A.-K. Horstmann: Wissensproduktion und koloniale - H-Soz-Kult

A.-K. Horstmann: Wissensproduktion und koloniale Herrschaftslegitimation
Horstmann, Anne-Kathrin: Wissensproduktion
und koloniale Herrschaftslegitimation an den Kölner Hochschulen. Ein Beitrag zur «Dezentralisierung» der deutschen Kolonialwissenschaften.
Frankfurt am Main: Peter Lang/Frankfurt am
Main 2015. ISBN: 978-3-631-65478-1; 381 S.
Rezensiert von: Markus Seemann, Archiv des
Katholischen Militärbischofs für die Deutsche
Bundeswehr, Berlin
Als Beitrag zur Dezentralisierung der Kolonialwissenschaften versteht Anne-Kathrin
Horstmann ihre Studie über den Kolonialismus an den Kölner Hochschulen, die eine ergänzte Fassung ihrer 2014 von der Philosophischen Fakultät der Universität Köln angenommenen Dissertation darstellt. Die Arbeit entstand unter der Betreuung der Afrikanistin Marianne Bechhaus-Gerst und ist im
Kontext einer kritischen Auseinandersetzung
mit der Geschichte der eigenen Fachdisziplin zu sehen. Sie verfolgt einen konstruktivistischen Ansatz, mit dem sie den ideologischen Beitrag von Wissenschaftlern zum Kolonialdiskurs und zur Konstruktion von Afrika, von den Kolonien und vom „Anderen“ in
der Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs bis
zum Zweiten Weltkrieg aufzeigen möchte.
Horstmann untersucht Wirkungsweisen
kolonialistischen Denkens an den Kölner
Hochschulen in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Schwerpunktmäßig richtet sich
ihr Blick auf die Fächer Wirtschaftswissenschaften, Geographie, Völkerkunde, Medizin
und Botanik. Dass sie dabei in vielfältiger
Weise fündig wird, ist ein anerkennenswerter
Befund und das Ergebnis akribischer Recherchen im dortigen Universitätsarchiv sowie
in sechs weiteren Archiven. Die Autorin
macht einleitend deutlich, dass es sich hierbei
um eine „Spurensuche“ handelt, um einzelne „Mosaiksteinchen“ zu einem „großen
Ganzen“ zusammenzuführen, „ohne dabei
Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben“
(S. 27). Der Verfasser dieser Rezension weiß
aus eigener Erfahrung, dass eine solche koloniale Spurensuche vor Ort immer wieder an
die Grenzen dessen stößt, was in schriftlichen
Quellen überliefert ist.1
Köln war infolge der Auflösung der alten Universität 1798 keine klassische Hoch-
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schulstadt, sondern entwickelte sich erst im
20. Jahrhundert wieder zu einem bedeutenden Studienstandort. Zur Neugründung der
Universität kam es 1919, bis dahin hatten
sich zwei Vorläuferinstitutionen etabliert, und
zwar seit 1901 die Städtische Handelshochschule und seit 1904 die Akademie für praktische Medizin. Diese Einrichtungen waren
weit davon entfernt, als Kolonialinstitut bezeichnet zu werden, wie eines etwa zeitgleich
in Hamburg existierte. Umso bemerkenswerter ist es, wie stark trotzdem kolonialistisches
Denken bis hin zu kolonialpolitischer und kolonialrevisionistischer Agitation an den Kölner Hochschulen verbreitet war. Dies en détail
– soweit es die Quellenlage zuließ – herausgearbeitet zu haben, kann als maßgebliches Verdienst der Studie angesehen werden.
Eine Reihe von Wissenschaftlern nahm in
Köln über die Zäsuren des 20. Jahrhunderts hinweg in Forschung und Lehre Bezug zum Kolonialismus. Zu nennen wären hier etwa die Geographen Kurt Hassert
und Franz Thorbecke, die Wirtschaftswissenschaftler Christian Eckert und Kurt Wiedenfeld, der Völkerkundler Julius Lips und Martin Heydrich oder die Botaniker Peter Esser und Hermann Sierp. Deren Beteiligung
am „kolonialen Projekt“ (S. 120 u.a.) reichte von der Behandlung einzelner kolonialer
Themen in ihren Vorlesungen über ein aktives politisches und publizistisches Engagement zugunsten der Kolonialbewegung bis
hin zur Durchführung von eigenen Expeditionsreisen – in einem Fall sogar mit einer
Gruppe ausgewählter Studenten, die in den
Semesterferien 1908 Deutsch-Ostafrika bereisten. Trotz unterschiedlicher parteipolitischer
Standpunkte (die allerdings in der Arbeit zumeist nur beiläufig Erwähnung finden) befürworteten die aufgeführten Wissenschaftler
das deutsche „Kolonialprojekt“. Letztlich legitimierten sie, wie Horstmann betont, dank
ihrer wissenschaftlichen Autorität ein Herrschaftssystem, das auf Ungleichheit, Unterdrückung und Ausbeutung basierte.
Das Buch gliedert sich – abgesehen von Vorwort, Anhang (mit einer Übersicht der kolonialen Lehrveranstaltungen von 1902–1945)
1 Vgl.
Markus Seemann, Kolonialismus in der Heimat.
Kolonialbewegung, Kolonialpolitik und Kolonialkultur in Bayern 1882–1943, Berlin 2011.
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und Literaturverzeichnis – in sieben Hauptkapitel von recht unterschiedlichem quantitativen und qualitativen Gehalt. Nach der Einleitung widmet sich die Autorin im Kapitel „(Post)Kolonialismus, Wissen, Macht und
Diskurse: Forschungsprogramm und eigene Verortung“ (S. 31–57) den theoretischmethodischen Grundlagen ihrer Arbeit. Die
Entwicklung der neueren Kolonialgeschichtsschreibung wird darin ausgehend von Edward Saids „Orientalism“ bis hin zu den
aktuellen postkolonialen Theorien in solider
Weise nachvollzogen. Unumgänglich ist dabei auch die Bezugnahme auf Michel Foucaults Diskursbegriff und die Methodik der
Kritischen Diskursanalyse. Leider findet diese theoretische Grundlage in den folgenden
Kapiteln nur wenig Anwendung. Es folgt mit
„Wissen(schaft) und deutscher Kolonialismus“ (S. 59–77) eine weitgehend deskriptivchronologische Darstellung der Institutionen
im Deutschen Reich, die sich mit wissenschaftlichem Anspruch den Kolonien widmeten. Im knappen vierten Kapitel über „Köln
als ‚Kolonialmetropole des Westens‘: Basis
für die kolonialwissenschaftliche Forschung
an den Kölner Hochschulen“ (S. 79–86) fasst
Anne-Kathrin Horstmann im Wesentlichen
die Ergebnisse eines von ihr und ihrer Doktormutter gemeinsam herausgegebenen Sammelbandes zusammen.2 Anders als es die
Überschrift erwarten ließe, liefert sie keine
stichhaltige Begründung dafür, warum Köln
als „Kolonialmetropole“ gelten könne, sondern übernimmt unhinterfragt eine Formulierung von Bechhaus-Gerst – wobei Horstmann an anderer Stelle betont, dass „Köln
nicht zu den ‚klassischen Kolonialmetropolen‘ des Reiches zählt(e)“ (S. 319). Dieser Widerspruch wird ebenso wenig aufgelöst, wie
der Titelbegriff der „Dezentralisierung“ zufriedenstellend erläutert würde. Klar wird an
dieser Stelle nur, dass es in Köln vielfältige kolonialpolitische Agitation gab; bei einer deutschen Stadt dieser Größenordnung wäre jedoch ein gegenteiliger Befund eher verwunderlich. Warum sich die Studie ausgerechnet
den Hochschulen in Köln widmet, mag aus
arbeitsökonomischen Gründen naheliegend
sein, wird jedoch nicht aus einem übergeordneten Blickwinkel heraus dargelegt. Stattdessen setzt Horstmann den Untersuchungs-
raum quasi als naturgegebenes Faktum voraus – ihre Einleitung beginnt mit der lapidaren Feststellung: „Das wissenschaftliche Interesse an Afrika hat in Köln eine lange Tradition.“ (S. 11)
Das mit Abstand ausführlichste und ergiebigste Kapitel „Kolonialwissenschaften ohne ‚Kolonialinstitut‘: Die Kölner Hochschulen und das koloniale Projekt“ (S. 87–281)
stellt als eigenständige Forschungsleistung
Horstmanns den Kern der Arbeit da. Es gelingt ihr, anhand archivalischer und publizierter Quellen ein Kaleidoskop vielfältigster
kolonialer Bezüge in der Kölner Hochschullandschaft aufzuzeigen. Das Spektrum reicht
dabei von der tropenmedizinischen Grundausbildung katholischer Missionarinnen und
Missionare, die in die deutschen Schutzgebiete geschickt wurden, bis zu den Planungen
für ein mittelafrikanisches Kolonialreich, die
noch bis 1943 – als die Stadt bereits von alliierten Luftangriffen heimgesucht war – in
den Köpfen mancher Geographen und Völkerkundler als in naher Zukunft zu erreichendes Ziel umherspukten. Dass 1931 ein
„Akademischer Kolonialbund“ und 1938 eine „Zentralstelle für Kolonialfragen“ an der
Universität Köln gegründet wurden, macht
einmal mehr deutlich, welche Bedeutung der
Kolonialismus auch ohne Kolonien im akademischen Umfeld erlangen konnte. Horstmann
schafft es in ihren Ausführungen allerdings
nur punktuell, die vorher ausführlich dargelegten Theorien auf das konkrete Beispiel
Köln herunter zu brechen. Stattdessen hat ihre quellennahe Darstellung, die im Wesentlichen anhand der einzelnen Fächer chronologisch abgehandelt wird, über weite Strecken
vor allem deskriptiven Charakter. Mangelnde
Distanz zu den Quellen und ihren Urhebern
kann man ihr freilich nicht vorwerfen, wobei
diese Distanzierung allzu gern in einer stereotypen und moralisierenden Weise zum Ausdruck gebracht wird. Wenn die zeitgebundenen Forschungen pauschal (teilweise mehrfach auf ein und derselben Seite!), als „scheinbar wissenschaftlich“ oder „vermeintlich wissenschaftlich“ (so z.B. auf den Seiten 154, 160,
174f., 177, 198, 223) abqualifiziert werden, so
2 Marianne
Bechhaus-Gerst / Anne-Kathrin Horstmann
(Hrsg.), Köln und der deutsche Kolonialismus. Eine
Spurensuche, Köln 2013.
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A.-K. Horstmann: Wissensproduktion und koloniale Herrschaftslegitimation
bekommt die Darstellung allzu sehr den Charakter einer Wertung nach heutigen Maßstäben.
An diesen Hauptteil der Arbeit schließt sich
das Kapitel „Werbung für den Kolonialgedanken in der Öffentlichkeit – Popularisierung und Inszenierung von ‚kolonialem Wissen‘“(S. 283–317) an. Hierin wird, vielfach
in Anknüpfung an bereits Gesagtes, auf die
Verbreitung kolonialen Gedankenguts durch
Kölner Professoren, etwa in populärwissenschaftlichen Publikationen, öffentlichen Vorträgen, Ausstellungen und Museen eingegangen. Das knappe Schlusskapitel (S. 319–325)
bringt noch einmal das Ergebnis der Arbeit
auf den Punkt, dass „Kolonialwissenschaften
auch außerhalb der ‚kolonialen Zentren‘ und
ohne eigenes ‚Kolonialinstitut‘ in vielfältiger
und vor allem kontinuierlicher Weise betrieben wurden und dies nicht nur regional, sondern auch national und teilweise international wahrgenommen wurde“ (S. 320).
Stilistisch bleibt anzumerken, dass gerade angesichts dieses letztlich doch etwas begrenzten Aussagegehalts eine Straffung der
Arbeit gut getan hätte. Die Auflistung der
am Hamburger Kolonialinstitut unterrichteten Fächer (S. 71) oder die breit dargelegte
Geschichte des Botanischen Gartens in Berlin und der dortigen Botanischen Zentralstelle für die deutschen Kolonien (S. 247–249) –
um nur zwei Beispiele herauszugreifen – tragen weder zum Verständnis der Situation in
Köln bei, noch eröffnen sie nennenswerte Perspektiven für das „große Ganze“. Hier wie an
manch anderen Stellen hätte ein knapper Hinweis auf die einschlägige Literatur genügt.
Darüber hinaus werden wenig überraschende
Erkenntnisse an mehreren Stellen wiederholt,
wie etwa, dass kolonialwissenschaftliche Forschung „sehr stark personengebunden“ war
(z. B. S. 132, 273, sinngemäß S. 133, 140) oder
die Wissenschaftler „den kolonialen Diskurs
verinnerlicht“ hatten bzw. „dem kolonialen
Diskurs verhaftet[e]“ waren (z.B. S. 114, 115).
Es sind solche sprachlichen und inhaltlichen
Redundanzen und Langatmigkeiten, die das
Lesevergnügen bei einem an sich gut und mit
offensichtlichem Engagement geschriebenen
Buch schmälern.
Aus der Überlegung heraus, kolonialistischem Gedankengut auch „in der Provinz,
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fern von Berlin“ (so eine Formulierung des
Geographen Thorbecke in einem Schreiben an
das Auswärtige Amt von 1934, S. 294) nachzugehen, ließen sich – etwa durch einen regional
ausgeweiteten Blickwinkel oder einen Städtevergleich – noch weiterführende Erkenntnisse
schöpfen. Es wäre spannend der Frage nachzugehen, worin sich möglicherweise der Kolonialismus an den Kölner Hochschulen von
dem in München, in Breslau oder in Heidelberg unterschied. Anne-Kathrin Horstmanns
Lokalstudie könnte hier Anregungen für weitere Untersuchungen liefern, um den deutschen Kolonialismus und seine Nachwirkungen in noch differenzierterer Weise zu analysieren.
HistLit 2016-2-180 / Markus Seemann über
Horstmann, Anne-Kathrin: Wissensproduktion und koloniale Herrschaftslegitimation an den
Kölner Hochschulen. Ein Beitrag zur «Dezentralisierung» der deutschen Kolonialwissenschaften. Frankfurt am Main 2015, in: H-Soz-Kult
16.06.2016.
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