31 < Prof. Dr. Niels Petersen Europarecht Fall 03 – Lösung

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Europarecht Fall 03 – Lösung
Lösungshinweise
Die Verfassungsbeschwerde des G ist begründet, wenn dieser in einem seiner Grundrechte
oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. Als mögliches grundrechtsgleiches Recht kommt
vorliegend das Wahlrecht des G aus Art. 38 GG in Betracht. Nach der Rechtsprechung des
BVerfG gewährleistet Art. 38 GG nicht nur formale Teilnahme an der Wahl. Vielmehr hat die
Garantie einen darüber hinausgehenden materiellen Gehalt, nämlich an der Legitimation der
Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu
nehmen (BVerfGE 89, 155, 171 f.). Zwar hindert dies den Deutschen Bundestag aufgrund von
Art. 23 GG nicht, Hoheitsgewalt auf supranationale Organisationen zu übertragen. Allerdings
darf diese Übertragung von Hoheitsgewalt nicht zu einer Entleerung des unantastbaren Kerngehalts des Demokratieprinzips nach Art. 20 I GG führen. Weiterhin ist das durch Art. 38 GG
gewährleistete Teilhaberecht nur dann gewahrt, wenn sich die durch die Hoheitsübertragung
etablierten Institutionen im Rahmen der ihnen übertragenen Kompetenzen bewegt haben.
Möglicherweise hat die EZB vorliegend durch die Ankündigung des OMT-Programms die ihr
eingeräumten Kompetenzen überschritten und damit ultra vires gehandelt. Allerdings führt nicht
jede Kompetenzüberschreitung automatisch zu einer Verletzung von Art. 38 GG. Vielmehr können Gerichte teilweise unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob eine bestimmte Handlung
eine Kompetenzüberschreitung darstellt oder nicht. Würde man den europäischen Institutionen
und dem europäischen Gerichtshof in dieser Hinsicht nicht einen gewissen Einschätzungsspielraum zugestehen, wäre die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährdet. Aus diesem
Grund muss die ultraviresKontrolle europarechtsfreundlich ausgeübt werden (BVerfGE 126,
286, 303). Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union erheblich ins Gewicht fällt.
I.
Verletzung von Art. 123 (1) AEUV
Art. 123 (1) AEUV verbietet den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedstaaten durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken. Das OMT-Programm sieht unstreitig keinen unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen vor. Vielmehr sollen nur Staatsanleihen auf den Sekundärmarkt erworben werden. Allerdings könnte darin eine Umgehung
des Verbots von Art. 123 (1) AEUV liegen. So könnte ein Staat seine Staatsanleihen an
einen Strohmann verkaufen, der diese dann direkt an die EZB abgeben würde. Eine solche Umgehung schließt der EuGH in seiner Entscheidung allerdings aus. So erlaubt Art.
18.1 des EZB Statuts der EZB ausdrücklich, zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf den Finanzmärkten durch den Ankauf und Verkauf von Wertpapieren, wozu auch Staatsanleihen zählen, tätig zu werden. Zudem hat die EZB in ihrer Presseerklärung nicht angekündigt, alle ausgegebenen Staatsanleihen bedingungslos aufzukaufen. Vielmehr hat sich
die Bank interne Regeln gesetzt, unter welchen Bedingungen Staatsanleihen auf dem
Sekundärmarkt aufgekauft werden, um solche Umgehungen gerade zu vermeiden. Dass
die Bank diese Bedingungen nicht öffentlich preisgibt, hat strategische Gründe. Wären
die Bedingungen transparent, könnten sich die Marktteilnehmer darauf einstellen und
versuchen, durch entsprechendes strategisches Handeln die Bedingungen der EZB zu
unterlaufen. Sicherlich kann man bei der Interpretation von Art. 123 (1) AEUV anderer
Auffassung sein als der EuGH. Allerdings ist die Argumentation des EuGH zumindest vertretbar. Es handelt sich somit nicht um eine „offensichtliche“ Kompetenzüberschreitung,
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so dass eine Verletzung von Art. 38 GG durch den Aufkauf von Staatsanleihen auf dem
Sekundärmarkt vorliegend ausscheidet.
II.
Verletzung von Art. 127 AEUV
Möglicherweise verletzt die Ankündigung des OMT-Programms aber die Kompetenzbestimmung des Art. 127 AEUV, demzufolge die Gewährleistung der Preisstabilität das vorrangige Ziel der EZB ist. In seinem Vorlagebeschluss hatte das BVerfG argumentiert,
dass das OMT-Programm in erster Linie wirtschaftspolitische Ziele verfolge. Dabei stützte
es sich auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Pringle, in der der EuGH
entschied, dass der European Stability Mechanism (ESM) eine wirtschaftspolitische Maßnahme sei. Da das OMT-Programm der Sache nach kein anderes Ziel verfolge als der
ESM, müsse auch dieses folgerichtig als wirtschaftspolitische Maßnahme eingeordnet
werden.
Demgegenüber sah der EuGH den Schwerpunkt des OMT-Programms bei der Wahrung
der Preisstabilität. Die Ankündigung des OMT-Programms hat zu einer Beruhigung sehr
volatiler Märkte geführt. Vor dieser Beruhigung haben die konventionellen Mittel der EZB
zur Beeinflussung des Inflationsniveaus nur sehr eingeschränkte Wirkung gezeigt, so
dass die EZB ohne das OMT-Programm nicht mehr angemessen auf Gefährdungen der
Preisstabilität hätte reagieren können. Dass die Maßnahme gleichzeitig auch eine wirtschaftspolitische Folge, nämlich die Stärkung der Stabilität des Euroraums, hatte, ändert
nichts an der Bewertung der primären Zielrichtung. Auch die Tatsache, dass die EZB nur
Staatsanleihen von Staaten aufkaufen wollte, die die Bedingungen des ESM-Programms
erfüllten, führt zu keiner anderen Bewertung. Vielmehr handelt es sich um eine Koordinierungsmaßnahme, die dazu führen sollte, die Effektivität des ESM-Programms nicht zu untergraben. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass unterstützende wirtschaftspolitische
Maßnahmen gem. Art. 127 (1) AEUV durchaus zulässig sind.
Auch diese Interpretation des EuGH ist sicherlich nicht unangreifbar. Sie ist aber zumindest vertretbar, so dass erneut keine „offensichtliche“ Kompetenzüberschreitung vorliegt
und eine Verletzung von Art. 38 GG ausscheidet.
III.
Ergebnis
Die Ankündigung des OMT-Programms verletzt Art. 38 GG nicht. Folglich ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet.
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