PDF-Download - Katholische Kirche beim hr

Gemeindereferentin Bettina Pawlik, Kelkheim
hr4-Übrigens am Sonntag, 12. Juni 2016
Kunst aufräumen
In der Mittagspause gehe ich gerne mal zum alten Rathaus. Da ist eine
Buchhandlung. Denn ich stöbere gar zu gerne in den Büchern, lese mal hier, mal da,
finde immer wieder etwas Neues. Plötzlich entdecke ich ein kleines quadratisches
Buch. Der Titel macht mich neugierig. „Kunst aufräumen“ steht da. Verblüfft sehe ich
einige sehr bekannte Bilder – und auf den Seiten gegenüber dieselben Bilder - aber
aufgeräumt. Zum Beispiel ein Bild von Vincent van Gogh. Schlafzimmer in Arles,
heißt es. Auf der linken Seite das Original, ein Zimmer mit Bett, Tisch und Stuhl. An
den Wänden hängen Bilder. Rechts daneben dann das gleiche Zimmer. Alle
Einrichtungsgegenstände sind auf das Bett geräumt. Auf den nächsten Seiten ein
abstraktes Bild mit vielen bunten Quadraten. Als aufgeräumtes Kunstwerk sind die
Quadrate, nach Farben sortiert, säuberlich aufgestapelt.
Aber nicht nur Bilder, sondern auch Fotos finden sich in dem Büchlein. Eine Schüssel
mit Obstsalat. Daneben die leere Schüssel, alle Obstsorten sortiert und säuberlich
nebeneinander gelegt. Oder ein Parkplatz von oben. Alle Autos sind nach Farben
und Größe sortiert dort aufgestellt.
Der Schweizer Künstler und Kabarettist Ursus Wehrli hat diese Form der Kunst
erfunden. Sie lässt mich staunen. Aber sie vermittelt auch einen ganz anderen Blick
auf Kunstwerke oder Gegenstände. Ein von Ursus Wehrli aufgeräumtes Kunstwerk
oder Objekt lässt mich noch einmal ganz anders über das ursprüngliche Bild
nachdenken. Ich sehe es jetzt mit anderen Augen an. Das geht so mit Bildern. Ob es
auch mit Menschen möglich ist? Meistens habe ich ja schon ein fertiges Bild von
meinen Mitmenschen. Ich meine, dass ich genau weiß, wie die sind.
Da fallen mir einige Geschichten aus der Bibel ein:
Jesus schaut anders auf Menschen als seine Zeitgenossen. Eine Sünderin
bezeichnet er nicht als schlechte Frau, sondern als eine, der viel vergeben worden
ist. (Lk 7,47) Und den Zöllner Zachäus nennt er nicht einen Übeltäter, sonder gibt ihm
den Ehrentitel „Sohn Abrahams“( Lk 19,9). Jesus schaut auf die Menschen und sieht
sie zuerst so, wie Gott sie gedacht hat. Ursus Wehrli räumt Kunst auf – mit
erstaunlichen Ergebnissen. Und Jesus räumt Gedanken auf und weicht vom
gewohnten Blickwinkel. Das möchte ich auch können. Denn es macht die
Begegnung mit Menschen unheimlich spannend und tut ihnen gut.