SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Welches Kind darf leben? Probleme der Pränatal-Diagnostik Von Christine Werner Sendung: Mittwoch, 19. Juni 2013, 08.30 Uhr Wiederholung: 29. Juni 2016, 08.30 Uhr Redaktion: Sonja Striegl Regie: Autorenproduktion Produktion: SWR 2013 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. 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O-Ton 2 - Maria Neuling: Er kann nicht krabbeln, aber er kann sich drehen und wenn ihn was besonders interessiert, dann macht er das auch, relativ zielgerichtet in eine Richtung, immer in die, wo er nicht hin soll natürlich. Autorin: Ferdinand kann auch nicht stehen, nicht alleine sitzen und nicht sprechen. Was er wahrnimmt? Schwer zu sagen. Während der Schwangerschaft gab es keine Schwierigkeiten, sagt Maria Neuling, das Baby in ihrem Bauch war zwar relativ klein, aber die Ärzte machten sich keine Sorgen. Sie wusste also nicht, dass ihr zweites Kind mit einer schweren Behinderung auf die Welt kommen wird. Hat sie sich je die Frage gestellt: Was hätten wir getan, wenn wir es gewusst hätten? O-Ton 3 - Maria Neuling: Nee, ehrlich gesagt, die Frage habe ich mir noch nie gestellt. Weil es ist ja eine schwierige Frage. Und irgendwie bin ich froh, dass wir das vorher nicht wussten. Dass wir diese Frage nicht vorher beantworten mussten. Ansage: „Welches Kind darf leben? - Probleme der Pränataldiagnostik“. Eine Sendung von Christine Werner. Autorin: Die Pränataldiagnostik stellt heute immer mehr Frauen und Paare vor diese schwierige Frage. Schwangeren wird heute eine breite Palette an Untersuchungen, Tests und Screenings angeboten, mit denen das ungeborene Kind durchleuchtet werden kann. Auf Erbkrankheiten, Chromosomenstörungen und geistige Behinderungen, Down-Syndrom, Herzfehler und offenen Rücken. Mit Ultraschall, Fruchtwasseruntersuchung und inzwischen auch mit einem einfachen Bluttest. Professor Wolfram Henn ist Humangenetiker und Medizinethiker, er leitet die genetische Beratungsstelle der Universität des Saarlandes in Homburg und kennt die Auswirkungen dieser Angebotspalette. 2 O-Ton 4 - Wolfram Henn: Na, es gibt schon so eine Haltung der Qualitätskontrolle sozusagen, man glaubt, dass man durch vorgeburtliche Untersuchung Behinderung vermeiden kann, was vollkommener Unsinn ist. Und das führt dann schon zu einer solchen Defensivhaltung, dass da niemand mehr ganz entspannt an Schwangerschaften ran geht. So richtig freuen, wie das früher der Fall war, so naiv freuen, das schafft man heute ja kaum mehr. Autorin: Pränataldiagnostik beginnt etwa ab der neunten Schwangerschaftswoche. Man unterscheidet invasive Methoden, also direkte Eingriffe in die Gebärmutter, wie die Fruchtwasseruntersuchung, und nicht-invasive Methoden, das sind spezielle Ultraschall- und Bluttests. Im Sommer 2012 kam der Praenatest auf den Markt - ein Bluttest mit dem man eine Chromosomenstörung nachweisen kann. Zuerst gab es den Test nur für Trisomie 21, das Down-Syndrom, inzwischen können damit auch die selteneren Trisomien 13 und 18 festgestellt werden, beide führen zu schweren Entwicklungsstörungen. Beim Praenatest reicht eine einfache Blutentnahme, denn ab der achten Woche schwimmen Bruchstücke des kindlichen Erbguts im Blut der Mutter - diese werden analysiert. Bei seiner Einführung sorgte der Test für Diskussionen. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung - Hubert Hüppe sieht in ihm ein „Verfahren zur Selektion“. Andere sprechen von einer Rasterfahndung, besonders nach Menschen mit Down-Syndrom. Denn schon heute, so schätzt man, werden neun von zehn Schwangerschaften mit Trisomie 21 abgebrochen. O-Ton 5 - Wolfram Henn: ... wenn man es ganz zu Ende denkt, wenn alle Schwangeren diesen Test machen würden und praktisch alle Kinder mit Down-Syndrom erfasst würden, außer der Kinder, der wenigen die sich beispielsweise aus religiösen Gründen bewusst dagegen entscheiden, dann würden kaum noch Kinder mit Down-Syndrom geboren werden und das ist auch eine Frage an die Gesellschaft, ob wir das wirklich wollen. Autorin: Eine Frage, mit der sich der Deutsche Ethikrat beschäftigt hat. Er hat am 30. April eine Stellungnahme zur genetischen Diagnostik herausgegeben, in der das Dilemma der Debatte deutlich wird, wie Professor Jochen Taupitz erläutert, einer der stellvertretenden Vorsitzenden des Ethikrates: O-Ton 6 - Jochen Taupitz: Hintergrund der Pränataldiagnostik ist natürlich schon der Grundkonflikt ob Schwangerschaftsabbrüche, sprich Abtreibungen, in Deutschland zulässig sein sollten und in welchem Ausmaß. Denn die Pränataldiagnostik wird ja nicht aus Jux und Dollerei gemacht, sondern die Frau will in der Regel eine Grundlage haben, für ihre Entscheidung lasse ich das Kind abtreiben oder trage ich das Kind aus. Und, ebenso wie eben bei dieser Grundkontroverse zur Abtreibung unterschiedliche Auffassungen bestehen, setzt sich das dann fort in die Pränataldiagnostik hinein. Autorin: In der Pränataldiagnostik ist der Ethikrat in fast allen Punkten gespalten. Was darf eine Frau über ihr ungeborenes Kind wissen? Welche Krankheiten sollen 3 diagnostiziert werden? Welchen Schwangeren wird der Praenatest angeboten und wer finanziert ihn? In Deutschland ist der Test nur über Frauenärzte und Pränatalzentren erhältlich, im Moment sind das etwa 200 Praxen. Diese dürfen ihn laut Gesetz aber nur durchführen, wenn eine Ultraschall-Untersuchung einen auffälligen Befund ergab, es muss also schon ein Verdacht auf eine Chromosomenstörung vorliegen. Außerdem müssen die Frauen vor dem Test zu einer genetischen Beratung und sie müssen die Kosten von gut 1.200 Euro selbst bezahlen. Die Mehrheit der Mitglieder des Ethikrates möchte, dass das so bleibt. Der Mannheimer Medizinrechtler Taupitz und einige andere plädieren dafür, den Praenatest allen Schwangeren anzubieten und ihn von den Krankenkassen finanzieren zu lassen. O-Ton 7 - Jochen Taupitz: Also ich finde es schon gut, dass es auch Tests gibt, die nach bestimmten, für die Frauen als besonders besorgniserregend empfundenen genetischen Auffälligkeiten suchen, warum soll man den Frauen, denn diese gezielte Untersuchungsmethode verwehren. Autorin: Ihr wichtigstes Argument lautet: Der Test könne die riskante Fruchtwasseruntersuchung überflüssig machen. Bei diesem invasiven Verfahren wird mit einer Nadel in die Gebärmutter der Schwangeren gestochen und Fruchtwasser entnommen. Mindestens eine von 200 dieser Untersuchungen löst eine Fehlgeburt aus. Im Ernstfall kommt eine Frau um die Fruchtwasserpunktion aber nicht herum. Denn ein positives Ergebnis beim Praenatest muss mit invasiver Diagnostik abgesichert werden. Der Freiburger Humangenetiker und Psychotherapeut Professor Gerhard Wolff hält den Test deshalb für überflüssig und Geldmacherei: O-Ton 8 - Gerhard Wolff: Also ich habe noch nie einer Frau geraten, mach diesen Test, denn den brauchen wir jetzt damit wir wirklich sinnvoll weiter machen können. Zumal ja immer noch gesagt wird: Das Ergebnis dieses Testes muss natürlich abgesichert werden durch eine pränatale Chromosomendiagnostik. Da kann ich nur sagen, so ein Quatsch. Ja, dann kann man sich diese 1.200 Euro auch sparen. Aber man kann Schwangeren, wenn man das nur geschickt genug begründet, du tust was Gutes für dich und dein Kind, zu vielem verführen. Autorin: Jede werdende Mutter möchte hören, dass bei ihrem Kind alles in Ordnung ist, sagt Gerhard Wolff. Es ist ein Heilsversprechen, das in der Pränataldiagnostik steckt und das sie so verführerisch macht. Das Problem ist nur, dass sie dieses Versprechen nicht einlösen kann. Denn ob Ultraschall, Praenatest oder Fruchtwasserpunktion - es können immer nur bestimmte Krankheiten und bekannte Chromosomenstörungen aufgespürt werden. Das Kind kann trotz aller Untersuchungen behindert zur Welt kommen. So wie Ferdinand, der Sohn von Maria Neuling. O-Ton 9 - Maria Neuling: Das ist ja eine neue Krankheit, die hätte man auch in dem Screening-Test nicht gesehen, das hätte man auch in der Pränataluntersuchung nicht gesehen, weil man gar nicht gewusst hätte, wonach man suchen sollte. Das heißt, solche Kinder wie 4 Ferdinand wird es immer geben. Es wird immer Neumutationen geben, die zu Krankheiten führen. Autorin: Ferdinand kam auf die Welt und entwickelte sich einfach nicht. Es begann eine lange, quälende Suche nach einem Namen für seine Krankheit und der Ursache. Schließlich half Professor Hans-Hilger Ropers, der Leiter des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in Berlin. Er sequenzierte das komplette Erbgut aller Familienmitglieder. Durch Vergleiche mit ähnlichen Fällen in den USA fand er heraus: Die Ursache von Ferdinands Behinderung ist eine Spontanmutation, also die einmalige Veränderung eines Gens. Eine Laune der Natur, die immer wieder vorkommen kann. Jetzt hatten Maria Neuling und ihr Mann zwar eine Diagnose, es kann aber bis heute niemand sagen, wie es mit Ferdinand weitergeht. O-Ton 10 - Maria Neuling: Ne, leider gar nicht. Und das ist für uns natürlich belastend, gerade wenn Ferdinand, so Nächte, er hatte jetzt gerade so eine Serie, wo er über eine Woche wirklich jede Nacht stundenlang gebrüllt hat, da fragen wir uns natürlich immer was ist da los, ist da irgendwas mit den Organen nicht in Ordnung, er muss ja wahnsinnige Schwierigkeiten haben und das wäre für uns eine große Hilfe zu wissen, dass man mal vielleicht auf die Nieren achten muss oder das Herzkrankheiten typisch sind, dass man mal irgendeinen Anhaltspunkt hat. Autorin: Nur fünf Prozent aller Behinderungen haben überhaupt eine genetische Ursache, die meisten entstehen durch Geburtskomplikationen oder im späteren Leben durch Krankheiten oder Unfälle. Die mit ihr verbundenen Hoffnungen auf ein gesundes Kind erfüllt die Pränataldiagnostik aber auch deshalb nicht, weil sie selten Therapiemöglichkeiten anbieten kann - Chromosomenabweichungen wie ein DownSyndrom sind nicht heilbar. Nach einer Diagnose stehen Paare deshalb vor der schweren Entscheidung: Soll unser Kind leben oder nicht. In seiner humangenetischen Beratungspraxis berät und begleitet Gerhard Wolff solche Paare. Er erzählt von einem Paar, das Zwillinge erwartet. Bei einem Kind wurde ein DownSyndrom diagnostiziert. O-Ton 11 - Gerhard Wolff: Und sie kamen dann hier an auch veranlasst von der Pränatalmedizinerin zur Beratung und wollten wissen, was ist jetzt Sache und wie kann man damit umgehen. Also ziemlich ratlos. Ratlos, aufgewühlt. Also die Frau so, ich kann das nicht, ich kann das nicht. Also auch gar nicht psychisch so weit, dass sie sich damit auseinandersetzen konnte und der Mann der sagte, wir müssen jetzt einfach wissen, was ist das. Autorin: Es sind existenzielle Fragen, die dann im Raum stehen. Sollen beide Kinder leben? Auch das mit Down-Syndrom? Darf man durch die Abtreibung des Einen, das Leben des Anderen riskieren? Und wie lebt man nach der einen oder anderen Entscheidung weiter? Gerhard Wolff darf keine Empfehlung aussprechen, das Gesetz schreibt vor, dass er ergebnisoffen beraten muss. 5 O-Ton 12 - Gerhard Wolff: Und man muss sich dann darüber im Klaren sein, jetzt beginnt ein Prozess, jetzt beginnt ein Bewältigungsprozess, und der braucht Zeit. Und das ist dann auch eine ganz wichtige Funktion dieser Beratungen, diese Zeit zu gewinnen und sich diese Zeit zu nehmen, obwohl der Druck von vielen Seiten, vom Paar, aber auch von den Kollegen manchmal, die damit zu tun haben, der Druck sehr groß ist, dass doch jetzt schnell etwas geschehen möge. Und das ist dann der Lernprozess diesen Druck auszuhalten, denn alles andere, das wissen wir von vielen Untersuchungen von früher, wo es anders ablief, ist langfristig schädlich. Autorin: Den Druck zu handeln, sich zu entscheiden, hat auch Monika Hey zu spüren bekommen. Er kam in ihrem Fall von den Ärzten. Hey, Supervisorin und Journalistin aus Köln, wurde 1998 schwanger, mit 46 Jahren, eine so genannte Risikoschwangerschaft. Sie wollte aber nicht wissen, ob ihr Kind ein Down-Syndrom hat. Sie und ihr Mann wollten keine Schwangerschaft „auf Probe“, sie wollten ihr Kind so nehmen wie es ist. Ihre Gynäkologin führte jedoch ohne ihr Wissen einen erweiterten Ultraschall durch. O-Ton 13 - Monika Hey: Also das eine ist, dass mein Recht auf Nicht-Wissen natürlich massiv mit Füßen getreten wurde. Ich hatte sehr deutlich gemacht, ich will keine Fruchtwasseruntersuchung, ich will keine Chorionzotten-Biopsie, was ich nicht wusste ist, dass ohne das ich dem zugestimmt habe, die Gynäkologin nach der Nackenfalte geschaut hat und mir dann gesagt hat, da gibt’s aber jetzt und da müssen sie aber jetzt morgen gleich zum Pränataldiagnostiker. Also da war der Punkt wo mein Recht auf Nicht-Wissen schon verletzt worden ist. Autorin: Die Nackentransparenz-Messung ist heute zentraler Bestandteil des so genannten Ersttrimester-Screenings. Einer kombinierten Ultraschall- und Blutuntersuchung, die nicht zur regulären Schwangerschaftsvorsorge gehört und selbst bezahlt werden muss, erklärt der Humangenetiker Wolfram Henn. O-Ton 14 - Wolfram Henn: Also bei den Ultraschalluntersuchungen muss man zwei Dinge unterscheiden, das eine ist die routinemäßige Überwachung der Schwangerschaft, so wie es auch in den Mutterschaftsrichtlinien drinsteht, wo es um Fruchtwassermenge, Herzschlagbewegung des Kindes geht, also die Dinge die wirklich mit der Eigengesundheit des Kindes und dem Schwangerschaftsverlauf zu tun haben. Und das andere sind die Screening-Tests, also mit Ultraschall, teilweise auch mit bestimmten Blut-Hormonwerten der Mutter durchgeführte Tests, die nur den Zweck haben zu erfassen, ob vielleicht eher wahrscheinlich ist, dass das Kind das DownSyndrom oder eine andere Chromosomenstörung, haben könnte. Autorin: Aus der Nackenfalte des Embryos und dem Alter der Frau wird das „wahrscheinliche Risiko“ für ein Down-Syndrom errechnet. Das Ergebnis ist reine Statistik, es sagt nichts über eine tatsächliche Behinderung aus. Bei einem Befund steht die Frau aber wieder vor der Entscheidung: Wie geht es weiter? 6 Als Monika Hey schwanger war, ging man mit dem Unterschied zwischen normalem Ultraschall oder Screening auf Chromosomenstörungen eher nachlässig um. In vielen Fällen wurde die Nackentransparenz in der normalen Vorsorgeuntersuchung einfach mitgemessen, ohne die Schwangeren darüber aufzuklären. Seit im Jahr 2010 das Gendiagnostikgesetz verabschiedet wurde, gehört auch das ErsttrimesterScreening zu den genetischen Untersuchungen. Das heißt, Frauen müssen vor dieser Untersuchung über Ziele und mögliche Konsequenzen aufgeklärt werden. Nach der Beratung steht ihnen eine Bedenkzeit zu, sie sollen sich nicht unter Druck fühlen und die Untersuchung natürlich auch ablehnen können. Soweit die Theorie. In der Praxis lässt genau diese Aufklärung immer noch zu Wünschen übrig, kritisiert der Deutsche Ethikrat. Speziell das Screening werde zu schnell routinemäßig angeboten, so der stellvertretende Vorsitzende Professor Jochen Taupitz. O-Ton 15 - Jochen Taupitz: Das Problem beim Ersttrimester-Screening besteht darin, dass in der Praxis die Frauen oft zu sehr in diese Untersuchungsmaschinerie hineingedrängt werden: das ist Routine. Hier ist eine sehr viel stärkere Aufklärung vor Durchführung einer diagnostischen Maßnahme notwendig, damit die Frauen auch verantwortlich entscheiden können, ob sie überhaupt die Diagnostik wollen mit einem möglicherweise nachteiligen Ergebnis, ob nicht lieber von vorneherein die Diagnostik gar nicht durchgeführt werden soll und die Frauen dann eben auch nicht in die Entscheidungsnotwendigkeit hineingedrängt werden. Autorin: Nur wenn eine Frau genau weiß, was durch die Pränataldiagnostik auf sie zukommen kann, kann sie auch eine verantwortliche Entscheidung für oder gegen diese Diagnostik treffen. Die ergebnisoffene Beratung ist wichtig. Solche Gespräche benötigen aber Zeit und kosten Geld. Beides ist knapp. Außerdem dürfen nur Fachärzte für Humangenetik oder Ärzte mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation beraten. Auch davon gibt es viel zu wenige, rechnet Wolfram Henn vor, der Leiter der genetischen Beratungsstelle an der Uniklinik in Homburg. O-Ton 16 - Wolfram Henn: Nur zwei Zahlen, es gibt 200 Fachärzte für Humangenetik in Deutschland und ich glaube etwa 700.000 Schwangere pro Jahr, da können wir natürlich nicht allen eine wirklich umfangreiche, auch vom Zeitbudget her hinreichende Beratung anbieten, da muss es Kompromisse geben. Leider gibt es auch gewisse Kompromisse hinsichtlich der Qualität der Berater, letzten Endes kostet auch sprechende Medizin Geld und das ist eine Aufgabe für die Kostenträger und auch letzten Endes für die Gesundheitspolitik zu entscheiden, was uns vernünftig aufgeklärte Eltern wert sind. Autorin: Monika Hey wurde damals nicht aufgeklärt, sie wurde ungefragt mit einer Diagnose konfrontiert. Sie fühlte sich unter Druck gesetzt - und stimmte schließlich einem Schwangerschaftsabbruch zu. Über ihre schmerzliche Erfahrung mit der Pränataldiagnostik hat sie das Buch „Mein gläserner Bauch“ geschrieben. Dafür hat sie viele Gespräche mit anderen Frauen geführt. Sie meint, dass die Pränataldiagnostik tief in das Erleben einer Schwangerschaft eingreife. Auch Frauen müssten sich diesem Thema stellen und dürften nicht die Augen verschließen. Sie 7 müssten sich rechtzeitig mit den Möglichkeiten und Grenzen dieser Diagnostik auseinandersetzen. O-Ton 17 - Monika Hey: Wenn ich mich nicht damit beschäftigt habe, was da im Einzelnen passiert, ist die Gefahr, dass ich überrumpelt werde und als „ist doch selbstverständlich und das machen alle und jetzt machen sie das auch und sie wollen doch auch“, das kann sehr schnell passieren. Ich habe für meinen Teil gedacht, ich habe meine Entscheidung längst getroffen und ich will mein Kind behalten und ich will auch diese ganzen Informationen, Untersuchungen nicht. Das ich da gegen meinen Wunsch mit einer Diagnose konfrontiert wurde, das war im Grunde der Punkt, wo ich mich dann auch nicht mehr zu wehren gewusst habe. Atmo: Ferdinand und seine Mutter Autorin: Maria Neuling hingegen konnte oder musste nichts entscheiden. Ihr Sohn Ferdinand kam mit einer neuen Krankheit, einer unbekannten Behinderung auf die Welt. Die Diagnose Spontanmutation sei für sie auch eine große Erleichterung gewesen, erzählt Maria Neuling. Denn das heißt, es ist keine Erbkrankheit. Sie und ihr Mann tragen keine genetischen Anlagen für eine Krankheit in sich, die jetzt bei Ferdinand ausgebrochen ist. Wenn sie noch einmal schwanger wird, hat Maria Neuling das gleiche Risiko ein krankes Kind auf die Welt zu bringen, wie jede andere Frau. Würde sie bei einer dritten Schwangerschaft mehr wissen wollen? Würde sie eine Fruchtwasseruntersuchung, ein Screening oder einen Praenatest machen lassen? O-Ton 18 - Maria Neuling: Ich finde das total schwer. Also ich glaube, ich persönlich würde nichts testen lassen, also nichts über das normale Programm hinausgehend testen lassen, weil für mich persönlich eine Abtreibung sehr, sehr schwierig wäre. Gerade in dem Bewusstsein man wünscht sich eigentlich ein Kind und dann eine Abtreibung vorzunehmen, weil das Kind potenziell krank sein könnte, finde ich persönlich sehr, sehr schwierig. Und um so wichtiger finde ich es aber, dass wir in unserem Fall, also zu wissen, dass wir kein erhöhtes Risiko tragen noch ein schwer krankes Kind zur Welt zu bringen, weil wir das einfach als Familie, noch ein zweites Kind wie Ferdinand nicht stemmen können. Autorin: Die durchwachten Nächte, die Situation, dass Ferdinand immer Hilfe brauchen wird, er immer über eine Magensonde ernährt oder gefüttert werden muss, die Familie nichts spontan entscheiden kann - das belastet. Und dann ist da noch Leopold, der älteste Sohn, der auch zu seinem Recht kommen muss. Maria Neuling kennt es, das Leben mit einem behinderten Kind, um das es in den Debatten so oft geht. Sie bekomme genug Unterstützung, sagt sie. Ferdinand geht vormittags in einen speziellen Kindergarten, Anwendungen und spezielle Hilfsmittel, wie der Rehastuhl, werden bezahlt. Aber Maria Neuling weiß auch, dass ein weiteres behindertes Kind die Familie überfordern würde. 8 O-Ton 19 - Maria Neuling: Es gibt ja auch Kinder die so schwer krank sind, dass die schon nach einem ganz schlimmen Leidensweg innerhalb von wenigen Monaten versterben. Und deswegen glaube ich, sollte man da nicht so vorschnell darüber urteilen und sich wirklich klar machen, was das bedeuten kann, und auch für das Kind bedeuten kann, so eine schwere Krankheit zu tragen. Autorin: Es sind Krankheiten, wie die Trisomien 13 und 18, die mit dem Praenatest ebenfalls nachgewiesen werden können. Kinder mit diesen Krankheiten sterben oft schon im Mutterleib oder in den ersten Jahren nach der Geburt. Kann man Frauen und Familien zumuten, dass sie dem Sterben ihres Kindes ohnmächtig zusehen müssen? Wenn es auf der anderen Seite die Möglichkeit gibt, die Schwangerschaft nach einer solchen Diagnose in einem frühen Stadium abzubrechen. Der Genetiker Hans-Hilger Ropers, der die Krankheitsursache bei Ferdinand fand, beschäftigt sich seit Jahren mit solchen schweren, erblichen Erkrankungen. Die meisten davon sind „monogene“ Krankheiten. Bei ihnen ist ein einziger Gendefekt dafür verantwortlich, dass die Krankheit ausbricht - so wie bei Ferdinand. Hans-Hilger Ropers sorgt für Gesprächsstoff, weil er bei der Pränataldiagnostik schon einen Schritt weiter denkt. Er hat einen Bluttest mitentwickelt, mit dem er das Erbgut auf Gendefekte für weitere geistige Behinderungen untersuchen kann. O-Ton 20 - Hans-Hilger Ropers: Es sind ein paar tausend Krankheiten eben molekular aufgeklärt, das heißt man weiß, dass dieser Gendefekt eben ein so und so aussehendes Krankheitsbild macht. Und für geistige Behinderung sind das Tausende bereits etwa, die aufgeklärt sind. Also haben wir einen Test entwickelt, womit wir ganz spezifisch jetzt nur den Teil des menschlichen Genoms uns angucken, der eben molekular aufgeklärt ist und deren Defekt eben zu geistiger Behinderung führen kann. Autorin: Die erste Version hatte der US-Forscher Stephen Kingsmore entwickelt, über 400 Gene konnten damit getestet werden. Die neue Version schafft 1222 Gene. Eltern können sich damit testen lassen, bevor sie ihr Wunschkind überhaupt zeugen. Denn sowohl Vater als auch Mutter können einen Gendefekt haben, der bei ihnen selbst nicht zur Krankheit führt. Kommen aber beide Defekte während der Zeugung zusammen, steigt das Risiko für das Kind. Genetiker sprechen von einer Heterozygoten-Veranlagung. O-Ton 21 - Hans-Hilger Ropers: Man kann ausrechnen, dass so ein bis zwei Prozent, in unserer Bevölkerung tatsächlich diese Risikokonstellation haben. Immerhin ein bis zwei Prozent, dann wird jedes vierte Kind von denen also betroffen sein. Wir könnten die alle verhindern, wenn alle Leute das machen würden. Das ist nicht mein Ziel. Verstehen Sie mich nicht falsch, da versteht man mich immer gerne falsch an der Stelle, gar nicht. Aber jeder der findet, dass immerhin ein Risiko für mein Kind von 0,25 bis 0,5 Prozent, dass das doch ein relativ hohes Risiko ist, weil das alles ernste Krankheiten sind, der hat an sich die Möglichkeit eben so einen Test zu machen. 9 Autorin: Will man das wissen? Ob man als Paar eine „Risikokonstellation“ hat? Und was soll man dann tun? Trotzdem schwanger werden und es riskieren, ein schwerbehindertes Kind auf die Welt zu bringen oder eines, das nach der Geburt schnell stirbt. Oder soll man sich einen neuen Partner für die Familienplanung suchen, weil man dieses Risiko nicht eingehen will? Professor Jochen Taupitz, stellvertretender Vorsitzender des Ethikrates weiß, wie er handeln würde. O-Ton 22 - Jochen Taupitz: Ich würde mir dann keine andere Frau wählen, das sage ich ganz offen, dann müsste man auf Methoden der künstlichen Befruchtung zurückgreifen, also auf eine Samenspende oder, was in Deutschland verboten ist, auf eine Eizellenspende. Also dann geht es eben nicht auf natürlichem Wege sondern nur im Wege der künstlichen Befruchtung und dann gegebenenfalls mit einer Präimplantationsdiagnostik, die genau jene Embryonen identifiziert, die nicht von der entsprechenden Erbkrankheit betroffen sind und die man dann auf die Frau übertragen kann. Autorin: Taupitz hat im Ethikrat ein Sondervotum mit unterzeichnet, das solche Heterozygoten-Tests auch pränatal zulassen möchte. Die Auswirkungen der Pränataldiagnostik würden dann noch weiter reichen. Eine Schwangere könnte testen lassen, ob der Embryo in ihrem Bauch die Anlage für eine Erbkrankheit hat, die erst bei dessen Kindern ausbrechen könnte. Die werdende Mutter würde also eine Entscheidung für die Generation ihrer Enkelkinder treffen. Die Mehrheit des Ethikrates lehnt diese Möglichkeit ab. Solche Szenarien sind es, die Kritiker, Kirchen und Behindertenverbände auf den Plan rufen. Sie sprechen von Selektion und befürchten eine neue Eugenik. Der Humangenetiker Wolfram Henn warnt davor, dass die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik in eine gesellschaftliche Erwartungshaltung münden, der sich eine schwangere Frau nur schwer entziehen kann. O-Ton 23 - Wolfram Henn: Das ist einfach schon präsent. Der Glaube, wenn eine Untersuchungsmöglichkeit da ist, dass die doch tunlichst alle anwenden sollen und, dass diejenigen, die sie nicht anwenden sich sozusagen gegen die Gesellschaft versündigen würden, indem sie dann nicht richtig funktionelle und für die Gesundheitssysteme teure Menschen produzieren, also wenn wir in diese Linie reinkommen, dann haben wir was falsch gemacht. Autorin: Das Paar oder die Frau muss sich auf die Solidarität der Gesellschaft verlassen können, wenn sie ihr behindertes oder krankes Kind zur Welt bringt. Umgekehrt kann die Gesellschaft nicht erwarten, dass sich eine Frau für ein behindertes Kind entscheidet, meint Jochen Taupitz. O-Ton 24 - Jochen Taupitz: Man muss zunächst einmal sehen, dass jede Schwangere für sich selbst, für ihren Körper und für ihr Kind entscheidet. Damit ist keine gesellschaftliche Verantwortung verbunden, Sie wollen doch wohl einer Frau nicht zumuten, dass sie ein Kind austrägt, nur damit in der Gesellschaft Zufriedenheit herrscht, dass es viele 10 behinderte Kinder gibt, das ist eine persönliche Entscheidung jeder Frau. Und sie entscheidet über sich und sie trifft damit kein Werturteil über andere geborene Menschen und sie trifft damit auch kein Werturteil über andere Frauen, die sich in einer vergleichbaren Situation eben anders entscheiden. Autorin: Paare sollten sich von niemandem unter Druck setzen lassen, sagt auch der humangenetische Berater und Psychotherapeut Gerhard Wolff. Dazu müssen sie gut aufgeklärt sein. Die Gesellschaft muss über Chancen und Risiken der Pränataldiagnostik diskutieren, damit möglichst jede Schwangere, möglichst alle werdenden Eltern für sich eine freie und richtige Entscheidung treffen können. Eine Entscheidung, mit der sie gut leben können. O-Ton 25 - Gerhard Wolff: Also je mehr man im Voraus weiß und bewerten kann, umso leichter wird man mit so einer Situation umgehen können, bzw. auch Fragen stellen können, die für einen persönlich wirklich wichtig sind, oder sagen können, das will ich nicht von vorneherein, aber das wäre wirklich gut. Ich hoffe, und das ist meine persönliche Hoffnung, dass eine Generation heranwächst, die einfach wissensmäßig eine andere Grundlage hat, aber auch bewertungsmäßig eine gute Grundlage hat, zu sagen, das ist eine Gesellschaft in der wir leben möchten, das möchten wir nicht haben. ******************** 11
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