als besonders besorgniserregend empfundenen genetischen Auffälligkeiten
suchen, warum soll man den Frauen, denn diese gezielte Untersuchungsmethode
verwehren.
Autorin:
Ihr wichtigstes Argument lautet: Der Test könne die riskante
Fruchtwasseruntersuchung überflüssig machen. Bei diesem invasiven Verfahren wird
mit einer Nadel in die Gebärmutter der Schwangeren gestochen und Fruchtwasser
entnommen. Mindestens eine von 200 dieser Untersuchungen löst eine Fehlgeburt
aus. Im Ernstfall kommt eine Frau um die Fruchtwasserpunktion aber nicht herum.
Denn ein positives Ergebnis beim Praenatest muss mit invasiver Diagnostik
abgesichert werden. Der Freiburger Humangenetiker und Psychotherapeut Professor
Gerhard Wolff hält den Test deshalb für überflüssig und Geldmacherei:
O-Ton 8 - Gerhard Wolff:
Also ich habe noch nie einer Frau geraten, mach diesen Test, denn den brauchen wir
jetzt damit wir wirklich sinnvoll weiter machen können. Zumal ja immer noch gesagt
wird: Das Ergebnis dieses Testes muss natürlich abgesichert werden durch eine
pränatale Chromosomendiagnostik. Da kann ich nur sagen, so ein Quatsch. Ja, dann
kann man sich diese 1.200 Euro auch sparen. Aber man kann Schwangeren, wenn
man das nur geschickt genug begründet, du tust was Gutes für dich und dein Kind,
zu vielem verführen.
Autorin:
Jede werdende Mutter möchte hören, dass bei ihrem Kind alles in Ordnung ist, sagt
Gerhard Wolff. Es ist ein Heilsversprechen, das in der Pränataldiagnostik steckt und
das sie so verführerisch macht. Das Problem ist nur, dass sie dieses Versprechen
nicht einlösen kann. Denn ob Ultraschall, Praenatest oder Fruchtwasserpunktion - es
können immer nur bestimmte Krankheiten und bekannte Chromosomenstörungen
aufgespürt werden. Das Kind kann trotz aller Untersuchungen behindert zur Welt
kommen. So wie Ferdinand, der Sohn von Maria Neuling.
O-Ton 9 - Maria Neuling:
Das ist ja eine neue Krankheit, die hätte man auch in dem Screening-Test nicht
gesehen, das hätte man auch in der Pränataluntersuchung nicht gesehen, weil man
gar nicht gewusst hätte, wonach man suchen sollte. Das heißt, solche Kinder wie
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Ferdinand wird es immer geben. Es wird immer Neumutationen geben, die zu
Krankheiten führen.
Autorin:
Ferdinand kam auf die Welt und entwickelte sich einfach nicht. Es begann eine
lange, quälende Suche nach einem Namen für seine Krankheit und der Ursache.
Schließlich half Professor Hans-Hilger Ropers, der Leiter des Max-Planck-Instituts für
molekulare Genetik in Berlin. Er sequenzierte das komplette Erbgut aller
Familienmitglieder. Durch Vergleiche mit ähnlichen Fällen in den USA fand er
heraus: Die Ursache von Ferdinands Behinderung ist eine Spontanmutation, also die
einmalige Veränderung eines Gens. Eine Laune der Natur, die immer wieder
vorkommen kann. Jetzt hatten Maria Neuling und ihr Mann zwar eine Diagnose, es
kann aber bis heute niemand sagen, wie es mit Ferdinand weitergeht.
O-Ton 10 - Maria Neuling:
Ne, leider gar nicht. Und das ist für uns natürlich belastend, gerade wenn Ferdinand,
so Nächte, er hatte jetzt gerade so eine Serie, wo er über eine Woche wirklich jede
Nacht stundenlang gebrüllt hat, da fragen wir uns natürlich immer was ist da los, ist
da irgendwas mit den Organen nicht in Ordnung, er muss ja wahnsinnige
Schwierigkeiten haben und das wäre für uns eine große Hilfe zu wissen, dass man
mal vielleicht auf die Nieren achten muss oder das Herzkrankheiten typisch sind,
dass man mal irgendeinen Anhaltspunkt hat.
Autorin:
Nur fünf Prozent aller Behinderungen haben überhaupt eine genetische Ursache, die
meisten entstehen durch Geburtskomplikationen oder im späteren Leben durch
Krankheiten oder Unfälle. Die mit ihr verbundenen Hoffnungen auf ein gesundes
Kind erfüllt die Pränataldiagnostik aber auch deshalb nicht, weil sie selten
Therapiemöglichkeiten anbieten kann - Chromosomenabweichungen wie ein DownSyndrom sind nicht heilbar. Nach einer Diagnose stehen Paare deshalb vor der
schweren Entscheidung: Soll unser Kind leben oder nicht. In seiner
humangenetischen Beratungspraxis berät und begleitet Gerhard Wolff solche Paare.
Er erzählt von einem Paar, das Zwillinge erwartet. Bei einem Kind wurde ein DownSyndrom diagnostiziert.
O-Ton 11 - Gerhard Wolff:
Und sie kamen dann hier an auch veranlasst von der Pränatalmedizinerin zur
Beratung und wollten wissen, was ist jetzt Sache und wie kann man damit umgehen.
Also ziemlich ratlos. Ratlos, aufgewühlt. Also die Frau so, ich kann das nicht, ich
kann das nicht. Also auch gar nicht psychisch so weit, dass sie sich damit
auseinandersetzen konnte und der Mann der sagte, wir müssen jetzt einfach wissen,
was ist das.
Autorin:
Es sind existenzielle Fragen, die dann im Raum stehen. Sollen beide Kinder leben?
Auch das mit Down-Syndrom? Darf man durch die Abtreibung des Einen, das Leben
des Anderen riskieren? Und wie lebt man nach der einen oder anderen Entscheidung
weiter? Gerhard Wolff darf keine Empfehlung aussprechen, das Gesetz schreibt vor,
dass er ergebnisoffen beraten muss.
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O-Ton 12 - Gerhard Wolff:
Und man muss sich dann darüber im Klaren sein, jetzt beginnt ein Prozess, jetzt
beginnt ein Bewältigungsprozess, und der braucht Zeit. Und das ist dann auch eine
ganz wichtige Funktion dieser Beratungen, diese Zeit zu gewinnen und sich diese
Zeit zu nehmen, obwohl der Druck von vielen Seiten, vom Paar, aber auch von den
Kollegen manchmal, die damit zu tun haben, der Druck sehr groß ist, dass doch jetzt
schnell etwas geschehen möge. Und das ist dann der Lernprozess diesen Druck
auszuhalten, denn alles andere, das wissen wir von vielen Untersuchungen von
früher, wo es anders ablief, ist langfristig schädlich.
Autorin:
Den Druck zu handeln, sich zu entscheiden, hat auch Monika Hey zu spüren
bekommen. Er kam in ihrem Fall von den Ärzten. Hey, Supervisorin und Journalistin
aus Köln, wurde 1998 schwanger, mit 46 Jahren, eine so genannte
Risikoschwangerschaft. Sie wollte aber nicht wissen, ob ihr Kind ein Down-Syndrom
hat. Sie und ihr Mann wollten keine Schwangerschaft „auf Probe“, sie wollten ihr Kind
so nehmen wie es ist. Ihre Gynäkologin führte jedoch ohne ihr Wissen einen
erweiterten Ultraschall durch.
O-Ton 13 - Monika Hey:
Also das eine ist, dass mein Recht auf Nicht-Wissen natürlich massiv mit Füßen
getreten wurde. Ich hatte sehr deutlich gemacht, ich will keine
Fruchtwasseruntersuchung, ich will keine Chorionzotten-Biopsie, was ich nicht
wusste ist, dass ohne das ich dem zugestimmt habe, die Gynäkologin nach der
Nackenfalte geschaut hat und mir dann gesagt hat, da gibt’s aber jetzt und da
müssen sie aber jetzt morgen gleich zum Pränataldiagnostiker. Also da war der
Punkt wo mein Recht auf Nicht-Wissen schon verletzt worden ist.
Autorin:
Die Nackentransparenz-Messung ist heute zentraler Bestandteil des so genannten
Ersttrimester-Screenings. Einer kombinierten Ultraschall- und Blutuntersuchung, die
nicht zur regulären Schwangerschaftsvorsorge gehört und selbst bezahlt werden
muss, erklärt der Humangenetiker Wolfram Henn.
O-Ton 14 - Wolfram Henn:
Also bei den Ultraschalluntersuchungen muss man zwei Dinge unterscheiden, das
eine ist die routinemäßige Überwachung der Schwangerschaft, so wie es auch in den
Mutterschaftsrichtlinien drinsteht, wo es um Fruchtwassermenge,
Herzschlagbewegung des Kindes geht, also die Dinge die wirklich mit der
Eigengesundheit des Kindes und dem Schwangerschaftsverlauf zu tun haben. Und
das andere sind die Screening-Tests, also mit Ultraschall, teilweise auch mit
bestimmten Blut-Hormonwerten der Mutter durchgeführte Tests, die nur den Zweck
haben zu erfassen, ob vielleicht eher wahrscheinlich ist, dass das Kind das DownSyndrom oder eine andere Chromosomenstörung, haben könnte.
Autorin:
Aus der Nackenfalte des Embryos und dem Alter der Frau wird das „wahrscheinliche
Risiko“ für ein Down-Syndrom errechnet. Das Ergebnis ist reine Statistik, es sagt
nichts über eine tatsächliche Behinderung aus. Bei einem Befund steht die Frau aber
wieder vor der Entscheidung: Wie geht es weiter?
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Als Monika Hey schwanger war, ging man mit dem Unterschied zwischen normalem
Ultraschall oder Screening auf Chromosomenstörungen eher nachlässig um. In
vielen Fällen wurde die Nackentransparenz in der normalen Vorsorgeuntersuchung
einfach mitgemessen, ohne die Schwangeren darüber aufzuklären. Seit im Jahr 2010
das Gendiagnostikgesetz verabschiedet wurde, gehört auch das ErsttrimesterScreening zu den genetischen Untersuchungen. Das heißt, Frauen müssen vor
dieser Untersuchung über Ziele und mögliche Konsequenzen aufgeklärt werden.
Nach der Beratung steht ihnen eine Bedenkzeit zu, sie sollen sich nicht unter Druck
fühlen und die Untersuchung natürlich auch ablehnen können. Soweit die Theorie. In
der Praxis lässt genau diese Aufklärung immer noch zu Wünschen übrig, kritisiert der
Deutsche Ethikrat. Speziell das Screening werde zu schnell routinemäßig angeboten,
so der stellvertretende Vorsitzende Professor Jochen Taupitz.
O-Ton 15 - Jochen Taupitz:
Das Problem beim Ersttrimester-Screening besteht darin, dass in der Praxis die
Frauen oft zu sehr in diese Untersuchungsmaschinerie hineingedrängt werden: das
ist Routine. Hier ist eine sehr viel stärkere Aufklärung vor Durchführung einer
diagnostischen Maßnahme notwendig, damit die Frauen auch verantwortlich
entscheiden können, ob sie überhaupt die Diagnostik wollen mit einem
möglicherweise nachteiligen Ergebnis, ob nicht lieber von vorneherein die Diagnostik
gar nicht durchgeführt werden soll und die Frauen dann eben auch nicht in die
Entscheidungsnotwendigkeit hineingedrängt werden.
Autorin:
Nur wenn eine Frau genau weiß, was durch die Pränataldiagnostik auf sie
zukommen kann, kann sie auch eine verantwortliche Entscheidung für oder gegen
diese Diagnostik treffen. Die ergebnisoffene Beratung ist wichtig. Solche Gespräche
benötigen aber Zeit und kosten Geld. Beides ist knapp. Außerdem dürfen nur
Fachärzte für Humangenetik oder Ärzte mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation
beraten. Auch davon gibt es viel zu wenige, rechnet Wolfram Henn vor, der Leiter der
genetischen Beratungsstelle an der Uniklinik in Homburg.
O-Ton 16 - Wolfram Henn:
Nur zwei Zahlen, es gibt 200 Fachärzte für Humangenetik in Deutschland und ich
glaube etwa 700.000 Schwangere pro Jahr, da können wir natürlich nicht allen eine
wirklich umfangreiche, auch vom Zeitbudget her hinreichende Beratung anbieten, da
muss es Kompromisse geben. Leider gibt es auch gewisse Kompromisse hinsichtlich
der Qualität der Berater, letzten Endes kostet auch sprechende Medizin Geld und
das ist eine Aufgabe für die Kostenträger und auch letzten Endes für die
Gesundheitspolitik zu entscheiden, was uns vernünftig aufgeklärte Eltern wert sind.
Autorin:
Monika Hey wurde damals nicht aufgeklärt, sie wurde ungefragt mit einer Diagnose
konfrontiert. Sie fühlte sich unter Druck gesetzt - und stimmte schließlich einem
Schwangerschaftsabbruch zu. Über ihre schmerzliche Erfahrung mit der
Pränataldiagnostik hat sie das Buch „Mein gläserner Bauch“ geschrieben. Dafür hat
sie viele Gespräche mit anderen Frauen geführt. Sie meint, dass die
Pränataldiagnostik tief in das Erleben einer Schwangerschaft eingreife. Auch Frauen
müssten sich diesem Thema stellen und dürften nicht die Augen verschließen. Sie
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müssten sich rechtzeitig mit den Möglichkeiten und Grenzen dieser Diagnostik
auseinandersetzen.
O-Ton 17 - Monika Hey:
Wenn ich mich nicht damit beschäftigt habe, was da im Einzelnen passiert, ist die
Gefahr, dass ich überrumpelt werde und als „ist doch selbstverständlich und das
machen alle und jetzt machen sie das auch und sie wollen doch auch“, das kann
sehr schnell passieren. Ich habe für meinen Teil gedacht, ich habe meine
Entscheidung längst getroffen und ich will mein Kind behalten und ich will auch diese
ganzen Informationen, Untersuchungen nicht. Das ich da gegen meinen Wunsch mit
einer Diagnose konfrontiert wurde, das war im Grunde der Punkt, wo ich mich dann
auch nicht mehr zu wehren gewusst habe.
Atmo: Ferdinand und seine Mutter
Autorin:
Maria Neuling hingegen konnte oder musste nichts entscheiden. Ihr Sohn Ferdinand
kam mit einer neuen Krankheit, einer unbekannten Behinderung auf die Welt.
Die Diagnose Spontanmutation sei für sie auch eine große Erleichterung gewesen,
erzählt Maria Neuling. Denn das heißt, es ist keine Erbkrankheit. Sie und ihr Mann
tragen keine genetischen Anlagen für eine Krankheit in sich, die jetzt bei Ferdinand
ausgebrochen ist. Wenn sie noch einmal schwanger wird, hat Maria Neuling das
gleiche Risiko ein krankes Kind auf die Welt zu bringen, wie jede andere Frau. Würde
sie bei einer dritten Schwangerschaft mehr wissen wollen? Würde sie eine
Fruchtwasseruntersuchung, ein Screening oder einen Praenatest machen lassen?
O-Ton 18 - Maria Neuling:
Ich finde das total schwer. Also ich glaube, ich persönlich würde nichts testen lassen,
also nichts über das normale Programm hinausgehend testen lassen, weil für mich
persönlich eine Abtreibung sehr, sehr schwierig wäre. Gerade in dem Bewusstsein
man wünscht sich eigentlich ein Kind und dann eine Abtreibung vorzunehmen, weil
das Kind potenziell krank sein könnte, finde ich persönlich sehr, sehr schwierig. Und
um so wichtiger finde ich es aber, dass wir in unserem Fall, also zu wissen, dass wir
kein erhöhtes Risiko tragen noch ein schwer krankes Kind zur Welt zu bringen, weil
wir das einfach als Familie, noch ein zweites Kind wie Ferdinand nicht stemmen
können.
Autorin:
Die durchwachten Nächte, die Situation, dass Ferdinand immer Hilfe brauchen wird,
er immer über eine Magensonde ernährt oder gefüttert werden muss, die Familie
nichts spontan entscheiden kann - das belastet. Und dann ist da noch Leopold, der
älteste Sohn, der auch zu seinem Recht kommen muss. Maria Neuling kennt es, das
Leben mit einem behinderten Kind, um das es in den Debatten so oft geht. Sie
bekomme genug Unterstützung, sagt sie. Ferdinand geht vormittags in einen
speziellen Kindergarten, Anwendungen und spezielle Hilfsmittel, wie der Rehastuhl,
werden bezahlt. Aber Maria Neuling weiß auch, dass ein weiteres behindertes Kind
die Familie überfordern würde.
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O-Ton 19 - Maria Neuling:
Es gibt ja auch Kinder die so schwer krank sind, dass die schon nach einem ganz
schlimmen Leidensweg innerhalb von wenigen Monaten versterben. Und deswegen
glaube ich, sollte man da nicht so vorschnell darüber urteilen und sich wirklich klar
machen, was das bedeuten kann, und auch für das Kind bedeuten kann, so eine
schwere Krankheit zu tragen.
Autorin:
Es sind Krankheiten, wie die Trisomien 13 und 18, die mit dem Praenatest ebenfalls
nachgewiesen werden können. Kinder mit diesen Krankheiten sterben oft schon im
Mutterleib oder in den ersten Jahren nach der Geburt. Kann man Frauen und
Familien zumuten, dass sie dem Sterben ihres Kindes ohnmächtig zusehen müssen?
Wenn es auf der anderen Seite die Möglichkeit gibt, die Schwangerschaft nach einer
solchen Diagnose in einem frühen Stadium abzubrechen. Der Genetiker Hans-Hilger
Ropers, der die Krankheitsursache bei Ferdinand fand, beschäftigt sich seit Jahren
mit solchen schweren, erblichen Erkrankungen. Die meisten davon sind „monogene“
Krankheiten. Bei ihnen ist ein einziger Gendefekt dafür verantwortlich, dass die
Krankheit ausbricht - so wie bei Ferdinand. Hans-Hilger Ropers sorgt für
Gesprächsstoff, weil er bei der Pränataldiagnostik schon einen Schritt weiter denkt.
Er hat einen Bluttest mitentwickelt, mit dem er das Erbgut auf Gendefekte für weitere
geistige Behinderungen untersuchen kann.
O-Ton 20 - Hans-Hilger Ropers:
Es sind ein paar tausend Krankheiten eben molekular aufgeklärt, das heißt man
weiß, dass dieser Gendefekt eben ein so und so aussehendes Krankheitsbild macht.
Und für geistige Behinderung sind das Tausende bereits etwa, die aufgeklärt sind.
Also haben wir einen Test entwickelt, womit wir ganz spezifisch jetzt nur den Teil des
menschlichen Genoms uns angucken, der eben molekular aufgeklärt ist und deren
Defekt eben zu geistiger Behinderung führen kann.
Autorin:
Die erste Version hatte der US-Forscher Stephen Kingsmore entwickelt, über 400
Gene konnten damit getestet werden. Die neue Version schafft 1222 Gene. Eltern
können sich damit testen lassen, bevor sie ihr Wunschkind überhaupt zeugen. Denn
sowohl Vater als auch Mutter können einen Gendefekt haben, der bei ihnen selbst
nicht zur Krankheit führt. Kommen aber beide Defekte während der Zeugung
zusammen, steigt das Risiko für das Kind. Genetiker sprechen von einer
Heterozygoten-Veranlagung.
O-Ton 21 - Hans-Hilger Ropers:
Man kann ausrechnen, dass so ein bis zwei Prozent, in unserer Bevölkerung
tatsächlich diese Risikokonstellation haben. Immerhin ein bis zwei Prozent, dann wird
jedes vierte Kind von denen also betroffen sein. Wir könnten die alle verhindern,
wenn alle Leute das machen würden. Das ist nicht mein Ziel. Verstehen Sie mich
nicht falsch, da versteht man mich immer gerne falsch an der Stelle, gar nicht. Aber
jeder der findet, dass immerhin ein Risiko für mein Kind von 0,25 bis 0,5 Prozent,
dass das doch ein relativ hohes Risiko ist, weil das alles ernste Krankheiten sind, der
hat an sich die Möglichkeit eben so einen Test zu machen.
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Autorin:
Will man das wissen? Ob man als Paar eine „Risikokonstellation“ hat? Und was soll
man dann tun? Trotzdem schwanger werden und es riskieren, ein schwerbehindertes
Kind auf die Welt zu bringen oder eines, das nach der Geburt schnell stirbt. Oder soll
man sich einen neuen Partner für die Familienplanung suchen, weil man dieses
Risiko nicht eingehen will? Professor Jochen Taupitz, stellvertretender Vorsitzender
des Ethikrates weiß, wie er handeln würde.
O-Ton 22 - Jochen Taupitz:
Ich würde mir dann keine andere Frau wählen, das sage ich ganz offen, dann müsste
man auf Methoden der künstlichen Befruchtung zurückgreifen, also auf eine
Samenspende oder, was in Deutschland verboten ist, auf eine Eizellenspende. Also
dann geht es eben nicht auf natürlichem Wege sondern nur im Wege der künstlichen
Befruchtung und dann gegebenenfalls mit einer Präimplantationsdiagnostik, die
genau jene Embryonen identifiziert, die nicht von der entsprechenden Erbkrankheit
betroffen sind und die man dann auf die Frau übertragen kann.
Autorin:
Taupitz hat im Ethikrat ein Sondervotum mit unterzeichnet, das solche
Heterozygoten-Tests auch pränatal zulassen möchte. Die Auswirkungen der
Pränataldiagnostik würden dann noch weiter reichen. Eine Schwangere könnte
testen lassen, ob der Embryo in ihrem Bauch die Anlage für eine Erbkrankheit hat,
die erst bei dessen Kindern ausbrechen könnte. Die werdende Mutter würde also
eine Entscheidung für die Generation ihrer Enkelkinder treffen. Die Mehrheit des
Ethikrates lehnt diese Möglichkeit ab. Solche Szenarien sind es, die Kritiker, Kirchen
und Behindertenverbände auf den Plan rufen. Sie sprechen von Selektion und
befürchten eine neue Eugenik. Der Humangenetiker Wolfram Henn warnt davor,
dass die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik in eine gesellschaftliche
Erwartungshaltung münden, der sich eine schwangere Frau nur schwer entziehen
kann.
O-Ton 23 - Wolfram Henn:
Das ist einfach schon präsent. Der Glaube, wenn eine Untersuchungsmöglichkeit da
ist, dass die doch tunlichst alle anwenden sollen und, dass diejenigen, die sie nicht
anwenden sich sozusagen gegen die Gesellschaft versündigen würden, indem sie
dann nicht richtig funktionelle und für die Gesundheitssysteme teure Menschen
produzieren, also wenn wir in diese Linie reinkommen, dann haben wir was falsch
gemacht.
Autorin:
Das Paar oder die Frau muss sich auf die Solidarität der Gesellschaft verlassen
können, wenn sie ihr behindertes oder krankes Kind zur Welt bringt. Umgekehrt kann
die Gesellschaft nicht erwarten, dass sich eine Frau für ein behindertes Kind
entscheidet, meint Jochen Taupitz.
O-Ton 24 - Jochen Taupitz:
Man muss zunächst einmal sehen, dass jede Schwangere für sich selbst, für ihren
Körper und für ihr Kind entscheidet. Damit ist keine gesellschaftliche Verantwortung
verbunden, Sie wollen doch wohl einer Frau nicht zumuten, dass sie ein Kind
austrägt, nur damit in der Gesellschaft Zufriedenheit herrscht, dass es viele
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behinderte Kinder gibt, das ist eine persönliche Entscheidung jeder Frau. Und sie
entscheidet über sich und sie trifft damit kein Werturteil über andere geborene
Menschen und sie trifft damit auch kein Werturteil über andere Frauen, die sich in
einer vergleichbaren Situation eben anders entscheiden.
Autorin:
Paare sollten sich von niemandem unter Druck setzen lassen, sagt auch der
humangenetische Berater und Psychotherapeut Gerhard Wolff. Dazu müssen sie gut
aufgeklärt sein. Die Gesellschaft muss über Chancen und Risiken der
Pränataldiagnostik diskutieren, damit möglichst jede Schwangere, möglichst alle
werdenden Eltern für sich eine freie und richtige Entscheidung treffen können. Eine
Entscheidung, mit der sie gut leben können.
O-Ton 25 - Gerhard Wolff:
Also je mehr man im Voraus weiß und bewerten kann, umso leichter wird man mit so
einer Situation umgehen können, bzw. auch Fragen stellen können, die für einen
persönlich wirklich wichtig sind, oder sagen können, das will ich nicht von
vorneherein, aber das wäre wirklich gut. Ich hoffe, und das ist meine persönliche
Hoffnung, dass eine Generation heranwächst, die einfach wissensmäßig eine andere
Grundlage hat, aber auch bewertungsmäßig eine gute Grundlage hat, zu sagen, das
ist eine Gesellschaft in der wir leben möchten, das möchten wir nicht haben.
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