Gesund bleiben ¦ UMWELTMEDIZIN Gefahr gebannt Das Wasser zu Hause ist bleifrei – Maria Huber hat es untersuchen lassen. Schuld an ihrer Bleivergi!ung waren belastetes Wasser im Büro und die Glasur einer Müslischale Nein, Sie spinnen nicht! AUFWIND Umweltkranke wurden lange als eingebildete Kranke verspottet – heute finden sie Hilfe in Unikliniken. Deren Mitarbeiter fahnden sogar in der Wohnung nach Giften V erstopfung, Darmkrämpfe, Knochenschmerzen – Anfang 2003 geht es Maria Huber gesundheitlich so schlecht, dass ihr Hausarzt sie an eine Spezialpraxis für Krebskranke überweist. Die schlanke Frau hat in einem Jahr knapp fünf Kilo Gewicht verloren, ihre Haut ist fahl, der Blutdruck niedrig. »Mir war ständig schlecht, ich konnte kaum etwas essen«, erinnert sich die Sozialpädagogin. Die Onkologen durchleuchten Huber. Aber weder Darm- und Magenspiegelung noch eine Gallen- oder Knochenuntersuchung zeigen einen verdächtigen Befund. Am Ende bringt Huber selbst die Ärzte auf die richtige Idee. Ob nicht Blei die Beschwerden auslösen könne, immerhin habe man auf ihrer Arbeitsstelle erhöhte Werte im Wasser gefunden. Tatsächlich liegt Hubers Bleiwert im Blut bei 700 Mikrogramm; ab etwa 150 Mikrogramm können Symptome auftreten. Constanze Löffler [email protected] Bleiwerte in Hubers Organismus ist eine Schale aus Griechenland, verziert mit einer bleihaltigen Glasur, aus der Huber gelegentlich Müsli oder Salat isst. Zusätzlich wurden noch Räucherstäbchen auf Blei getestet. Tatsächlich wurden bei zwei Stäbchen erhöhte Bleiwerte festgestellt. Was problematisch ist, denn beim Einatmen wird Blei am leichtesten aufgenommen. Viele Jahre bis zur Diagnose Spurensuche in der Wohnung FOTOS: GUTER RAT/WOLF HEIDER-SAWALL, PRIVAT Huber wird in die Klinik für Umweltmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München überwiesen – nur eine von mehreren klinischen Anlaufstellen für Betroffene. Mussten diese früher – meist vergeblich – von Arzt zu Arzt laufen, um schließlich bei oft fragwürdigen Heilern zu landen, finden sie heute Spezialisten in mehr als 20 Universitätskliniken und in zahlreichen Gesundheitsämtern. Bei Huber beginnen die Ärzte der LMU sofort, systematisch nach der Bleiquelle zu suchen. Sie wollen überprüfen, ob nicht doch noch andere Ursachen als das Wasser der früheren Arbeitsstelle für die Bleivergiftung infrage kommen. Die LMU-Mediziner schicken den hauseigenen Chemiker zu Huber nach Hause. Er nimmt auch dort Wasserproben, inspiziert Lebensmittel und das Essgeschirr – und wird fündig: Die Quelle für die hohen 70 Guter Rat | 6.2016 HILFE FÜR VERZWEIFELTE Nur selten fallen die Untersuchungsergebnisse in einer Umweltambulanz so eindeutig aus wie bei der Münchner Sozialpädagogin. Weitaus häufiger leiden die Menschen, die hier landen, unter unklaren Beschwerden wie Kopfschmerzen, verstopften Nasennebenhöhlen und Atembeschwerden, für die sich keine klare Ursache erkennen lässt – und verdächtigen selbst alles Mögliche als Auslöser. Bis zu 40 Prozent der Menschen vermuten dem Robert Koch-Institut (RKI) zufolge, empfindlich auf Chemikalien zu reagieren. Bei nur zwei Prozent der Bevölkerung aber diagnostizieren die Ärzte auch eine manifeste Umweltkrankheit. Drei bis zehn Jahre dauere es, bis die Patienten eine klare Diagnose haben, erklärt Professorin Claudia Traidl-Hoffmann, Chefärztin der Ambulanz für Umweltmedizin am Klinikum Augsburg. Ein langer Leidensweg für Betroffene. ” Die moderne, energiebewusste Bauweise führt zu vielen neuen Problemen. Dipl.-Ing. Christian Tegeder, Innenraum-Sachverständiger und Schimmelpilz-Experte Nur langsam nähert sich die Medizin den vielfältigen Verflechtungen zwischen Mensch, Gesundheit und Umwelt an und zieht häufiger als noch vor einem Jahrzehnt Umweltchemikalien als mögliche Krankheitsauslöser in Betracht. Ernsthafter als noch vor Jahrzehnten untersuchen jetzt viele Ärzte Patienten, die beteuern, unter Duftstoffen, Schimmelpilzen oder antimikrobiellen Substanzen in Sofas und Teppichen zu leiden. Doch es fehlen Behandlungsleitlinien, und es gibt kaum belastbare Studienergebnisse. Forschungen zu Diagnose und Therapie sind rar, denn die Pharmaindustrie kann nicht mit teuren Mitteln gegen die Beschwerden aufwarten, und finanziert unterdessen lieber Studien zu anderen Krankheitsgebieten. GENAUE ANALYSEN Traidl-Hoffmann und ihre Kollegen wollen diesen Missstand ändern. Intensiv arbeiten sie daran, die Umweltmedizin zur anerkannten wissen- Guter Rat | 6.2016 71 Gesund bleiben ¦ UMWELTMEDIZIN Ç Welche gesundheitlichen Probleme und Symptome haben Sie? Versuchen Sie, die wichtigsten Beschwerden zu erfassen, die etwa in einer früheren Wohnung niemals aufgetreten waren, zum Beispiel: plötzlich chronische Nebenhöhleninfekte. ÇWann treten Ihre Beschwerden auf? Läuft Ihre Nase nur zu Hause, und auf Reisen sind Sie plötzlich gesund? Husten Sie nur im Schlafzimmer, im Büro aber so gut wie nie? Zeitliche und räumliche Zusammenhänge zu Ihren Beschwerden sind wichtig für den Umweltmediziner zu wissen. Wenn es Ihnen stets schlechter geht, sobald Sie die eigenen vier Wände betreten, und Sie sich besser fühlen, sobald Sie das Haus verlassen, haben Sie wohl ein Innenraumproblem. Auch wenn Personen, mit denen Sie zusammenleben oder -arbeiten, ähnliche Beschwerden haben wie Sie, kann das darauf hinweisen. Ç Seit wann haben Sie die Symptome? schaftlichen Fachrichtung zu entwickeln. In einer aktuellen Studie prüfen die Augsburger Umweltmediziner beispielsweise, wie Stickoxide, Mikroben, Ozon und Pollen menschliche Zellen verändern. Ziel ist zu beweisen, dass diese Substanzen die körperlichen Funktionen tatsächlich negativ beeinflussen – und das Leid der Patienten nicht, wie oft vermutet, Einbildung ist. DICKE LUFT Wie wichtig diese Forschung ist, wird klar, wenn man mit Christian Tegeder spricht. »Bis zu 95 Prozent unseres Lebens verbringen wir in geschlossenen Räumen«, erklärt der Gutachter und TÜV-zertifizierte Sachverständige für Schimmelpilze und Schadstoffe in Innenräumen. Und das hat es in sich: Gesundheitsschädigende Chemikalien sind überall in Wohnungen und Büros verarbeitet. Regale und Schreibtische aus Spanplatten verströmen Formaldehyd, Bodenbeläge aus Kunststoff enthalten Weichmacher, Wollteppiche sind mit Insektiziden behandelt. Dazu kommen Chemiemixturen in Lacken und Farben, Holzschutzmitteln und Klebstoffen für den Fußbodenbelag. Einer neuen Studie der südenglischen Universität Surrey zufolge ist die Atemluft in vielen Häusern belasteter als draußen. Sie leiden erst neuerdings unter Sehstörungen, Atembeschwerden oder Nasenbluten? Das kann am Umzug, an der Bürorenovierung, dem Wasserschaden des Nachbarn oder an der Dämmschicht liegen, in die Ihr Haus eingepackt wurde. Haben Sie sich einen Teppich gekauft oder die Wohnung mit Holz verkleidet? Neues Sofa gegönnt? Das Kinderzimmer mit neuen Regalen bestückt? Gründe für erhöhte Schadstoffe in der Wohnung gibt es viele. HILFE Die Adressen UMWELTMEDIZIN/BERATUNG in Unikliniken und Arztpraxen: www. allum.de/service/umweltmedizi nische-beratungsstellen UMWELTBERATUNGSSTELLEN bieten Informationen zu Wohngiften: www.umweltberatung.org SCHADSTOFF-RATGEBER im Internet: www.boege-ambulanz.de/ pdf/Ratgeber_von_A-Z.pdf SCHIMMELBEFALL Fragen & Antworten: www.umweltbundesamt.de 72 Guter Rat | 6.2016 ” Drei bis zehn Jahre dauert es, bis Patienten eine klare Diagnose haben. Prof. Claudia Traidl-Hoffmann, Lehrstuhlinhaberin für Umweltmedizin an der Technischen Universität München (TUM) und Chefärztin der Ambulanz für Umweltmedizin am Klinikum Augsburg Insgesamt, so Tegeder, seien Baumaterialien zwar umweltverträglicher als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten. Dafür führt aber die moderne, energiebewusste Bauweise zu neuen Problemen: Häuser bekommen eine 20 Zentimeter dicke Dämmschicht, atmungsaktive Holzfenster werden durch luftdichte Plastikfenster ersetzt. Der natürliche Luftwechsel entfällt. Anstatt wie früher die Betten auf der Fensterbank zu lüften, verlässt die Durchschnittsfamilie heutzutage zeitig das Haus und kehrt erst zehn, zwölf Stunden später zurück. Vergisst sie, morgens und abends zu lüften, sammeln sich Feuchtigkeit und Ausdünstungen aus Möbeln, Teppichen, Wänden und Fußböden. Jeder zweite Neubau und jeder vierte Altbau sei problematisch, so der Toxikologe. Schimmelsuche Schäferhund Haakon ist einer von zwei schwedischen Schimmelspürhunden in Deutschland. Ihre Leistung erkennen sogar die Gerichte an Versteckte gefahren Nicht immer ist das Übel zu riechen oder zu sehen: 80 Prozent der Schimmelpilze verstecken sich in der Baukonstruktion, im Wandputz oder in der Estrichdämmung. Deshalb hilft Schimmelpilzspürhund Haakon Tegeder bei der Suche. »Leta!«, ruft der Innenraumexperte bei seinen Hausbesuchen, was »Such!« auf Schwedisch heißt. Der Deutsche Schäferhund wurde in Schweden ausgebildet; nirgendwo sonst in Europa gibt es so viele Holzhäuser, die auf Schimmelbefall untersucht werden. Rund 20 Minuten braucht der fünfjährige Rüde, um sich durch ein Einfamilienhaus zu schnüffeln. Seine Signale sind eindeutig: »Haakon zeigt mit der Schnauze zu Wänden, Decke oder Boden, je nachdem, wo er den Schimmel riecht«, erklärt Tegeder. An stark belasteten Stellen fange er auch an zu kratzen. Das Umweltbundesamt geht von einem kausalen Zusammenhang aus, sobald Schimmel in der Wohnung gefunden wird und der Patient Beschwerden hat. Es rät, den Schimmel und die Feuchtigkeit fachgerecht zu entfernen. Nur dann, das zeigen Studien, bessern sich Symptome wie Kopfweh, Atemnot oder wiederholte Infekte. DUFTENDE KRANKMACHER Schimmelpilze oder bleihaltiges Geschirr als Auslöser von Beschwerden lassen sich vergleichsweise leicht über Bluttests, Wasserproben, sichtbaren Pilzbefall oder den typischen Modergeruch erkennen. Schwieriger wird es, wenn Duftstoffe krank machen. Sie sind in Kosmetika und Waschmitteln genauso enthalten wie in Medikamenten, Plastik und Klebstoffen, wo sie unangenehme Gerüche maskieren. Bis zu 3 000 Aromen verarbeitet die Duftstoffindustrie; allein ein Parfüm kann 300 und mehr Duftstoffe enthalten. Zunehmend mehr Menschen aber reagieren auf Gerüche wie Zitronella, den Rosenduft Geraniol, Weihrauch oder Cumarin mit tränenden Augen, Kopfweh, Magen-Darm- und Konzentrationsstörungen. Auch Tabakrauch, Lösemittel oder Druckfarben zählen zu den geruchsintensiven Chemikalien, die die sogenannte Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) auslösen können – ein Beschwerdebild, zu dessen Ursachen und Entstehung es bisher kaum sichere Erkenntnisse gibt. hyperaktive Geruchsnerven VERSTECKT Die heimlichen Krankmacher SCHIMMEL & BAKTERIEN Sie gedeihen normalerweise erst bei zu viel Feuchtigkeit in der Innenraumluft besonders gut. Mögliche Warnzeichen für eine unerkannte mikrobielle Gefahr: ständig gerötete Augen, häufiger Husten, Nebenhöhlenprobleme, Kopfschmerzen, anhaltende Müdigkeit. FOTO: CHRISTIAN TEGEDER FRAGEN & ANTWORTEN Vor dem Arztbesuch BLEI Quellen sind Nahrungsmittel (z. B. Pilze), Bleirohre in der häuslichen Wasserinstallation, alte Linoleumböden, Anstrichfarben von Altbauten (»Bleiweiß«), schlecht belüftete Schießstände und bleihaltige Glasuren, oft auf Töpferware aus Urlaubsländern. Blei schädigt Knochenmark, Nerven und Nieren. Mögliche Warnzeichen: Blässe, Blutarmut, Magen-Darm-, Nervenstörungen (Kribbeln, Taubheitsgefühle). DRUCKERFEINSTAUB Laserdrucker verbreiten Nanopartikel, Feinstaub und Ausdünstungen, die zum Gesundheitsrisiko werden können. Moderne Drucker unterschreiten zwar die zulässigen Grenzwerte, haben aber trotzdem nichts in den Wohnräumen zu suchen. Mögliche Warnzeichen für zu hohe Konzentrationen: Reizhusten, Asthma, Kopfschmerzen. FLÜCHTIGE GASFÖRMIGE SCHADSTOFFE (VOC) Sie stammen aus Grundierungen, Farben, Lacken und Klebern und sind eine der häufigsten Innenraumluftbelastungen. »Umweltfreundliche wasserlösliche« Lacke setzen noch nach langer Zeit Glykole und Glykolether frei, die als fruchtbarkeitsschädigend gelten. Mögliche Warnzeichen: Kopfschmerzen, Haut- und Schleimhautreizungen. Betroffene schildern oft eine verstärkte Geruchsempfindlichkeit. Studien konnten allerdings keine erhöhte Riechleistung feststellen; vielmehr scheinen die Leidenden Duftstoffe anders als Gesunde zu bewerten. Deshalb reichen oft winzige Duftstoffmengen, um Reaktionen auszulösen. Die Augsburger Professorin untersucht derzeit in einer Studie, ob sich die vermutete Fehlschaltung zwischen Psyche und Immunsystem wieder kappen lässt. »Wir wollen das Leben der Patienten erträglicher machen, indem wir geringe Duftstoffmengen mit positiven Eindrücken verknüpfen.« THERAPIEMIX Zum umweltmedizinischen Therapiekonzept gehört meist auch eine kognitive Verhaltenstherapie. Psychotherapeuten unterstützen zum Beispiel die stark geruchssensiblen Patienten dabei, Gerüche neu zu bewerten – und die Angst vor ihnen zu verlieren. »Wir können uns der Umwelt nicht komplett entziehen«, erklärt Uta Ochmann, Leiterin der Umweltambulanz der LMU München. Betroffene sollen aber lernen, die Umwelt wieder angstfrei zu ertragen. »Eine Belastung etwa durch Feinstaub, Abgase oder Pestizide lässt sich vielleicht verringern, aber niemals völlig aus dem Leben verbannen.« RUNDUM-PAKET Die Behandlungsmöglichkeiten der Umweltmedizin sind noch begrenzt: Sie versucht, Auslöser zu erkennen, vorbeugende Maßnahmen zu entwickeln, Medikamente zur Symptomlinderung zu finden und seelische Unterstützung zu bieten. Maria Huber konnte mithilfe ihrer Ärzte ein neues Leben beginnen. Ihre Bleiwerte sind, 13 Jahre nach der Vergiftung, fast wieder im Normbereich. Guter Rat | 6.2016 73
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