Bye bye Europe?

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Bye bye Europe?
Das Brexit-Referendum
Von Stephanie Pieper, Gabi Biesinger und Jens-Peter Marquardt
Sendung: Donnerstag, 23. Juni 2016, 08.30 Uhr
Redaktion: Gábor Paál
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Musik 1: Marching Band
Autor:
St. George‘s Day in Romford, der Tag des englischen Schutzpatrons. Die Stadt ist
mit britischen und englischen Fähnchen geschmückt, die Leute feiern.
Musik 2: Marching Band
Autor:
Romford, einer der zahlreichen Vororte im Osten Londons, ist fast in jeder Beziehung
britischer Durchschnitt, nur in einem ragt die Stadt heraus. Nirgendwo sonst in
Großbritannien leben so viele EU-Gegner. Die Stadt ist fest in der Hand der
Konservativen, und zwar in der Hand der Konservativen, die überhaupt nichts von
ihrem konservativen Premierminister David Cameron halten:
Ansage:
„Bye bye Europe? Das Brexit-Referendum” von Stephanie Pieper, Gabi Biesinger
und Jens-Peter Marquardt.
O-Ton 1 - Sue Connelly (Übersetzerin 1):
Cameron ist im Grunde genommen ein Verräter. Er ist als Bettler nach Brüssel
gefahren und mit nichts aus den Verhandlungen zurück gekommen. Jetzt will er uns
das als tolles Ergebnis verkaufen und uns Angst vor dem Austritt aus der EU
machen.
Autor:
Sagt Sue Connelly, die Geschäftsführerin der Konservativen in Romford, über ihren
Parteivorsitzenden.
David Cameron steht seit 2005 an der Spitze der Konservativen. Er hatte damals
eine Partei übernommen, die auf dem Tiefpunkt war. Der ständige Streit (...) über
Europa hatte nicht nur Premierminister John Major das Amt gekostet, sondern auch
Tony Blairs Labour Party an die Macht geführt und den Konservativen eine
Wahlschlappe nach der anderen beschert. Der neue Vorsitzende las deshalb damals
seiner Partei erst einmal die Leviten:
O-Ton 2 - David Cameron (Übersetzer 1):
Statt darüber zu reden, was die meisten Leute interessiert, haben wir darüber
geredet, was uns am meisten interessiert. Während Eltern sich Sorgen um die
Betreuung ihrer Kinder gemacht haben, ihre Kinder durch die Schule zu bekommen
und eine Balance zwischen Arbeit und Familie zu finden, haben wir über Europa
geschwafelt.
Autor:
Cameron setzte bewusst auf andere Themen – und hatte damit Erfolg. 2010 wurde
er Premierminister. Doch die EU-Hardliner in seiner Partei ließen nicht locker. Sie
forderten eine Volksabstimmung über die Mitgliedschaft in der EU. Gleichzeitig wurde
die UKIP, die United-Kingdom-Independence Party, deren Gründungscredo der
2
Austritt aus der EU ist, immer stärker. Die Parolen des UKIP-Vorsitzenden Nigel
Farage verfingen auch bei der konservativen Wählerschaft.
O-Ton 3 - Nigel Farage (Übersetzer 2):
Ich glaube an Großbritannien, und ich glaube, dass wir gut genug sind, unser Land
selber zu regieren. Wir müssen alles dafür tun, dass wir die Kontrolle und den Stolz
(...) zurück gewinnen. Wir wollen unser Land zurück! (Applaus)
Autor:
Im Januar 2013 ergab sich der Premierminister dem Druck von rechts und kündigte
ein Referendum an:
O-Ton 4 - David Cameron (Übersetzer 1):
Diejenigen, die eine Befragung des britischen Volkes ablehnen, erhöhen in meinen
Augen die Wahrscheinlichkeit, dass wir irgendwann austreten. Das ist der Grund,
warum ich mich für ein Referendum stark mache. Ich halte es für das Richtige, sich
dieser Debatte zu stellen, sie mitzugestalten und anzuführen. Und nicht einfach zu
hoffen, dass eine schwierige Situation von allein vorbeigeht.
Autor:
Camerons Strategie: Mit der EU über Reformen verhandeln und dann die Briten
über diese reformierte EU abstimmen lassen. Auf dem EU-Gipfel, in den frühen
Morgenstunden des 20. Februar 2016, bekam er sein Geschenk-Paket: unter
anderem die Zusage, zugewanderte EU-Bürger von bestimmten Sozialleistungen in
Großbritannien auszuschließen. Wenige Stunden danach setzte der Premierminister
den 23. Juni als Termin für das Referendum fest und wandte sich an die Briten:
O-Ton 5 - David Cameron (Übersetzer 1):
Die Entscheidung liegt jetzt in Ihren Händen, aber meine Empfehlung ist klar. Ich
glaube, dass Großbritannien in einer reformierten Europäischen Union sicherer,
stärker und besser dran ist.
Autor:
Camerons Hoffnung: Mit einem Ja des britischen Volkes zur EU den ewigen Streit
über Europa, vor allem in seiner eigenen Partei, endlich zu beenden. Diese Hoffnung
könnte trügen. Der erbitterte Kampf um die Stimmen der Bürger hat die Gräben
zwischen den Tories noch weiter aufgerissen. Sein schärfster Gegner kommt aus der
eigenen Partei: Boris Johnson, der populäre Londoner Ex-Bürgermeister, der sich in
der Kampagne vor dem Referendum bereits für die Nachfolge Camerons warm läuft:
O-Ton 6 - Boris Johnson (Übersetzer 3):
Auf den Räucherlachs-Packungen in den Supermärkten muss auf Anweisung der EU
der Hinweis stehen: „Kann Fisch enthalten“. Brauchen wir für diesen Hinweis wirklich
die EU? Vielleicht sollte man vor dem Hauptquartier der EU in Brüssel ein Schild
aufstellen: „Kann taube Nüsse enthalten“.
Musik 3: Dudelsack (blenden / unterlegen bis zur nächsten ATMO)
3
Autorin 1:
Schon als kleiner Junge war Neil MacPhail ein begeisterter Dudelsackspieler, heute
tritt er ab und zu bei Hochzeiten sowie in Pubs auf. Der Dudelsack ist aber nicht nur
seine Passion, sondern auch seine Profession geworden: Der 25-Jährige arbeitet bei
„Bagpipes Galore“. Diese Firma baut Dudelsäcke – und verkauft sie in einem
Geschäft im Zentrum Edinburghs, aber auch über das Internet. Die Kunden, erzählt
Neil, kommen aus allen Teilen Europas:
O-Ton 7 - Neil MacPhail (ohne Übersetzung):
We send bagpipes to France and all over Europe and we have customers from all
over Europe. So from a business point of view, I don’t think it would really benefit us
from leaving the EU at all.
Autorin 1:
Neil sieht deshalb keinen Vorteil darin, die EU zu verlassen – und wird am 23. Juni
sein Kreuz bei „Remain“ machen. So wie viele seiner Landsleute: Bis zu 60 Prozent
der Schotten wollen – laut Umfragen – gegen einen Brexit stimmen.
ATMO 1: Edinburgh Central
Autorin 1:
Auch Rentner Donald, der in Edinburgh in einer Einfamilienhaus-Siedlung wohnt,
meint: Jobs und Fördergelder hingen davon ab, alles spreche also für die EU – noch
dazu fühle er sich, wie viele Schotten, als echter Europäer:
O-Ton 8 - Donald (ohne Übersetzung):
I want to stay. The number of jobs and the amount of money involved. And I’m a
European, I think most Scots are. I hope they are!
ATMO 2: Princess Street
Autorin 1:
Auf der Einkaufsstraße Princess Street sind sich die Passanten ebenfalls weitgehend
einig: Das Vereinigte Königreich sollte in der EU bleiben, sagt (...) Studentin Aiona,
die einen Austritt als Rückschritt empfände:
O-Ton 9 - Aiona (ohne Übersetzung):
I think it would be a step backwards – more or less – if we left.
Autorin 1:
Aus der EU raus wollten doch vor allem die Konservativen – und von denen gebe es
nun mal nicht so viele in Schottland, sagt die 24-Jährige:
O-Ton 10 - Aiona (ohne Übersetzung):
Wanting to leave the EU is probably more associated with Conservatives, and people
in Scotland are not conservative – well, very little.
ATMO 3: Applaus SNP
4
Autorin 1:
Applaus bei vielen Wählern erntet in Schottland die Scottish National Party SNP, die
für eine linke Politik steht – mit Partei- und Regierungschefin Nicola Sturgeon an der
Spitze, die sich ganz klar pro-europäisch positioniert:
O-Ton 11 - Nicola Sturgeon (Übersetzerin 1):
Für mich sind die sozialen Errungenschaften der EU besonders wichtig: der Schutz
von Arbeitnehmern, das Recht auf Elternzeit, auf bezahlten Urlaub. Das alles ist
besser garantiert, wenn wir Teil der EU sind.
Autorin 1:
Sturgeons Vision bleibt jedoch eine unabhängige schottische Nation, verankert in der
EU. Ihre Partei strebt also weiter die Loslösung des Nordens vom Rest
Großbritanniens an. Beim Volksentscheid vor knapp zwei Jahren hat’s nicht geklappt,
aber jetzt wittert Nicola Sturgeon die Chance, ihr Ziel doch noch zu erreichen.
Nämlich dann, wenn es – gegen den erklärten Willen der Schotten – zum Brexit
käme:
O-Ton 12 - Nicola Sturgeon (ohne Übersetzung):
Then of course, I think, there would be many people in Scotland – not everybody –
who said we’ve got to protect our EU membership and looking again at
independence is a way to do that.
Autorin 1:
Um die weitere EU-Mitgliedschaft zu sichern, so SNP-Politikerin Sturgeon, würden
viele Schotten sich das mit der Unabhängigkeit dann bestimmt noch mal überlegen.
ATMO 4: Glasgow
Autorin 1:
Zerstört also ein Brexit womöglich Britannien? Ein britischer EU-Abschied könnte der
Anfang vom Ende des Vereinigten Königreichs sein, der seit 300 Jahren währenden
Union zwischen England und Schottland. Eine Vernunftehe, in der die Leidenschaft
seit langem abgekühlt ist. So wie auch die Beziehung zwischen Großbritannien und
der EU – von Anfang an – selten spannungsfrei war.
Musik 4: Europahymne (instrumental)
Autor:
19. September 1946: Europa lag noch in Trümmern, als der britische Premier
Winston Churchill einer Einladung an die Universität Zürich folgte und dort seine
Vision von der Zukunft Europas vorstellte.
O-Ton 13 - Winston Churchill (Übersetzer 1):
Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.
Autor:
Das war die Lehre, die Churchill aus zwei schrecklichen Weltkriegen zog, sein
Rezept für eine friedliche Zukunft Europas. Aber wo sah Churchill sein eigenes Land
in diesem Prozess?
5
O-Ton 14 - Winston Churchill (Übersetzer 1):
Bei all diesen dringenden Aufgaben müssen Frankreich und Deutschland zusammen
die Führung übernehmen, Großbritannien, das britische Commonwealth, das
mächtige Amerika, und so hoffe ich wenigstens, Sowjetrussland sollen die Freunde
und Förderer des neuen Europa sein, und dessen Recht beschützen, zu leben und
zu leuchten.
Autor:
Churchills Idee der Vereinigten Staaten von Europa war revolutionär, doch für sein
eigenes Land hatte der Sieger des Zweiten Weltkriegs darin keinen Platz
vorgesehen.
Als 1950 sechs kontinentaleuropäische Staaten die Montanunion, die Urzelle der EU,
gründeten, waren die Briten nicht dabei.
O-Ton 15 - Wochenschau:
Schuman-Plan
Autor:
Großbritannien war auch nicht dabei, als die sechs Montanstaaten 1957 die
Römischen Verträge unterschrieben und die EWG, die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft, gründeten. Als die EWG auf dem Kontinent einen
Wirtschaftsaufschwung auslöste und die britische Wirtschaft stagnierte, schaltete
Premierminister Harold Macmillan um, wollte nun doch Mitglied werden. Doch jetzt
stellte sich der französische Präsident Charles de Gaulle quer. Er fand, dass die
Briten nicht zu Europa passten.
Erst George Pompidou löste die französische Blockade auf. Großbritannien wurde
1973 Mitglied der EWG. Zwei Jahre später ließ Premierminister Harold Wilson,
dessen Labour Party das Land lieber draußen gehalten hätte, die Briten über die
Mitgliedschaft abstimmen. Dieses Referendum Nummer Eins im Jahr 1975 zeigt
erstaunliche Parallelen zum Referendum Nummer Zwei im Jahr 2016. Wilson hatte
den Briten versprochen, die Verträge mit Brüssel nach zu verhandeln. Helmut
Schmidt, damals Bundeskanzler, erinnerte sich später in der BBC an ein Treffen mit
Wilson:
O-Ton 16 - Helmut Schmidt (Übersetzer 3):
Wir mussten ihm ein paar Zugeständnisse machen, damit er diese als Erfolg
verkaufen konnte, um Großbritannien in der Gemeinschaft zu halten.
Autor:
1975 funktionierte die Strategie: die Briten stimmten mit Zweidrittel-Mehrheit, mit 67
zu 33 Prozent, für den Verbleib in der Gemeinschaft.
Margaret Thatcher hatte in der Referendumskampagne für den Verbleib in der EU
gekämpft. Als Premierministerin trat die Konservative dann als beinharte Vertreterin
nationaler britischer Interessen auf und versuchte, die stärkere politische Integration
Europas zu verhindern:
6
O-Ton 17 - Margaret Thatcher (Übersetzerin 2):
Der Präsident der Europäischen Kommission, Herr Delors, sagte gestern auf einer
Pressekonferenz, er wolle das europäische Parlament zum demokratischen Organ
der Gemeinschaft machen, die Kommission zur Exekutive und den Ministerrat zum
Senat. Ich sage dazu: Nein, Nein, Nein.
Autor:
Den Hardlinern bei den Konservativen reichte das nicht – Thatcher stürzte am Ende
genauso über die EU-Gegner in ihrer Partei wie ihr Nachfolger John Major. Und so
war der Weg frei für die europafreundlicher gewordene Labour Party und Tony Blair.
Er öffnete 2004 sofort die Tore, als nach der Osterweiterung der EU die Freizügigkeit
der Arbeitnehmer auch für Polen galt. Während Deutschland damals mit einer
siebenjährigen Übergangsphase die Tür noch halb geschlossen hielt.
O-Ton 18 - Tony Blair (Übersetzer):
Persönlich glaube ich nicht, dass wir darunter gelitten haben. Ganz im Gegenteil: sie
sind gekommen, um in diesem Land hart zu arbeiten.
Autor:
So Tony Blair später. Es gab allerdings ein Problem: Seine Regierung hatte damit
gerechnet, dass im ersten Jahr nur etwa 13.000 Polen kommen würden. Stattdessen
kamen mehr als 100.000.
Atmo 5: Viehauktion
Autorin 2:
Die unkontrollierte Einwanderung aus anderen EU-Ländern – das ist eins der
wichtigsten Argumente für die meisten Briten, die raus wollen, aus der EU. Boris
Johnson, der Brexit-Kämpfer mit der größten Begabung zur Volksnähe, ist heute bei
einer Viehauktion und predigt auch hier: Großbritannien müsse seine Grenzen
wieder selbst kontrollieren:
O-Ton 19 - Boris Johnson (Übersetzer 2):
Unsere Einwanderungspolitik ist völlig außer Kontrolle geraten. 184.000 Menschen
kamen vergangenes Jahr, eine ganze Stadt so groß wie Newcastle. Wir müssen
zusehen, dass der Druck auf den Gesundheitsdienst, den Wohnungsmarkt und die
Schulen abnimmt.
Autorin 2:
Zur großen Freude der Bauern auf dem Viehmarkt in Yorkshire, versteigert Johnson
auch gleich selbst eine Kuh:
O-Ton 20 - Boris Johnson (ohne Übersetzung):
Nine-hundred-sixty pounds for this beautiful… What is she? A Milker, a cow.
Beautiful. There she is sold!
Autorin 2:
Für die Landwirte, die Boris Johnson beklatschen, sind Zuwanderer allerdings nicht
das größte Problem, sie sind im Zweifel sogar eher willige und billige Erntehelfer. Die
Bauern ärgern sich über niedrige Preise und die EU-Subventionspolitik, so wie Carl:
7
O-Ton 21 - Landwirt Carl (Übersetzer 3):
Der Landwirtschaft geht es nicht gut. Die Pacht ist zu teuer. Die Brexit-Gegner sagen
zwar, wir müssten höhere Zölle zahlen, wenn wir austreten, denn wir exportieren viel.
Aber vermutlich ist das nur Angstmacherei.
Atmo 6: Strand
Autorin 2:
Ähnlich sehen das die Fischer in Cornwall. Fischer David repariert im Hafen von St.
Ives sein Boot und schimpft über die Deckelung der Fangquoten durch Brüssel:
O-Ton 22 - Fischer David (Übersetzer 1):
Unsere Fische werden jetzt von den größeren europäischen Schiffen gefangen. Hier
ist kein Fischer für die EU.
Autorin 2:
Cornwall und Yorkshire sind zwei typische EU-kritische Landesteile: Sie gehören zu
England, sind ländlich geprägt und wirtschaftlich abgehängt. Auf der Landkarte des
Euroskeptizismus – entwickelt vom Meinungsforschungsinstitut YouGov – sind die
beiden Regionen rötlich schraffiert, also anti-EU. England ist überwiegend rot,
während Grünschattierungen Wales im Westen und Schottland im Norden als EUfreundlich ausweisen. Viel Grün findet sich auch in London, in der multikulturellen
britischen Hauptstadt.
Städter sind eher pro EU als Landbewohner. Junge und gebildete Menschen mit
höherem Einkommen sind eher pro EU als ältere, weniger gebildete und ärmere
Menschen. Besonders EU-freundlich sind Uni-Städte, wegen der jüngeren
Altersstruktur. Doch wenn sie den Brexit verhindern wollen, müssen die Jungen auch
zur Wahl gehen. Meinungsforscher Peter Kellner meint, die Wahlbeteiligung beim
Referendum könnte entscheidend sein:
O-Ton 23 - Peter Kellner (Übersetzer 3):
Die über 60-Jährigen gehen mit größerer Wahrscheinlichkeit zur Wahl als die unter
30-Jährigen. Bei geringer Wahlbeteiligung, wenn die Jungen zu Hause bleiben, wird
der Brexit wahrscheinlicher.
Autorin 2:
Eine Beteiligung von mindestens 65 % würde den EU-Befürwortern helfen. Vor dem
Ende der Registrierungsfrist für die Wählerlisten, war Anfang Juni an den Unis noch
einmal heftig geworben worden. Die zweite Klientel, bei der es ein
Mobilisierungsproblem geben könnte, sind Labour-Wähler. Die Anhänger der
Arbeiterpartei stellen die zuverlässigste Gruppe der EU-Befürworter dar, doch ihr
Parteichef Jeremy Corbyn wirkte während der Kampagne ziemlich leidenschaftslos.
Und so könnte es auch entscheidend sein, ob sich die Labour-Wähler aufraffen, ihre
Stimme abzugeben.
Atmo 7: Dyson Staubsauger
8
Autorin 1:
Es gibt sie: Britische Unternehmer, die für einen Brexit sind. So wie James Dyson,
der Erfinder des beutellosen Staubsaugers. Und Tim Martin, der Eigentümer der
Pub-Kette Weatherspoon‘s. Und Emma Pullen, die Chefin der British Hovercraft
Company, die im Südosten Englands Luftkissenboote herstellt:
O-Ton 24 - Emma Pullen (Übersetzerin 1):
Wir sind die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Warum sollten wir nicht allein
klarkommen? Ich verstehe das nicht. Wir hatten über Jahrhunderte ein
Handelsimperium, das die ganze Welt umspannte. Wir fertigen hier von Hand, und
unsere Kunden schätzen die britische Qualität.
Atmo 8: Hovercraft
Autorin 1:
Emma Pullen klagt über zu viel Bürokratie und zu viel Regulierung aus Brüssel. Sie
gehört jedoch einer Minderheit in der britischen Unternehmer- und Managerschar an.
In Umfragen der großen Wirtschaftsverbände sagen deren Mitgliedsfirmen ganz
überwiegend: Ein Brexit wäre schlecht fürs Geschäft, weil gerade der EUBinnenmarkt viele Vorteile biete, erklärt Andy Bagnall, Kampagnenchef beim
britischen Industrieverband CBI:
O-Ton 25 - Andy Bagnall (ohne Übersetzung):
That single market – both in and of itself – but also what it means for investment and
for trade more widely, is the single biggest benefit that our members identify.
Autorin 1:
Ungehinderter Zugang zu einem Markt mit 500 Millionen Verbrauchern, grenzenloser
Handel, ausländische Direktinvestitionen: ein riesiges Plus für britische
Unternehmen, so Bagnall. Jede Alternative zur EU-Mitgliedschaft, sagt er, wäre
schlechter – ob Großbritannien sich nun zu Norwegen in den Europäischen
Wirtschaftsraum gesellen oder ein eigenes Handelsabkommen mit der EU schließen
würde:
O-Ton 26 - Andy Bagnall (ohne Übersetzung):
Whether it’s membership of the European Economic Area or just a straightforward
free trade agreement, would mean less access and less influence overall.
Atmo 9: BMW
Autorin 1:
Autos der Marken BMW, Mini und Rolls-Royce rollen auch in Großbritannien vom
Band; die hiesigen Werke seien ein wichtiges Glied in der europäischen Lieferkette
des Konzerns, sagt Ian Robertson. Er ist der einzige Brite im Vorstand des
bayerischen Autobauers. BMW habe hier investiert, weil innerhalb der EU der freie
Austausch gewährleistet sei – von Komponenten, von ganzen Autos und nicht zuletzt
von Arbeitskräften:
9
O-Ton 27 - Ian Robertson (ohne Übersetzung):
We’ve invested here because we enjoy that free movement of components, of cars
and of people within the European Union.
Autorin 1:
Die Vorteile der EU und die Nachteile bei einem Brexit hat er auch in einem Brief an
alle BMW-Mitarbeiter in Großbritannien erläutert. Wenn britische Hersteller weiter
ihre Autos in der EU verkaufen wollten, müssten sie eh alle Vorgaben einhalten, so
Robertson – ob das Land nun drinnen oder draußen sei:
O-Ton 28 - Ian Robertson (ohne Übersetzung):
Any rules that are made within the EU will apply whether Britain is in or out. I think it’s
really good that Britain is at the table.
Autorin 1:
Da sei es doch besser, meint der BMW-Mann, selbst mit am Tisch zu sitzen, wenn
die Regeln gemacht werden. Zumal fast die Hälfte der britischen Ausfuhren in andere
EU-Staaten geht: von Autos über Medikamente bis zu schottischem Whisky.
Atmo 10: Whisky
Autorin 1:
Kein Wunder, dass unter anderem US-Präsident Barack Obama, der Internationale
Währungsfonds und die Bank of England vor den wirtschaftlichen Risiken und
Nebenwirkungen eines EU-Austritts warnen. Der britische Finanzminister George
Osborne – plötzlich großer EU-Freund – prophezeit, das Land werde nach einem
Brexit in eine wirtschaftliche Schockstarre verfallen:
O-Ton 29 - George Osborne (ohne Übersetzung):
The economy shrinks, the value of the pound falls, inflation rises, unemployment
rises, real wages are hit, so too are house prices.
Autorin 1:
Die Wirtschaft werde schrumpfen, der Pfund-Kurs fallen, Inflation und Arbeitslosigkeit
würden steigen, Reallöhne und Hauspreise sinken, so Osborne. Alles
Angstmacherei, entgegnen die Brexit-Befürworter. John van Reenen aber, Professor
an der London School of Economics, ist überzeugt, der Schaden wäre groß – für
jede Familie, jeden Haushalt:
O-Ton 30 - John van Reenen (Übersetzer 1):
Es gibt einen Konsens unter Ökonomen, dass wirtschaftlich sehr viel dafür spricht, in
der EU zu bleiben. Bei einem Ausstieg könnte die Wirtschaftsleistung langfristig um
sechs oder sogar neun Prozent geringer ausfallen. Die Kosten wären also
mindestens so hoch – wenn nicht höher – wie die einer globalen Finanzkrise.
Atmo 11: Bank-Handelsraum
Autorin 1:
Auch die City of London fürchtet den Brexit: Die dort ansässigen Banken und
Versicherungen – britische, deutsche, US-amerikanische – sorgen sich, dass
10
Investoren und Kapital von der Insel auf den Kontinent abwandern. (...) Inga Beale,
die den Versicherer Lloyd‘s of London führt, sieht der Abstimmung gespannt
entgegen:
O-Ton 31 - Inga Beale (Übersetzerin 2):
Ein EU-Abschied wäre eine fundamentale Bedrohung für unseren Markt. Wir haben
natürlich Notfallpläne, sollten sich die Wähler so entscheiden. Aber es ist wirklich ein
ernsthaftes Risiko für unser Geschäft.
Autorin 1:
Die Finanzindustrie macht rund zehn Prozent der britischen Wirtschaftsleistung aus.
Die Welt des großen Geldes ist jedoch nicht unisono für einen Verbleib in der EU: Im
noblen Londoner Stadtteil Mayfair sind viele Hedgefonds angesiedelt. Und von
denen spekuliert so mancher – im Falle eines Brexit – auf weniger Regulierung und
mehr Profit.
Atmo 12: Münzen oder Geldscheine
O-Ton 32 - Jingle BBC
Autorin 2:
Wenn sich das Brexit-Lager durchsetzt, wäre das die Nachrichtenschlagzeile am
Freitagmorgen nach dem Referendum: Großbritannien wird die Europäische Union
verlassen. Was dann formal passieren wird, hat Premierminister Cameron im
Parlament schon einmal dargelegt:
O-Ton 33 - David Cameron (Übersetzer 2):
Artikel 50 der Verträge regelt den Ausstieg eines Landes. Wir hätten zwei Jahre Zeit,
unser Verhältnis zur EU neu auszuhandeln, danach wären wir automatisch raus. Ich
betone, dass dies ein Prozess für den Ausstieg ist und nicht für einen Wiedereinstieg
unter besseren Bedingungen.
Autorin 2:
Cameron hat immer wieder erklärt, er werde im Brexit-Fall den Austrittsprozess
begleiten, den Willen der britischen Bürger umsetzen. Einen Grund zum Rücktritt
sähe er nicht:
O-Ton 34 - David Cameron (ohne Übersetzung)
Autorin 2:
Die Zuversicht, dass Cameron sich trotz Brexit halten könnte, teilen indes nicht viele.
Kenneth Clarke, Urgestein der britischen Konservativen und pro EU, meint, Cameron
wäre innerhalb von 30 Sekunden weg, und für die Partei werde es ein Höllenjob, sich
wieder zu einen:
O-Ton 35 - Ken Clarke (ohne Übersetzung / Stimme oben)
Autorin 2:
Und Meinungsforscher Peter Kellner vermutet, dass Cameron vielleicht sogar seinen
Hut nehmen müsste, wenn die Briten in der EU bleiben wollten:
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O-Ton 36 - Peter Kellner (Übersetzer 2):
Ich glaube diese Geschichten nicht, dass Cameron nach dem Referendum die
Scherben aufkehrt. Er wird im Brexitfall schnell zurücktreten. Gewinnt er das
Referendum, wird er bleiben wollen, aber viel hängt davon ab, wie vergiftet die
Atmosphäre in der konservativen Partei dann ist.
Autorin 2:
Neben den innenpolitischen Folgen und der Frage, welchen künftigen
Wirtschaftsdeal Großbritannien mit seinen ehemaligen EU-Partnern aushandeln
kann, würde der Brexit aber auch andere Länder in der EU treffen. In erster Linie die
Iren. Sie sind der einzige europäische Nachbar mit einer Landgrenze zu
Großbritannien. Dass die Wachtürme an der Grenze zwischen der Irischen Republik
und dem britischen Nordirland nach dem Karfreitags-Abkommen fielen, war nach
dem Bürgerkrieg ein wichtiger Schritt zu Frieden und Stabilität in der Region. 24.000
Menschen pendeln täglich über die mittlerweile unsichtbare Grenze, Waren im
Milliardenwert werden im- und exportiert. Daniel Mulhall, irischer Botschafter in
London hofft, dass das so bleiben wird:
O-Ton 37 - Daniel Mulhall (auf Deutsch):
Wir haben gute Beziehungen zwischen Nord und Süd in Irland. Und wir hoffen
wirklich, dass die Briten in der EU bleiben, weil das eine bessere Zukunft für Irland
und Nordirland wäre.
Autorin 2:
Großbritannien war in der EU selten ein einfacher Partner, immer wieder düpierten
Premierminister Cameron und seine Vorgänger in Brüssel ihre europäischen
Kollegen mit Sonderwünschen. Die Briten blieben beim Euro und beim SchengenAbkommen außen vor, beim Abbau der Grenzkontrollen. Dennoch: Eine EU ohne
Briten hätte weniger Gewicht. Große Sorge herrscht in Brüssel auch, dass ein (...)
Austritt Schule machen könnte. Die rechtspopulistische Marine Le Pen hat in
Frankreich schon den Frexit ins Gespräch gebracht, ein EU-Referendum für die
Franzosen. Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hofft auf ein
britisches Ja zum Club:
O-Ton 38 - Angela Merkel:
Ich hab schon mehrfach gesagt, ich persönlich wünsche mir, dass Großbritannien
Teil der Europäischen Union bleibt. Weil wir gut mit Großbritannien
zusammenarbeiten, insbesondere dann, wenn sich die Europäische Union neue
Regeln gibt. Um jetzt aber kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die
Menschen in Großbritannien entscheiden.
Jingle Collage Werbespots:
Vote leave / Vote Remain…
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