Kultur Aufmerksamkeit, bitte! Debatte Die Digitalisierung setzt den Strukturwandel von 1968 fort. Eine Antwort auf Hans Magnus Enzensberger und Harald Welzer. Von Martin Altmeyer nter deutschen Intellektuellen hat die digitale Moderne einen schlechten Ruf, ebenso wie all jene, die unaufhörlich vor sich hin twittern, chatten, mailen, bloggen, hashtaggen, posten, googeln, ständig an ihren Smartphones und Laptops hängen, um ihre Facebook-Seiten zu füllen oder WhatsApp-Nachrichten auszutauschen. Als ob die Zeit anzuhalten wäre, wird Enthaltsamkeit gepredigt, die Jugend zum strategischen Rückzug aus der Mediengesellschaft aufgefordert: Werft eure Handys weg! Kappt eure Internetzugänge! Über weltanschauliche Lager hinweg beschwören die apokalyptischen Reiter einen medientechnologischen Totalitarismus, den Würgegriff mächtiger „Datenkraken“, der mit der Demokratie auch die Selbstbestimmung des Einzelnen ersticke und seine Seele vergifte. Im SPIEGEL schrieb Harald Welzer von der „smarten Diktatur“ eines Digitalimperialismus, den man bekämpfen müsse, denn das gute Leben sei analog, und Hans Magnus Enzensberger witterte in der elektronischen Kommunikation nur den jüngsten „Massenbetrug“ der kapitalistischen Kulturindustrie. Sie sind nicht die einzigen prominenten Kritiker der digitalen Moderne. Botho Strauß entdeckte „Bakterienschwärme neuer Medien“. Byung-Chul Han hat den Schlüssel zur totalitären Machtausübung der Internetkonzerne in einer manipulativen „Psychopolitik“ erkannt. Und Peter Sloterdijk geißelt die „schrecklichen Kinder der Neuzeit“, die seit der Französischen Revolution „das Glück der Privilegierten“ hassten und in den Computerkids ihre zeitgemäßen Avatare gefunden hätten. Aber ist die Generation der Digital Natives wirklich so schrecklich, oder zeugen die Alarmrufe nur vom Schrecken geistesaristokratischer Autoren, die ihre Deutungsmacht bedroht sehen? Die Aufrufe zum Widerstand verraten mehr über die inneren Dämonen der Autoren als über die Computerwelt, die sie dämonisieren, zumal im Unterton ein globalisierungskritischer, antikapitalistischantiamerikanischer, gelegentlich auch deutschtümelnder Affekt herauszuhören ist. Kein Wunder, dass dem rückwärtsgewandten Blick all das Neue entgeht, das doch verstehen sollte, wer Zeitdiagnosen anbietet. Was aber ist wirklich neu an der digitalen Moderne? Neu ist zunächst eine boomende „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, auf deren frei zugänglichen Märkten bekanntlich Selbstdarstellung gegen Beachtung getauscht wird. Gehandelt wird mit psychischen Stoffen aller Art, wozu Fähigkeiten, Gefühle, Fantasien, Charaktereigenschaften, Körperinszenierungen, sexuelle Vorlieben, emotionale Bindungen oder soziale Beziehungen gehören. Der wertvollste all dieser Stoffe ist jedoch die originelle Persönlichkeit. Sie U Im zeittypischen Drang zur digitalen Sichtbarkeit verschafft sich ein zwischenmenschliches Grundbedürfnis Geltung. 132 DER SPIEGEL 22 / 2016 ist das höchste Gut, die Ware mit dem größten Aufmerksamkeits- und Marktwert in einem Wirtschaftszweig, dessen eigentliche Währung narzisstischer, aber keineswegs solipsistischer Natur ist. Es ist der Narzissmus eines exzentrischen Selbst, das sich zeigen und darauf hoffen darf, von der Umwelt wahrgenommen zu werden: Was im mentalen Kapitalismus zählt, sind letzten Endes Einschaltquoten, Klickraten, Likes und andere Formen des medialen Feedbacks, die ein starkes Bedürfnis nach Antworten auf die eigene Selbstdarstellung zu befriedigen scheinen. Nehmen wir beispielsweise die Blitzkarriere des Selfies, dieses jüngsten, schlichtesten und erfolgreichsten Massenprodukts der Aufmerksamkeitsökonomie. Auf Selfies sehen wir Menschen, wie sie sich anscheinend selbst sehen oder sehen möchten. Die digitalen Selbstporträts werden verschickt, um Freunde, Bekannte oder Fremde zu interessieren. Mit jedem versendeten Selfie ruft der Sender den Empfängern zu: Schaut her! So bin ich! Was haltet ihr davon? Das Selfie ist emblematisch für eine digitalisierte Medienwelt, zu der auch Talk-, Casting- und Realityshows zählen. Ebenso der boomende Körperkult mit seiner unausgesprochenen Botschaft des „Look at me!“ bereichert die Produktpalette einer Aufmerksamkeitsökonomie, er ist verknüpft mit der Hoffnung auf mitunter identitätsstiftende Umweltreaktionen. Schon sehen sich unsere Modernekritiker in ihrem Verdacht bestätigt, der mediale Narzissmus sei die Büchse der Pandora. Als ob sie sich nicht selbst auf jenen Schaubühnen der Mediengesellschaft bewegten, auf die nun auch die Underdogs stürmen. Denn im Zeitalter interaktiver Massenmedien haben sich die klassischen Reservate der öffentlichen Selbstinszenierung, einst den Schönen, Reichen und Wichtigen vorbehalten, lediglich geöffnet. Die ehemals Ausgegrenzten dürfen sich nun ihrerseits eingeladen fühlen, am Kampf um den publikumswirksamen Auftritt, um gesellschaftlichen Distinktionsgewinn, um Prominenz teilzuhaben. Das Marktgeschehen der neuen Ökonomie ist weitgehend demokratisiert: Die Marktteilnehmer kommen aus der ganzen Gesellschaft, nicht zuletzt aus ihren ärmeren und sozial marginalisierten Randschichten. Massenhaft machen sie von den digitalen Medien Gebrauch, um selbst wahrgenommen zu werden. er egalitäre Strukturwandel der Öffentlichkeit wird von einem mentalen Strukturwandel begleitet, der den Modernekritikern ebenfalls entgeht, weil sie das Neue daran nur als Auflösung der Privatsphäre statt als durchlässiger gewordenes Verhältnis von psychischer Innen- und sozialer Außenwelt deuten. Im zeittypischen Drang zur Sichtbarkeit verschafft sich ein Resonanzverlangen Geltung, bei dem es sich keineswegs um ein Kunstprodukt der Medienwelt handelt, sondern um ein zwischenmenschliches Grundbedürfnis. Wie uns Entwicklungspsychologie, Neurobiologie und Psychoanalyse lehren, steht ein elementarer Wunsch nach Spiegelung und Widerhall am Beginn jeder seelischen Entwicklung. Er D KARL-JOSEF HILDENBRAND / DPA Sozialkompetenz und Wohlbefinden der nachwachsenden Generation gefördert, sondern zu einer generellen Auflockerung psychischer Strukturen beigetragen. Mit Freud könnte man sagen, dass das Es weniger triebhaft, das Ich weniger starr, das Über-Ich weniger streng und die Beziehung zur äußeren Realität versöhnlicher geworden ist. Der Entwicklungspsychologe Martin Dornes spricht von der „postheroischen“ Persönlichkeit, einem vergleichsweise offenen, flexiblen, lebendigen, sensibler und anpassungsfähiger gewordenen Sozialcharakter, der für die gegenwartstypischen Umstellungs- und Performanzanforderungen psychisch gut vorbereitet scheint. In seiner Streitschrift „Macht der Kapitalismus depressiv?“ verweist er auf epidemiologische Studien, die in entwickelten Kommunikationsgesellschaften eher eine Verbesserung der seelischen Gesundheit anzeigen – und widerlegt damit die gängige Behauptung einer stetigen Zunahme psychischer Störungen, insbesondere von Depressionen und Erschöpfungszuständen, mit der ein modernekritischer Kulturpessimismus seine Pathologiediagnosen begründet. tattdessen kann uns die Internetgeneration, wenn wir ihr neugierig und interessiert genug begegnen, statt sie zu pathologisieren oder zum bedauernswerten Opfer des Informationskapitalismus zu erklären, Einsichten in das veränderte Begehren in der globalisierten Mediengesellschaft vermitteln. Über die Lust daran, von anderen gesehen, gehört und beachtet zu werden. Über das Bedürfnis nach Nähe und Kontakt. Über das Verlangen nach Kommunikation und Austausch. Vor allem jedoch über die Sehnsucht nach einer resonanten Weltbeziehung: Im Bedürfnis nach Echo und Spiegelung enthüllen die sozialen Netzwerker und Netzwerkerinnen zugleich, dass Menschen keine Monaden, sondern von anderen Menschen abhängig und auf deren Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung angewiesen sind. Zweifellos ist ernst zu nehmen, was sich in den Schattenbereichen des Internets entwickelt. Wahrscheinlich schadet es Menschen in ihrer seelischen Entwicklung, wenn sie sich pausenlos in den Sozialmedien tummeln oder suchtartig am Smartphone hängen. Gewiss sind User, die sich an digitalen Hasstiraden beteiligen, keine angenehmen Zeitgenossen. Der neuen Medien bedienen sich leider auch Betrüger. Und medial inszenieren sich nicht zuletzt Rassisten und Dschihadisten. Aber diese Erscheinungen lassen sich doch keiner Medientechnologie anlasten, die an sich weder gut noch böse ist. Einer überzogenen Modernekritik, die in ihrer Apokalypsebereitschaft solche Phänomene gern ins Zentrum rückt, scheint das Vertrauen in das soziale Gespür, die moralische Integrität, die technische Intelligenz und praktische Lernfähigkeit einer jungen Generation zu fehlen, die in die medialisierte Welt wie selbstverständlich hineinwächst. Wie alle Generationen zuvor eignen sich auch die Kinder der digitalen Moderne die gesellschaftliche Wirklichkeit auf eigene Weise an – mitsamt den Chancen und Risiken, den Vorzügen und Gefahren, den Überraschungen und Abenteuern, die diese zu bieten hat. Jedenfalls haben sie weniger Angst davor, überwacht, als übersehen zu werden. FRANCK FERVILLE / VU / LAIF S Oktoberfestbesucher, Urlauber beim Posieren für ein Selfie Natürliches Verlangen nach Umweltresonanz verbindet bereits den Säugling psychisch mit seiner sozialen Umwelt, von der er sich gehalten, in die er sich eingebettet fühlt, falls sie gut genug, das heißt: hinreichend resonant ist. Unbewusst bleibt das Resonanzverlangen im Seelenleben des Einzelnen virulent, weit über Kindheit, Pubertät und Adoleszenz hinaus. Denn ein Leben lang braucht der Mensch ein Mindestmaß an Umweltresonanz, um zu erfahren, was er kann und wer er ist. An diesem natürlichen Verlangen kann die digitale Moderne mit ihrem medialen Sichtbarkeitsversprechen andocken, das gewissermaßen ihre Angebotsseite ausmacht. Auf der Nachfrageseite hat sich ein veränderter Persönlichkeitstyp entwickelt, der psychisch in der Lage ist, die mediengesellschaftliche Einladung zur Selbstdarstellung anzunehmen, und das sichtlich gern tut. Offenbar profitieren die Menschen der digitalen Moderne von der psychosexuellen und alltagskulturellen Liberalisierung, die seit 1968 mit der Lebenswelt auch die Generationsund Geschlechterbeziehungen nachhaltig entspannt haben. In der Binnenstruktur moderner Familien haben eine freiheitliche, abweichungstolerante, kommunikationsbereite, verhandlungsorientierte und auf wechselseitige Anerkennung gerichtete Erziehung sowie der partnerschaftliche Umgang miteinander der natürlichen Zeigelust, Kommunikationsfreude und Interaktionsbereitschaft von Kindern und Jugendlichen mehr Raum gegeben, als das früher der Fall war. Das wiederum hat nicht nur Selbstbewusstsein, Altmeyer, 68, arbeitet als psychoanalytischer Paar- und Familientherapeut in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte das Buch „Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert“ (Vandenhoeck & Ruprecht). DER SPIEGEL 22 / 2016 133
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