Generalvikar Prof. Dr. Gerhard Stanke, Fulda Kath. Morgenfeier in hr2 am 19.06.2016 Ein grenzenlos Liebender „Die Stachelschweine“ ist ein Text des Philosophen Arthur Schopenhauer überschrieben. Er lautet: „Eine Gesellschaft Stachelschweine drängt sich, an einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um, durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wenn nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher brachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so dass sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.“ Soweit der Text Schopenhauers. Es geht also um das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz. Nähe tut gut, kann aber auch manchmal einengen und bedrängen. Distanz schafft Spiel- und Handlungsraum, kann aber auch einsam und isoliert machen. Das richtige Maß von Nähe und Distanz lässt sich natürlich nicht ein für alle Mal festlegen, sondern muss immer wieder neu ins Gleichgewicht gebracht werden. Es verändert sich nach und nach in die eine und dann in die andere Richtung. Dieses Verhältnis von Nähe und Distanz – Wenn ich meine Beziehungen zu meinen Mitmenschen unter dieser Rücksicht einmal bedenken: Wo wünsche ich mir mehr Nähe und wo mehr Distanz? Musik 1: Felix Mendelssohn Bartholdy, „Kyrie eleison“ aus der Deutschen Liturgie, Regensburger Domspatzen, Dauer: 01´06´´ Vor einiger Zeit fand ich eine andere Darstellung der zwischenmenschlichen Beziehung: Es sind Gedanken von Wilhelm Korff, früher Professor für Sozialethik in München, die mich sehr angesprochen haben. Er schreibt, dass unsere Beziehung zu den Mitmenschen in dreifacher Weise geprägt ist. Zum einen meint er: In manchen Situationen nutzen wir unsere Mitmenschen bzw. ihre Kenntnisse und Erfahrungen für unsere eigenen Zwecke. So, wenn ich zum Arzt gehe, um mir helfen zu lassen, oder einen Handwerker bestelle, damit er eine Reparatur vornimmt. Ich nutze in diesen Fällen den anderen für meine Ziele. Die zweite Form: Wir begegnen manchmal anderen als Konkurrenten, mit denen wir unsere Kräfte messen. So ist es zum Beispiel im Sport, zurzeit bei der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich. Auf dem Spielfeld sind jeweils zwei Mannschaften Konkurrenten. Beide wollen gewinnen und eine Runde weiterkommen. Der Wettbewerb spielt in vielen Bereichen eine Rolle, zum Beispiel auch in der Wirtschaft. Und dann gibt es auch als dritte Form: die fürsorgliche Beziehung, wie Korff sie nennt. Ein Kind, das schreit, weckt Aufmerksamkeit und Fürsorge. Vielleicht hat es Schmerzen, Hunger oder ein anderes Bedürfnis. Wenn ich einen Menschen sehe, der Hilfe braucht, dann spüre ich den Impuls, ihm zu helfen, wenn ich kann. Korff unterscheidet diese drei Formen der Beziehung: den Mitmenschen nutzen für eigene Zwecke; den Menschen als Konkurrenten sehen; Menschen in Situationen zu begegnen, in denen es uns drängt, ihnen zu helfen und für sie zu sorgen. Die Überlegungen Korffs sind die für mich einleuchtend. Das Interessante dabei ist seine Aussage, dass die drei Formen in jeder Beziehung eine Rolle spielen. Die eine überwiegt, aber die anderen beiden haben dabei auch eine Bedeutung. So, wenn ich das Können eines anderen für meine Zwecke nutze. Darin, dass ich den Arzt, dessen Leistung ich in Anspruch nehme, dafür bezahle, kommt der konkurrierende Aspekt zum Ausdruck. Der andere hat auch etwas davon, wenn er sein Können zu meinem Nutzen anwendet. Ich nutze ihn nicht aus. Wenn ich an die Ausbeutung denke, die in manchen Ländern in der Arbeitswelt Gang und Gäbe ist, zeigt sich deutlich, wie wichtig das konkurrierende und auch das fürsorgliche Element jeweils ist. Musik 2 Felix Mendelssohn Bartholdy, „Morgengebet“, Regensburger Domspatzen, Dauer: 02´22´´ Wie ist es im Wettkampf? Auch hier nützt mir der Konkurrent Ich habe etwas von ihm. Er provoziert meine Kreativität und Leistungsbereitschaft. Konkurrenz belebt das Geschäft, so sagen wir salopp und meinen, dass der Konkurrenzkampf auch zu neuen Erkenntnissen und Ergebnissen führen kann. Und das fürsorgliche Element zeigt sich dabei in der Fairness. Sie soll unlauteren Wettbewerb verhindern oder den fairen Wettkampf zum Beispiel im Sport ermöglichen. Die Versuchung, sich im Sport durch Doping oder Bestechung einen Vorteil zu verschaffen, verzerrt den fairen Wettkampf. Dieser, mit fairen Mitteln ausgetragen, bringt Spannung und Unterhaltung, weckt Leidenschaft und Begeisterung. Bei einem fairen Wettkampf haben beide Seiten etwas davon. So schaue auch ich mir gerne einige Fußballspiele im Fernsehen anschauen. Und wie ist es mit der Hilfsbereitschaft? Spielen da die Konkurrenz oder der eigene Nutzen auch eine Rolle? Ich glaube schon. Wenn ich helfe, habe ich das Gefühl, etwas Gutes und Sinnvolles zu tun, in dem ich einem Menschen eine Freude bereite. Das schenkt mir eine innere Befriedigung. Manche unterstellen denen, die helfen, dass sie das nur tun, um ihr Gewissen zu beruhigen. So weit gehe ich nicht. Es gibt auch eine absichtslose Bereitschaft zu helfen. Und es ist eine schöne Zugabe, wenn ich merke, dass sich der andere darüber freut. Das tut mir auch gut. 2 Es kann aber auch in der fürsorglichen Beziehung sein, dass wir uns abgrenzen müssen. Besonders dann, wenn wir den Eindruck haben, der andere will uns vereinnahmen oder Macht über uns ausüben oder uns ein schlechtes Gewissen machen, wenn wir seine Erwartungen nicht erfüllen. Dann dürfen wir nicht nur, sondern müssen uns sogar abgrenzen. Musik 3 Anton Bruckner, „Os justi“, Eichstätter Domchor, Dauer: 03´28´´ Nach Wilhelm Korff ist unser Verhalten zu den Mitmenschen durch drei Dimensionen bestimmt, die immer zusammenspielen, wobei aber eine der drei meistens dominant ist. Als Theologe frage ich mich: Lassen sich diese Dimensionen auch im Verhalten Jesu wiederfinden? In dem Abschnitt aus dem Lukasevangelium, der in den katholischen Gottesdienst an diesem Sonntag vorgelesen wird, fragt Jesus seine Apostel: Für wen halten mich die Leute? Sie geben zur Antwort: Für einen Propheten, zum Beispiel Johannes den Täufer, Elias oder einen anderen Propheten. Dann fragt Jesus: Für wen haltet ihr mich? Darauf antwortet Petrus in einem Satz: Du bist der Messias. Damit wollte er sagen: Du bist nicht nur ein Prophet, sondern der, auf den sich alle Hoffnungen im Volk Israel richten, nämlich der Erlöser, der Befreier aus der Abhängigkeit von den Römern. Aber auch der, der alle Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen wird. Alle, die Unrecht tun, ziehst du zur Rechenschaft und stellst Gerechtigkeit und Friede im Volk wieder her. Jedenfalls bist du der, der Macht hat und sie einsetzt gegen Gewalt und Unterdrückung und für das Leben nach den Geboten Gottes. Jesus stimmt der Aussage des Petrus zu. Aber er verbietet den Aposteln, das über ihn weiterzusagen, und ergänzt, dass er leiden wird, dass er verurteilt und hingerichtet, dann aber auferstehen wird. Seine Macht wird sich also nicht so äußern, wie es die Apostel erwarten, sondern er muss erst durch ein tiefes Tal, durch den Tod hindurchgehen, bevor seine Macht ganz offenbar wird. Jesus hat Macht und setzt sie ein. Das erfahren viele, die ihm begegnen und ihn um Hilfe bitten. Jesus hat die fürsorgliche Dimension mit aller Konsequenz gelebt. Dieser Gedanke ist uns vertraut. Besonders provozierend war, dass Jesus zu den Sündern und Zöllnern gegangen ist, also zu Menschen, die im Volk regelrecht verachtet wurden, und mit ihnen gegessen und getrunken hat. Deshalb haben ihn seine Gegner als Freund der Sünder und Zöllner und als Fresser und Säufer bezeichnet (Mt 11,19). Jesus hat es in Kauf genommen, dass er missverstanden wurde. Er wollte allen, besonders den Verachteten als auch denen, die Unrecht getan haben, zeigen, dass er sich nicht von ihnen abgrenzt. Er suchte ihre Nähe, damit sie in der Begegnung mit ihm die Kraft finden, ihr Leben zu ändern. Und diese Nähe war bestimmt von seiner Sorge um sie. Musik 4 Felix Mendelssohn Bartholdy, „Denn er hat seinen Engeln“, Eichstätter Domchor, Dauer: 03´17´´ Hat Jesus für sich etwas erwartet? Es heißt einmal: Jesus hat über Jerusalem geweint, weil die Menschen seine Botschaft nicht annahmen, sondern ablehnten (vgl. Lk 19,41). An einer 3 anderen Stelle sagt er: Im Himmel freut man sich, wenn Menschen umkehren und neu anfangen (vgl. Lk 15,7). Das heißt: Jesus hat sich sicher gefreut, wenn er erlebte, dass sich die Menschen von seiner Botschaft anstecken ließen und ihr Leben veränderten. Auf diese Weise hat er ja auch den Auftrag seines Vaters erfüllt. Es hat Jesus sicher gut getan, wenn er Menschen helfen konnte und diese darin die Liebe und Sorge Gottes erkannten. Er macht sich aber nicht abhängig davon, was die Menschen denken. Er geht seinen Weg. Er hört auf das, was der Vater ihm zu sagen hat. Ihm ist es wichtig, den Auftrag seines Vaters zu erfüllen. Als Petrus ihn davon abhalten will, sagt er zu ihm: Hinter mich, Satan. Du denkst nicht, was Gott will, sondern was die Menschen wollen (vgl. Mk 8,33). Und als sich viele mit dem, was er sagt, schwer tun und ihn verlassen, fragt er seine Apostel: „Wollt auch ihr weggehen?“ – Aber sie bleiben alle bei ihm (vgl. Jo 6,67). In Jesus ist die fürsorgliche Liebe Gottes mit allem, was dazugehört, offenbar geworden. So hat er am Kreuz noch für die gebetet, die ihn kreuzigten. Da kam seine Liebe zum Vorschein, die alle Maßstäbe sprengt. Eine Liebe, ohne Wenn und Aber. Die grenzenlose Liebe Gottes. Aber durch ihn wird auch deutlich: Gott wünscht sich, von uns Menschen geliebt zu werden. Es ist ihm nicht gleichgültig, wie wir reagieren. Er braucht unsere Liebe nicht zu seinem Glück, freut sich jedoch, wenn wir ihn wieder lieben. Gott zwingt uns nicht, sondern lässt uns die Freiheit, ihn zu lieben oder nicht. Er lässt sich auch nicht durch uns Menschen vereinnahmen. Er ist und bleibt der, der er ist: ein grenzenlos Liebender. Und: Er hat sogar zugelassen, dass die Menschen seinen Sohn um dieser Liebe willen kreuzigten. Eine größere Liebe gibt es nicht. Musik 5 Maurice Duruflé, „Ubi caritas et amor“, Eichstätter Domchor, Dauer: 02´08´´ 4
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