Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Wissenschafts- und Praxislabor (WiPa) am Lehrstuhl Psychologie V (Prof. Dr. K. Seitz-Stein) Diagnostik des Arbeitsgedächtnisses Erfassung des Arbeitsgedächtnisses durch Spannenmaße Untersuchung individueller Unterschiede durch Spannenaufgaben: Individuelle AG-Kapazitäten können unter Verwendung von sog. Spannenaufgaben erfasst werden. Dabei werden Serien von Items (Wörter, Ziffern etc.) dargeboten, die sich der Getestete merken muss. Die Länge der Serien wird nach und nach so lange gesteigert, bis die Sequenz nicht mehr korrekt wiedergegeben werden kann. Die individuelle Arbeitsgedächtnisspanne entspricht der maximalen Anzahl von Items, die gerade noch richtig reproduziert wurde. Spannenmaße gelten als Schätzer der maximalen Funktionstüchtigkeit des Gedächtnisses. Man unterscheidet zwischen einfachen Spannenaufgaben, für die die Fähigkeit des Behaltens von Informationen benötigt wird (z.B. Wortspanne vorwärts, s.u.) und komplexen Spannenaufgaben, bei denen zusätzlich zum Behalten eine simultane Verarbeitung von Informationen erforderlich ist (z.B. Listening Span, s.u.). Verschiedene Spannenaufgaben: • Wort- oder Ziffernspannen (vorwärts): Der Teilnehmer soll eine vorgelesene Sequenz von einsilbigen Wörtern oder Ziffern wiedergeben. • Backward Digit Span/Ziffernspanne rückwärts: Dem Getesteten werden Zahlenreihen steigender Länge vorgegeben, die er anschließend in umgekehrter Reihenfolge reproduzieren soll. • Blockspanne/Corsi Block: Auf unregelmäßig verteilten Würfeln wird eine bestimmte Reihenfolge (steigender Länge) vorgegeben, die der Teilnehmer anschließend nachtippt • Reading Span: Der Teilnehmer liest nacheinander einzelne Sätze vor, während er sich gleichzeitig das jeweils letzte Wort des Satzes merken muss, um die Wörter anschließend in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben. • Listening Span: Dem Teilnehmer werden einzelne Sätze vorgelesen, von denen er entscheiden muss, ob sie wahr oder falsch sind, während er sich das jeweils letzte Wort merken und in der richtigen Reihenfolge wiedergeben muss. • Farbspanne: Der Getestete soll eine vorgegebene Sequenz von Farben in umgekehrter Reihenfolge reproduzieren Anwendung von AG-Diagnostikinstrumenten Die Messung des Arbeitsgedächtnisses weist gegenüber der Intelligenzmessung Vorteile auf: • • • Die AG-Kapazität hat eine höhere prognostische Validität in Bezug auf schulische Leistungen als Intelligenz. Die AG-Kapazität im Alter von 5 Jahren sagt Schulleistungen 6 Jahre später besser vorher als der IQ (Alloway & Alloway, 2010) Die AG-Messung erfordert kaum Vorwissen und ist freier von sozialisationsbedingten Einflüssen, als Intelligenzmessungen und ist daher gut zur Messung fluider Fähigkeiten geeignet Durch computergestütztes Testen ist eine objektive und standardisierte Testung möglich 1 Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Wissenschafts- und Praxislabor (WiPa) am Lehrstuhl Psychologie V (Prof. Dr. K. Seitz-Stein) Andere Messverfahren neben der AGTB 1) Verfahren im deutschen Sprachraum Um den Visuell-räumlichen Skizzenblock zu erfassen, kann der Räumliche SuppressionsArbeitsgedächtnis-Test (RSAT) von Beblo, Nagel und Hartje (2012) eingesetzt werden. Dabei handelt es sich um ein computerbasiertes Verfahren, das zur Abklärung neuropsychologischer und differenzial-diagnostischer Fragestellungen konzipiert wurde (Tischler & Petermann, 2010). Theoretischer Hintergrund dieses Tests ist das Arbeitsgedächtnismodell nach Baddeley und Hitch (1974). Der RSAT besteht aus zwei Teilen, im ersten Teil kommen einfache „Block-Tapping“Aufgaben zum Einsatz bei denen der Proband eine bestimmte Reihenfolge von räumlich dargebotenen Blöcken reproduzieren soll. Im zweiten Teil, der „Suppressionsbedingung“, soll der Proband nur jeden zweiten dargebotenen Block einer Serie reproduzieren. Dies erfordert neben der Speicherung räumlicher Muster zusätzlich die Unterdrückung irrelevanter Informationen, was als Arbeitsgedächtnisfunktion betrachtet wird. Durch den sprachfreien Charakter der Aufgaben eignet sich der RSAT auch für die Anwendung bei aphasischen Patienten oder bei Personen deren Muttersprache nicht deutsch ist. Die Split-HalfReliabilitäten für die Suppressionbedingung liegen zwischen r = .85 und r = .86, und für die Aufgaben mit einfachem Blocktapping zwischen r = .56 – r = .60 (Tischler & Petermann, 2010). Die Leistung des Arbeitsgedächtnisses kann außerdem mit dem Hamburg-WechslerIntelligenztest für Kinder - IV von Petermann und Petermann (2008), gemessen werden. Bei diesem Test handelt es sich um ein Verfahren zur Erfassung von allgemeinen und spezifischen intellektuellen Fähigkeiten von Kindern im Alter von sechs bis 16 Jahren, der auf dem Intelligenzkonzept Wechslers beruht. Von seinen 15 Subtests, eignen sich drei zur Erfassung des Arbeitsgedächtnisses. Bei dem Untertest „Zahlen Nachsprechen“ muss das Kind Zahlen vorwärts oder rückwärts nachsprechen, die Reliabilität dieses Untertests beträgt r = .84. Der Subtest „Buchstaben-Zahlen-Folgen“ fordert von dem Kind eine Abfolge von Zahlen und Buchstaben in aufsteigender Folge, bzw. in alphabetischer Reihenfolge zu wiederholen, seine Reliabilität beträgt r = .91. Bei dem Subtest „Rechnerisches Denken“ muss das Kind eine Reihe mündlich vorgegebener Rechenaufgaben im Kopf lösen, die Reliabilität dieses Tests liegt bei r =.89 (Petermann & Petermann, 2008). 2) Verfahren im englischen Sprachraum Wenn man ein Testverfahren anwenden möchte das nicht computerbasiert ist, ist die Working Memory Test Battery for Children (WMTB-C) von Pickering und Gathercole (2001) eine Alternative. Dabei handelt es sich um ein Testverfahren zur Individualdiagnostik der AG-Kapazität bei Kindern im Alter von fünf bis 15 Jahre. Es stehen neun Subtests zur Erfassung der Phonologischen Schleife, Zentralen Exekutive und des Visuell-räumlichen Skizzenblocks nach Baddeley und Hitch (1974) zur Verfügung. Zu den Gütekriterien ist anzumerken, dass die Retestreliabilität der Subtest zwischen r = .38 und .82 liegt. Die Interne Validität ist sehr hoch, da die WMTB-C der angestrebten drei Faktoren Struktur entspricht, wobei der Goodness of Fit Index bei .95 liegt. 2 Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Wissenschafts- und Praxislabor (WiPa) am Lehrstuhl Psychologie V (Prof. Dr. K. Seitz-Stein) Befunde bei Kindern mit Beeinträchtigungen Beeinträchtigung Lernstörungen Defizite • • Phonologische Schleife Visuellräumlicher Skizzenblock Befunde • • • • • • Sprachauffälligkeiten • • Phonologische Schleife Zentrale Exekutive • • • Intellektuelle Beeinträchtigungen • • ADHS • Kürzere Spanne für akustisch präsentierte Worte, Zahlen, sinnfreie Kunstwörter (Schuchardt, Mähler, & Hasselhorn, 2008) Kürzere Spanne bei Kunstwörtern (Leseprobleme) Länge von zu behaltenden Wörtern (Rechtschreibstörung) (Hasselhorn, Schuchardt & Mähler, 2010) Unterdurchschnittliche Zahlenspanne (Hitch & McAuley, 1991), jedoch nicht eindeutig AGBT 5-12: dreisilbige Wörter und Kunstwörter beeinträchtigt bei Störungen des Schriftspracherwerbs (Schuchardt, Kunze, Grube, & Hasselhorn, 2006) AGTB 5-12: Matrix-Aufgabe und CorsiBlock- Aufgaben beeinträchtigt bei Rechenstörungen Auffälligkeiten z. B. beim Bilden von Reimen, Segmentieren von Silben (Nobis & Schuchardt, 2011) Mögliche Folge: Probleme beim Erlernen von Lesen und Schreiben Listening span, Counting span und Ziffernrückwärtsspanne unterhalb der Altersnorm (Archibald & Gathercole, 2006a) Phonologische Schleife Zentrale Exekutive • Wort- oder Ziffernspannen altersentsprechend, jedoch Defizite im spezifischen Bereich der Speicherung (z.B. Kunstwörter nachsprechen) (Schuchardt, Gebhardt, & Mähler, 2010) Zentrale Exekutive • Beeinträchtigung: Counting Span, Farbspanne rückwärts, Komplexe Spannen, Stroop-Aufgabe Besondere Schwierigkeiten bei Inhibitionsaufgaben • 3 Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Wissenschafts- und Praxislabor (WiPa) am Lehrstuhl Psychologie V (Prof. Dr. K. Seitz-Stein) Literatur: Alloway, T.P. & Alloway, R. G. (2010). Investigating the predictive roles of working memory and IQ in academic attainment. Journal of Experimental Child Psychology, 106, 20-29. Archibald, L. M. D., & Gathercole, S. 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