SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Tandem Kriegsversehrt für einen Tag Komparse beim Film "Auf Wiedersehen Deutschland" Von Lothar Nickels Sendung: 27. Juni 2016, 10.05 Uhr Redaktion: Rudolf Linßen Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Tandem können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Tandem sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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Denn ehrlich gesagt, weiß ich nicht so richtig, was ich davon halten soll. Statist beim Film? Klingt jetzt für mich auf Anhieb erst mal nicht so spannend: Für wenig Geld den ganzen Tag irgendwo rumstehen – das muss ich wirklich nicht unbedingt haben. Also: Weg damit! Aber so ganz kann ich mich dann doch nicht davon verabschieden. Irgendwie bleibe ich immer wieder hängen an den... "Figuranten, denen ein Arm oder ein Bein fehlt." Erzähler Na, also, grundsätzlich würde ich die Voraussetzungen dafür ja erfüllen: Immerhin fehlen mir beide Arme. Wobei die mir jetzt nicht wirklich fehlen – denn ich vermisse sie ja nicht. Die waren ja schon immer weg. Weil ich ohne Arme zur Welt gekommen bin. Und als kleines Kind habe ich dann ganz einfach von Anfang an meine Füße nicht nur zum Laufen, sondern auch zum Greifen benutzt. Alles, was die anderen Kinder mit den Händen gemacht haben, das habe ich mit den Füßen gemacht. Ich musste das nicht nicht großartig lernen. Das war ein ganz natürlicher Prozeß. Für mich zumindest! Klar: Für die Menschen um mich herum – ganz besonders meine Eltern – für die war das sicher alles andere als ein "ganz natürlicher Prozess". Ganz am Anfang zumindest… Aber worauf ich eigentlich hinaus will: Es gab bei mir kein einschneidendes traumatisches Ereignis, das mein Leben auf den Kopf gestellt hätte. Wonach für mich nichts mehr so gewesen wäre wie vorher. Weil ich mich auf einmal hätte in einem Körper zurechtfinden müssen, der nicht mehr vollständig ist. So, wie das Menschen oft erzählen, die einen schweren Unfall hatten. Oder Soldaten, die im Krieg schwer verletzt wurden und dabei Arme oder Beine verloren haben. Deren Lebensgeschichte ist dann oft auch eine große Leidensgeschichte. Das ist mein Leben ganz sicher nicht. Je mehr ich über diesen Unterschied nachdenke, umso interessanter wird die Sache mit den... Sprecher "Figuranten, denen ein Arm oder ein Bein fehlt". 1 Erzähler Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl gewesen wäre, wenn ich im Zweiten Weltkrieg meine Arme verloren hätte. Wie mein Leben dann wohl verlaufen wäre? Ob ich das überhaupt gepackt hätte… Abgesehen von physischen und psychischen Schmerzen, die man – glaube ich – ohnehin nur nachempfinden kann, wenn man sie so oder so ähnlich erlebt hat: Die Zeit nach dem Krieg war für alle schwer. Aber für Menschen mit Behinderung war es sicher noch um einiges härter. Es gab damals ja nicht mal im Ansatz eine so gute Hilfsmittelversorgung wie heute. Wo man fast jede körperliche Einschränkung ausgleichen kann. Nach dem Krieg waren halt andere Dinge wichtig. Da ging es in erster Linie drum, das Land wieder aufzubauen. Und nicht um irgendwelche Sonderwünsche von Leuten, die eh nicht mit anpacken konnten. Bevor ich mich weiter in meinen Was-wäre-wenn-Überlegungen verliere, schreibe ich eine E-Mail an Eric Lamhène, den Casting-Director der Produktion. Ich hätte zwei fehlende Arme und ich wäre mir jetzt nicht so sicher, [ob ich da nicht für den Job überqualifiziert wäre.] Autor [...Ich hätte zwei fehlende Arme und ich wäre mir jetzt nicht so sicher,] ob ich da nicht für den Job überqualifiziert wäre. Eric Lamhène Ja genau, das erinnere ich. Da habe ich geschmunzelt. Erzähler Das ist Eric Lamhène. Wir sprechen hier, als die Dreharbeiten schon beendet sind. Für heute ist also Feierabend am Set. Und Eric ist so entspannt, wie ich ihn die ganze Zeit über nicht erlebt habe. Denn bis zu diesem Moment war überhaupt nicht daran zu denken, mit ihm mal in Ruhe ein paar Takte zu reden. Sogar Telefonieren konnten wir nicht, weil er immer beschäftigt war. Jetzt hat er Zeit. Und jetzt er erzählt mir davon, wie er versucht hat, Statisten mit einer Behinderung zu finden. Eric Lamhène Und dann schalte ich Annoncen, Anzeigen und normalerweise kommen da immer sehr sehr viele Antworten. Aber nur in diesem Fall, wo wir behinderte Menschen suchen oder Menschen, die Kriegsversehrte darstellen sollen, weil vielleicht ein Arm fehlt oder ein Bein. Da habe ich keine wirkliche Antwort bekommen, nicht viele auf jeden Fall. Ich habe auch die verschiedenen Assoziationen, wie sagt man auf Deutsch... Vereine! So etwas in der Richtung, weil ich habe ja alle verschiedene Vereine kontaktiert. So wie wir zum Beispiel für Soldaten, wenn wir Soldaten suchen oder Soldatenfahrzeuge, melden wir uns bei Soldatenclubs, die die alten Sachen sammeln. Und hier in dem Fall habe ich mich auch bei verschiedenen Gruppen gemeldet, die mit Behinderten arbeiten. Aber sie sagten mir immer... Also, was ich ja gesucht habe, ist ein Arm, der fehlt, ein Bein das fehlt. Oder eine Hand die fehlt. Und viele dieser Behinderungen, die haben viele Leute nicht mehr. Dass irgendwo eine Explosion entsteht. Dass ein Arm wegfällt. Und es ist oft von der Geburt aus. 2 Autor Wo Du vermutlich mehr Leute bekommen hättest: Menschen mit geistiger Behinderung. Ja, logisch! Das liegt eigentlich auf der Hand, logisch. Eric Lamhène Und diese, die Frau hat mir am Telefon… Sie hat schon direkt beim ersten Gespräch hat sie gesagt: "Wir geben das jetzt an die Leute weiter. Aber diese Behinderungen, die Sie suchen, das gibt es heute nicht mehr so in dem Fall." Autor Und was hast du dann gedacht, als ich Dir eine Mail geschickt habe? Eric Lamhène Dann dachte ich: der erste! Erzähler Ich bin nicht nur der erste. Ich bin auch der einzige Bewerber mit Körperbehinderung, der sich für eine Statistenrolle als Kriegsversehrter meldet. Also, kriege ich den Job. Und gleich dazu eine Einladung. Zur Kostümanprobe. Ich habe gelernt: Im Filmgeschäft nennt man das Fitting. Und da muss ich gleich zweimal hinfahren. Weil die Dreharbeiten unvorhergesehener Weise verschoben werden. Beide Male werde ich von Melanie Planchard eingekleidet. Sie kommt aus Luxemburg und ist Kostümbildnerin. Melanie Planchard Nee, es musste alles zurückgehen zum Stock und jetzt haben wir andere Klamotten bekommen. Deshalb müssen wir wieder ein Fitting machen. Erzähler Hier hängen unzählige Hemden, Hosen, Röcke, Blusen, Kleider. Es gibt Mützen, Hüte, Taschen. Und natürlich auch Schuhe. Also, alles was das Herz begehrt. Und alles aus der Zeit um den Zweiten Weltkrieg herum. Melanie Planchard Ach, was spielst du? Das gleiche als das letzte mal? Autor Genau, ja. Melanie Planchard Hast du schon andere Filme gemacht? Autor Ja, in ganz großen Streifen mit Leonardo di Cabrio war ich natürlich schon. Melanie Planchard He he, ja klar. 3 Autor Nein das habe ich noch nie gemacht so etwas hier. Melanie Planchard Das heißt, dass hier ist ein Test für dich? Wenn es dir gefällt, dann würdest du es vielleicht noch mal machen. Autor Weiß ich nicht, also ehrlich gesagt mache ich das wirklich nur deswegen jetzt, weil ich soll halt jemanden spielen, der im Krieg verletzt wurde und beide Arme verloren hat. Wobei ich mir natürlich nicht sicher bin ob ich mit beide Arme weg nicht überqualifiziert bin für diesen Job hier. Das will ich halt wissen und vielleicht treffe ich noch andere, die irgendwie Arm ab, Bein ab oder sowas haben. Ich würde mal gerne mit denen reden, wie das für die so ist, weil ich habe... ja keine Ahnung, Heute lebt man ja ganz anders, als jemand, der keine Arme hat keine Beine... Melanie Planchard Ich habe mir heute Morgen noch das Profil angeschaut von einem Model, was nur ein Bein hat. Und die hat extrem viel Success... wie sagt man auf Deutsch? Autor Erfolg. Melanie Planchard ... Erfolg, damit, dass sie ganz anders ist als wie die anderen Models. Autor Was meinst Du, was den Erfolg ausmacht? Melanie Planchard Mmh, dass sie spezieller ist, als die meisten und dass sie darüber spricht ganz offen. Autor Das bricht ja auch so das Bild, das so herrscht... Melanie Planchard ...dass alles perfekt sein muss. Autor Ganz genau. Erzähler Wird plaudern ziemlich ausführlich. Während Melanie zusätzlich damit beschäftigt ist, meine Garderobe zusammenzustellen. Aber dann prophezeit sie mir: Melanie Planchard Es wird ja ganz anders sein am Drehtag. Heute ist es angenehm und wir haben Zeit und wir ziehen dich an. Und am Drehtag wird es ein bisschen mehr Stress gehen für dich und für uns. 4 Autor Ja, da bin ich gespannt... und jetzt... Melanie Planchard So, jetzt machen wir ein Foto von dir. Autor Erzähl mal, was ich jetzt hier anhabe? Melanie Planchard Eine braune Hose aus Leinen, eine Weste aus Wolle. Dann hast du ein Hemd ohne Kragen, wie nennt man das? ..und dann.. das englische Wort für deinen Hut ist flatcap. Autor Eine Mütze. Melanie Planchard Eine Mütze mit... Autor Mit Schirm, aber eine Schirmmütze ist es nicht, so eine... also eine Mütze, ne Kappe... Melanie Planchard Eine Mütze, eine bordeauxrote Mütze. Autor Eine bordeauxrote Mütze. Erzähler Mmmhhh... Die steht mir wirklich ausgesprochen gut! Aber: Ich muss sie jetzt auch gleich schon wieder abgeben. Denn Mütze und Kostüm sehe ich leider erst wieder am Drehtag. Und zwar am 2. April, an der belgisch-luxemburgischen Grenze. Ton (Ein Sound, der zu verstehen gibt, dass jetzt Zeit übersprungen wird.) Erzähler Genau da sind wir – JETZT! Und zwar in Martelange. Es ist 6:30 Uhr und noch dunkel, als wir am verabredeten Treffpunkt ankommen. (zur Seite gesprochen) Wir, das sind übrigens Patric und ich. Einer muss ja das Mikro halten! Und das macht Patric immer. Dafür halte ich ihn bei Laune. Wir sind also auf einem Parkplatz, wenige Kilometer entfernt vom eigentlichen Drehort. Da darf man mit dem eigenen Auto nicht hinfahren. Deshalb bringt uns ein 5 Taxi von hier aus auf das Gelände. Dann noch ein paar Minuten zu Fuß. Und rein – in ein großes, weißes Zelt mit Holzboden. Sieht aus wie so ein Partyzelt. Hier treffen sich alle Statisten, die heute vor der Kamera stehen sollen. Hier ist die Anmeldung. Hier werden auch die Kostüme verteilt. Und – hier gibt's Kaffee!!! Beim Betreten des Zeltes bin ich irgendwie ein bisschen irritiert. Es ist schon ziemlich voll. Und links eine Schlange von Leuten, die gerade angekommen sind und sich jetzt anmelden wollen. Die haben alle normale Klamotten an. Also Kleidung, die mehr oder weniger den heutigen modischen Standards entspricht. Rechts dagegen warten die, die schon länger da sind. Die haben auch schon alle ihre Kostüme an. Und das sind – logischerweise – Kleider aus der Zeit um den Zweiten Weltkrieg herum. Es kommt mir vor, als wären die alle 1946 in eine Zeitmaschine gestiegen. Um heute Morgen in aller Herrgotts Frühe hier in Belgien zu landen. Vor mir in der Schlange ist ein Mann, der ist mir gleich sympathisch. Ich glaube, es ist sein offener und freundlicher Blick. Und seine Stimme! Reiner M. Ja. Oder winke, oder was auch immer… Autor Ja, ich werde nicht winken. Reiner M. Nee, das ist wahr. Ja. Sie winken mit den Ohren vielleicht. Wenn das möglich wäre. Autor Das ist natürlich möglich. Aber ich habe eine Mütze auf – einen Hut. Mal kucken… Reiner M. Da wackelt die Mütze. Autor Ganz genau. Reiner M. Ach, Mensch, Sie haben aber Humor! Das muss ich ja sagen. Autor Ja? Reiner M. Finde ich aber ganz in Ordnung. Autor Ja, ich auch. Sonst wäre es ja langweilig. 6 Reiner M. Sehr schön! Erzähler Nachdem wir die Schlange hinter uns gelassen haben, müssen wir jetzt noch im Garderobenbereich selbst ein bisschen warten. Reiner M. Meine Frau wollte überhaupt nicht. Weil sie sagte: ”Mensch, da muss ich mich verkleiden. Und mir die Haare…“ Und wie das so oft ist bei Frauen. Und, Na, ich sage: ”Mensch, wenn ich doch fahre, fahr doch einfach mit.“ Und, naja. Und jetzt ist sie dabei. Erzähler Und dann ist auch Herr M. in unserem Gespräch ziemlich schnell dabei. Ohne große Umschweife fragt er mich, was er wissen will. Und das werde ich übrigens häufiger gefragt: Ob meine Behinderung etwas mit Contergan zu tun hätte. Reiner M. ... also, nicht durch Contergan oder so? Autor Nein nein. Dafür bin ich ja zu jung. Ich bin einfach so geboren worden. Genau, ja. 72. Warum das so ist, weiß ich nicht. Erzähler Ich möchte das jetzt auf keinen Fall falsch verstanden wissen: Mir ist das schon lieber so, wie Herr M. das macht. Dann kann ich wenigstens reagieren. Und Fragen beantworten. Reiner M. Wie das eben so ist. Gibt Schlimmeres. Autor Ja. Offensichtlich. Reiner M. Ja, ja. Ja, wirklich. Obwohl es ist natürlich… Man ist natürlich gehandicapt irgendwie… Autor …Ist man das? Wissen Sie das? Ich bin halt so geboren worden… Reiner M. … Jaja… 7 Autor Und kenne es nicht anders. Und, ähm... Ich mache alles mit den Füßen, was sie mit den Händen machen. Gut, das Mikrofon hier hält jetzt Patric… Reiner M. … Das ist der Ständer hier? Autor Genau. Ganz genau. Der schweigende Ständer. Autor Nö, fahre Auto. Ist alles o.k. Reiner M. Toll! Autor Ja. Reiner M. Es gibt also trotz Behinderung heutzutage Techniken, die früher nicht da waren. Und heutzutage kann man Autofahren. Und man kann alles mögliche machen. Man kann fast am normalen Leben partizipieren. Autor Nicht fast! Sondern das kann man! Ja, natürlich – unbedingt! Ja, nicht nur fast. Und deswegen ist das auch so interessant, bei so einem Film mal dabeizusein, der in einer Zeit spielt, in der das gar nicht so war. Reiner M. Das ist wohl wahr! Autor Weil, wenn ich mir überlege, wenn ich 1946 leben würde und durch ein Kriegsereignis meine Arme verloren hätte, das wäre schon eine harte Geschichte. Da wäre nichts mehr mit, da wäre nichts mehr mit Arbeiten. Reiner M. Wahrscheinlich in ein Heim oder sonst wo… Reiner M. Ja, bestenfalls!!! Autor Wenn man Glück hat. Und das ist schon ganz merkwürdig, sich das so zu vergegenwärtigen. Das wäre… Das wäre schon… Ich will jetzt nicht direkt sagen: ”Das hat was Beklemmendes.“ Aber es hat sowas… Reiner M. Das beklemmt mich ja im Moment hier… 8 Autor Tatsächlich? Reiner M. Ja, ja – doch! Weil, das ist ja wirklich wahr. Wenn man sich das überlegt, umso schöner ist es ja, dass heutzutage ein anderes Denken drüber da ist. Also, das ist ja ganz wichtig, dass man… Und ich sehe es ja an Ihnen jetzt wie normal Sie am Leben teilnehmen. Auch die innere Einstellung merkt man ja. Ohne Probleme, irgendwie. Erzähler Nachdem wir dann unsere Kostüme haben, geht es endlich los. Ein bisschen gespenstisch wirkt das schon, wie wir alle so im Morgengrauen in unseren Kostümen Richtung Set pilgern. Als wir nach ein paar Minuten ankommen, müssen wir uns alle neben einer Holz-Baracke aufstellen. Dann kommt der Regisseur und läuft die Reihe ab. REGISSEUR Du ja. Du nein. Du ja. Du nein. JIM Alles Ja? REGISSEUR Alles Ja. [Weiteres Aussuchen auf Französisch.] Erzähler Hier ist echt eine ganze Menge los. Ich meine mich zu erinnern, dass jemand im Zelt heute Morgen von 160 Statisten gesprochen hat. Die müssen jetzt natürlich alle koordiniert werden. Noch sieht das alles ziemlich chaotisch aus. Für mich jedenfalls. Aber dann wird uns gezeigt, wo wir lang laufen müssen. Und so ganz langsam kommt dann auch Ordnung und Struktur in das Gewusel hier. Ja, und dann kommt das, was sich ab jetzt fast über den ganzen Drehtag wiederholt: ATMO Aufnahmekommandos Achtung, Wiederholung, Action Erzähler In einer kurzen Pause, habe ich die Gelegenheit mit Michel Bergmann zu sprechen. Er hat das Buch zum Film geschrieben, der hier gedreht wird. Michel Bergmann Nun machen wir, glücklicherweise, denn das Unglück der Menschen ist ja oft das Glück des Filmemachers, machen wir eine Nachkriegsgeschichte. Und ich kann mich gut erinnern, als Kind, da sah man, mein Lehrer hatte einen Arm. Man ging auf der Straße und es saßen Leute mit einem Bein und bettelten und so. Das sieht man ja 9 heute so gar nicht mehr. Also das waren alles Kriegsversehrte und das war eigentlich ganz normal. Autor Genau, das sieht man heute nicht mehr so oft. Michel Bergmann Richtig. Autor Und deswegen... Menschen wie ich, die gar keine Arme haben.. Michel Bergmann Sind sie ein Contergan...? Autor Nein... Erzähler Das werde ich übrigens häufiger gefragt. Autor Und wir müssen kurz ein bisschen rübergehen… Ja, es halt oft auch befremdlich, wenn Menschen mich so sehen. Und ich bin dazu gekommen, zu diesem Film, weil ein Bekannter hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Menschen, die einen Kriegsversehrten geben als Statist gesucht werden. Und das wollte ich einfach mal sehen, wie sich das so an fühlt. Und das war schon auch ein komisches Gefühl, als wir da eben ganz am Anfang in der Reihe da standen und dann wurden Leute rausgeholt und... Michel Bergmann Wie eine Selektion. Autor Wie eine Selektion war das, genau. Michel Bergmann Ja, habe ich mir auch gedacht... hatte ich auch. Und ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich festgestellt, sobald die Leute das Kostüm an haben, verändern sie auch ihre Persönlichkeit. Ich weiß nicht, wie es ihnen jetzt geht, aber man wird irgendwie in die Zeit gebeamt. Also so ein Gefühl habe ich. Ich kann Ihnen Sachen erzählen, von ganz netten und freundlichen Komparsen, die, sobald sie eine SS Uniform angehabt haben nicht mehr wieder zu erkennen waren, die plötzlich einen Ton drauf hatten, einen Schritt drauf hatten... Autor Ja, das habe ich mir auch gedacht, als ich die Komparsen hier in Uniform gesehen habe. Das macht direkt so etwas Schneidiges, so etwas Scharfes. Und es fühlt sich unangenehm an. 10 Michel Bergmann Es fühlt sich unangenehm an. Die Leute werden andere Personen. Autor Woran liegt das? Michel Bergmann Ich kann es Ihnen nicht sagen. Also wir haben in Südfrankreich eine Serie gedreht vor vielen Jahren mal. Und da haben wir einfach, weil wir die Straßen sperren mussten, da haben wir einfach Komparsen in die Polizeiuniformen gesteckt. Und die haben nur an der Straße gestanden. Klar, nicht, die Autofahrer haben sofort gebremst. Und dann haben sie mit der Hand so eine Bewegung rückwärts gemacht. Dann ist eine ganze Kolonne rückwärts gefahren. Und je öfter das passierte: Sie haben diese Komparsen nicht mehr wieder erkannt. Das waren ganz bösartige französische Flicks geworden. Erzähler Naja, bösartig ist hier am Set jetzt mal keiner. Auch nicht die, die in einer Uniform stecken. So, wie der junge Mann, der schon den ganzen Morgen ein paar Meter weiter links von mir steht und das Eingangstor zum Camp bewacht. Der wirkt auf mich schon ziemlich schneidig. Mit seinem Gewehr. Und überhaupt kuckt der die ganze Zeit so streng. Aber ich traue mich trotzdem: Vor dem nächsten Durchlauf spreche ich ihn an auf seine Uniform: Autor Du hast jetzt eine amerikanische Uniform an? Junger Luxemburger ...Genau. Ich bin Militärpolizist. Die MP. Und wir sollen hier amerikanische Soldaten spielen, die hier aufpassen, die hier sind. Autor Und wie ist das für dich, so eine Uniform anzuziehen? Hat sich etwas verändert, als du sie angezogen hast? Junger Luxemburger Ja! Zumal wenn man den Rang hat. Das ist wirklich etwas anderes. Denn man fühlt sich ein bisschen stolz. Man ist ein bisschen stolz. Aber man hat auch immer den Respekt auch vor den Amerikanern. Auch, was die gemacht haben zu dieser Zeit. Und man ist wirklich stolz, wenn man so eine Uniform an hat. Autor Hast du das auch bei dir selber gemerkt? Hast du dich anders bewegt? Junger Luxemburger Ja, ich habe schon darauf geachtet, wie ich mich bewege. Es ist ja nicht der normale Schritt, den man im normalen Leben geht. Aber da habe ich wirklich darauf geachtet, das habe ich wirklich gemacht. 11 Autor Guckst du denn heute auch anders auf die Leute, die keine Uniformen anhaben? Junger Luxemburger Nein, wirklich gar nicht. Wir sind alle gleich, wir sind alle Schauspieler. Zwar müssen wir im Film etwas anders reagieren, aber wir sind ja alle gleich. Das hat wirklich keinen Unterschied hier. Autor Und hättest du gedacht, dass das soviel Aufwand ist, dass man so oft dieselben Szenen machen muss? Junger Luxemburger Nein, denn so eine Szene wird ja ein paarmal wiederholt und das dauert ja wirklich Stunden. Und danach im Film ist das dann höchstens zwei Minuten. Autor Ich glaube jetzt wird wieder dieselbe Szene wiederholt. Wir müssen noch mal auf unserem Platz gehen..... Erzähler Wir gehen also alle wieder auf unsere Position. Und weiter geht's. [Regieanweisung] Erzähler Immer wieder denselben Weg laufen. Auf keinen Fall nach oben schauen. Das sieht bestimmt zu fröhlich und zu optimistisch aus. Ich bin zwar kein Schauspieler, aber immerhin soll ich ja doch hier als jemand auftreten, der vor kurzem einen schweren Schicksalsschlag erlitten hat. Dessen Leben nie mehr so sein wird, wie vorher. Der sich komplett neu organisieren muss. Aber keine Ahnung hat, wie das gehen soll. Jemand, der nicht mehr einfach so eingreifen kann, wie er es gewohnt war. Weil er beide Arme im Krieg verloren hat. Die beiden wichtigsten Werkzeuge, um das Leben zu gestalten. Und der keine Ahnung hat, dass er das vielleicht auch mit seinen Füßen machen kann. Was aber zugegebenermaßen schon schwierig werden würde: Im Erwachsenenalter noch zu lernen, die Füße als Ersatz für die Hände zu benutzen. Auf jeden Fall: So jemand, der ist wahrscheinlich total frustriert, am Boden zerstört, orientierungslos und hat ganz einfach Angst. Angst vor der Zukunft. Und so jemand schaut auf den Boden, weil er mit sich selbst genug zu tun hat. Aber so richtig kann ich mich ja da auch nicht hineinversetzen. Ich hab das ja schließlich nicht selbst erlebt. Und die Grenzen für das sich-in-den-anderenhineinversetzen gibt immer der eigene Körper vor. Aus dem kann man ja nicht raus, um mal eben zu erfahren, wie es sich denn in einem anderen Körper so anfühlt. 12 In meinem Körper fühlt es sich mittlerweile so an: Mir tun die Füße weh. Und der Rücken. Vom langen Stehen. Ich würde gerne sitzen. Habe Hunger. Und will was trinken. Würde ich noch rauchen, hätte ich bestimmt jetzt auch noch unheimlich Schmacht auf eine Zigarette. Also, alles in allem geht's mir gerade nicht so toll. Und das hat den Effekt, dass ich jetzt nicht mehr ganz so fröhlich wirke. Eher ein bisschen genervt. Wie oft soll die Szene denn jetzt noch bitteschön wiederholt werden?! Hoffentlich ist echt bald Schluß hier. Es reicht! Genau diese miesepetrige Stimmung ist für meine Rolle aber optimal. Ich schlurfe jetzt sogar ein bisschen. Und bin mit viel weniger Körperspannung unterwegs. Weil meine Haltung sich jetzt meiner Laune angepasst hat. Und das kommt, glaube ich, ganz gut so. Jedenfalls für das, was ich hier machen soll. Atmo Regieanweisung Erzähler Insgesamt werden hier heute zwei Szenen gedreht. Das ganze dauert so etwa acht Stunden. Aber mir kommt es viel, viel länger vor. Es passiert ja so gut wie nichts. Und irgendwann wird es halt langweilig. Mir zumindest. Und mein temporäres Kriegsversehrten-Dasein habe ich – für meinen Geschmack – dann irgendwann auch soweit erschöpfend ausgespürt. Gegen 18:00 Uhr ist dann Schluss. In dem großen, weißen Zelt mit Holzboden treffe ich – fast an der gleichen Stelle wie heute Morgen – Herrn M. nochmal. Reiner M. ...nicht nur dass man drüber spricht, man möchte gern von Seiten der Sterbenden, der Todgeweihten darüber sprechen. Und viele Leute haben eine Hemmung, das zu sagen und das müssen wir auch lernen, dass man das einfach anspricht und sagt: wie geht es dir? Wie bist Du dazu gekommen, wie hast du es erfahren? Wie gehst Du damit um? Wie sind deine letzten Wünsche oder Vorstellungen? Was hast du verpasst in deinem Leben. Reiner M. Und das sind solche Fragen, die dann aufkommen und deswegen komme ich auch dazu, dieselben Probleme haben die Leute bei Leuten mit Behinderungen. Wie reagiert man darauf? Kann man da überhaupt etwas sagen? Und dann ist es umso erfreulicher festzustellen, wenn jemand, der eine Behinderung hat, ganz offensiv damit umgeht. Was ja nur natürlich ist. Nur für unsereinen ist es immer ein Problem. Ich weiß auch nicht wieso. Autor Wieso ist das so? Das ist eine gute Frage. Ich habe mir etwas überlegt, was das sein könnte. Und zwar glaube ich, ich breche die Routine. Ich haue Menschen aus ihrer alltäglichen Routine raus. Sie müssen sich da auf etwas einlassen, was sie gar nicht kennen. Das könnte es sein, oder? Reiner M. Das interessante ist – das ist sicher so – dass man nach sehr kurzer Zeit das völlig vergisst, dieses Problem, was man im Moment hat… 13 Autor Aber wer hat das Problem von uns beiden? Reiner M. Nicht du, du kennst das ja. Wir werden konfrontiert mit etwas, von dem wir nicht wissen, wie reagiert er und wie reagiere ich darauf. Erzähler Wir sind jetzt beim Du Autor Ist das für dich unangenehm eine solche Begegnung? Reiner M. Im Moment, am Anfang sehr wohl, muss ich sagen. Autor Beschreibe das mal! Als wir uns heute Morgen getroffen haben. Reiner M. Ja, ich bin etwas erschrocken gewesen. Autor Tatsächlich? Reiner M. Ja, und ich dachte: Wie reagierst du jetzt darauf oder wie reagiere ich darauf? Irgendwie so. Ein diffuses Gefühl des Unwohlseins und nachdem ich feststellen musste, wie selbstverständlich und offensiv du damit umgehst, war es auf einmal einfacher. Ich denke, es ist auch eine Frage der Erziehung oder von zuhause, wie ist man als Kind gewöhnt damit umzugehen? Wurde man sehr geschont oder wurde man normal behandelt. Dass Deine Eltern sicher damit umgingen, wie mit einem normalen Kind. Autor Ganz genau... Reiner M. Und das lässt in einem natürlich das Bewusstsein wachsen: Ich bin normal. Es ist nur irgendetwas anders. Wie andere Leute damit umgehen, da hast du die unterschiedlichsten Erfahrung wahrscheinlich? Autor Heute hier? Oder insgesamt? Reiner M. Insgesamt. 14 Autor Ja, das ist natürlich... ich bin jetzt 44 diesen Monat. Und da ist natürlich die ganze Bandbreite an Begegnungen an Situationen habe ich da erlebt, von natürlich verunsichert bis irritiert, abweisend. Aber auch das Gegenteil, dass die Leute das halt gut finden, dass ich so entspannt damit umgehe. Reiner M. Aber dann müssen sie erst einmal mit dir umgegangen sein um zu wissen, wie Du damit umgehst. Es geht zunächst einmal darum: Man sieht jemanden und macht zu. Autor Es kommt halt darauf an, wo und wie man mich sieht. Wenn ich jetzt einfach irgendwo stehe und keine Aktion habe, dann stehe ich einfach nur da, dann ist das natürlich, kann ich mir vorstellen, dann kann es beklemmend wirken, weil man sich ja selbst vorstellt, wie würde ich das jetzt machen, wenn ich jetzt keine Arme hätte. Also du hast dir bestimmt so etwas gedacht. Reiner M. Ja, ja. Autor Genau, und das ist eben diese Falle, die das Gehirn einem stellt, und zwar dass man versucht, sich selber in die Situation rein zu versetzen, was ja nie funktionieren kann. Du wirst nie wissen, wie es in meinem Körper ist. Und ich werde nie wissen, wie es in Deinem ist. Reiner M. Ja, das ist wahr. So habe ich es noch nie gesehen. Aber du hast recht, genau so ist es. Also, ich habe selten natürlich logischerweise die Gelegenheit mit jemandem mit schwerer, starker Behinderung...du siehst es ja anders mit der Schwerheit der Behinderung, aber es gibt nun mal wenige die einmal so behindert sind und die auch darüber sprechen und mit denen man in Kontakt kommt. Autor Ist Deine Frau jetzt sauer, dass wir dich zuquatschen? Reiner M. Sie will nach Hause. Sie hat die Nase voll. Autor Gut, dann hören wir jetzt auf zu reden... 15
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