unirep Europarecht – SS 2016 31 < Europarecht Fall 03 – Lösung Lösungshinweise Die Verfassungsbeschwerde des G ist begründet, wenn dieser in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. Als mögliches grundrechtsgleiches Recht kommt vorliegend das Wahlrecht des G aus Art. 38 GG in Betracht. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gewährleistet Art. 38 GG nicht nur formale Teilnahme an der Wahl. Vielmehr hat die Garantie einen darüber hinausgehenden materiellen Gehalt, nämlich an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen (BVerfGE 89, 155, 171 f.). Zwar hindert dies den Deutschen Bundestag aufgrund von Art. 23 GG nicht, Hoheitsgewalt auf supranationale Organisationen zu übertragen. Allerdings darf diese Übertragung von Hoheitsgewalt nicht zu einer Entleerung des unantastbaren Kerngehalts des Demokratieprinzips nach Art. 20 I GG führen. Weiterhin ist das durch Art. 38 GG gewährleistete Teilhaberecht nur dann gewahrt, wenn sich die durch die Hoheitsübertragung etablierten Institutionen im Rahmen der ihnen übertragenen Kompetenzen bewegt haben. Möglicherweise hat die EZB vorliegend durch die Ankündigung des OMT-Programms die ihr eingeräumten Kompetenzen überschritten und damit ultra vires gehandelt. Allerdings führt nicht jede Kompetenzüberschreitung automatisch zu einer Verletzung von Art. 38 GG. Vielmehr können Gerichte teilweise unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob eine bestimmte Handlung eine Kompetenzüberschreitung darstellt oder nicht. Würde man den europäischen Institutionen und dem europäischen Gerichtshof in dieser Hinsicht nicht einen gewissen Einschätzungsspielraum zugestehen, wäre die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährdet. Aus diesem Grund muss die ultraviresKontrolle europarechtsfreundlich ausgeübt werden (BVerfGE 126, 286, 303). Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union erheblich ins Gewicht fällt. I. Verletzung von Art. 123 (1) AEUV Art. 123 (1) AEUV verbietet den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedstaaten durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken. Das OMT-Programm sieht unstreitig keinen unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen vor. Vielmehr sollen nur Staatsanleihen auf den Sekundärmarkt erworben werden. Allerdings könnte darin eine Umgehung des Verbots von Art. 123 (1) AEUV liegen. So könnte ein Staat seine Staatsanleihen an einen Strohmann verkaufen, der diese dann direkt an die EZB abgeben würde. Eine solche Umgehung schließt der EuGH in seiner Entscheidung allerdings aus. So erlaubt Art. 18.1 des EZB Statuts der EZB ausdrücklich, zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf den Finanzmärkten durch den Ankauf und Verkauf von Wertpapieren, wozu auch Staatsanleihen zählen, tätig zu werden. Zudem hat die EZB in ihrer Presseerklärung nicht angekündigt, alle ausgegebenen Staatsanleihen bedingungslos aufzukaufen. Vielmehr hat sich die Bank interne Regeln gesetzt, unter welchen Bedingungen Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt aufgekauft werden, um solche Umgehungen gerade zu vermeiden. Dass die Bank diese Bedingungen nicht öffentlich preisgibt, hat strategische Gründe. Wären die Bedingungen transparent, könnten sich die Marktteilnehmer darauf einstellen und versuchen, durch entsprechendes strategisches Handeln die Bedingungen der EZB zu unterlaufen. Sicherlich kann man bei der Interpretation von Art. 123 (1) AEUV anderer Auffassung sein als der EuGH. Allerdings ist die Argumentation des EuGH zumindest vertretbar. Es handelt sich somit nicht um eine „offensichtliche“ Kompetenzüberschreitung, Prof. Dr. Niels Petersen > 32 unirep Europarecht – SS 2016 so dass eine Verletzung von Art. 38 GG durch den Aufkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt vorliegend ausscheidet. II. Verletzung von Art. 127 AEUV Möglicherweise verletzt die Ankündigung des OMT-Programms aber die Kompetenzbestimmung des Art. 127 AEUV, demzufolge die Gewährleistung der Preisstabilität das vorrangige Ziel der EZB ist. In seinem Vorlagebeschluss hatte das BVerfG argumentiert, dass das OMT-Programm in erster Linie wirtschaftspolitische Ziele verfolge. Dabei stützte es sich auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Pringle, in der der EuGH entschied, dass der European Stability Mechanism (ESM) eine wirtschaftspolitische Maßnahme sei. Da das OMT-Programm der Sache nach kein anderes Ziel verfolge als der ESM, müsse auch dieses folgerichtig als wirtschaftspolitische Maßnahme eingeordnet werden. Demgegenüber sah der EuGH den Schwerpunkt des OMT-Programms bei der Wahrung der Preisstabilität. Die Ankündigung des OMT-Programms hat zu einer Beruhigung sehr volatiler Märkte geführt. Vor dieser Beruhigung haben die konventionellen Mittel der EZB zur Beeinflussung des Inflationsniveaus nur sehr eingeschränkte Wirkung gezeigt, so dass die EZB ohne das OMT-Programm nicht mehr angemessen auf Gefährdungen der Preisstabilität hätte reagieren können. Dass die Maßnahme gleichzeitig auch eine wirtschaftspolitische Folge, nämlich die Stärkung der Stabilität des Euroraums, hatte, ändert nichts an der Bewertung der primären Zielrichtung. Auch die Tatsache, dass die EZB nur Staatsanleihen von Staaten aufkaufen wollte, die die Bedingungen des ESM-Programms erfüllten, führt zu keiner anderen Bewertung. Vielmehr handelt es sich um eine Koordinierungsmaßnahme, die dazu führen sollte, die Effektivität des ESM-Programms nicht zu untergraben. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass unterstützende wirtschaftspolitische Maßnahmen gem. Art. 127 (1) AEUV durchaus zulässig sind. Auch diese Interpretation des EuGH ist sicherlich nicht unangreifbar. Sie ist aber zumindest vertretbar, so dass erneut keine „offensichtliche“ Kompetenzüberschreitung vorliegt und eine Verletzung von Art. 38 GG ausscheidet. III. Ergebnis Die Ankündigung des OMT-Programms verletzt Art. 38 GG nicht. Folglich ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Prof. Dr. Niels Petersen
© Copyright 2024 ExpyDoc