Armut, Not und Verzweiflung existieren. Wir aber auch. Zur Geschichte der Bahnhofsmission in Dortmund Eine soziale Einrichtung, die mehr als einhundert Jahre am gleichen Ort aktiv ist, beweist täglich neu ihre Notwendigkeit und Aktualität - die Bahnhofsmission. Die Arbeit der Bahnhofsmission Dortmund hat sich immer ausgerichtet an den sozialen Notwendigkeiten und den lokalen Gegebenheiten. Schutz und Aufnahme zu gewähren, Grundversorgung sicherzustellen, Hilfen in akuten Notlagen bis hin zu Krisenintervention sind Kennzeichen und Inhalt der Arbeit - heute noch genauso aktuell wie vor 100 Jahren. In Dortmund wurde die Bahnhofsmission vom Verein "Frauenerwerb - Frauenbildung" gegründet. "Die Organisation ist folgende: Die einzelnen Theilnehmerinnen müssen sich verpflichten, zu bestimmten Tagen und Stunden am Bahnhof anwesend zu sein, um den hier ankommenden alleinreisenden Mädchen und Frauen nöthigenfalls mit Rhat und That beistehen zu können, vor allem um sie vor dem vielfach zweifelhaften Treiben der Gesindevermiether zu schützen. In vielen Fällen konnten die Damen helfend eingreifen, Unterkommen gewähren, Stellen vermitteln - namentlich auch unter Zuhülfenahme der städtischen Stellenvermittlung - und unerfahrene Mädchen den sittlichen Gefahren der Großstadt entziehen." "Die Gruppe für Bahnhofsmission muß ihre Thätigkeit leider noch auf den Hauptbahnhof beschränken, da die Zahl der Hilfskräfte für die übrigen Bahnhöfe nicht ausreicht. Es ist dieses umso bedauerlicher, als der ganze Zweck der Bahnhofsmission infolgedessen nur zum kleinen Theil erreicht wird. Denn die vielen gesellschaftsfeindlichen Elemente, die ein Interesse daran haben, die reisenden Mädchen der Bahnhofsmission zu entziehen, erreichen ihren Zweck am besten dadurch, dass ihnen der Eintritt in der Stadt auf den anderen Bahnhöfen ermöglicht wird. Es ist zu hoffen, dass auch die Bahnhofsmission sich bald voll entfalten kann. (aus: Mittheilungen aus der Armen- und Wohlfahrtspflege der Stadt Dortmund, Nr. 7, Oktober 1901) "Eine wirkliche Lebensrettung haben wir zu verzeichnen: ein braves Mädchen aus der Provinz war von einem gewissenlosen großstädtischen Vermittler in einen viel zu schweren Dienst hierher vermietet, der es schließlich zu Selbstmordgedanken trieb, deren Ausführung glücklicherweise von zwei unserer Helferinnen verhindert werden konnte." (aus: Bericht der Dortmunder Bahnhofsmission, 1902) Die Bahnhofsmission im Nationalsozialismus Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann der systematische Prozess der Verdrängung konfessioneller Arbeit und der Gleichschaltung privater und öffentlicher Wohlfahrtspflege. Die Bahnhofsmissionen konnten zwar die ersten Versuche einer Übernahme ihrer Einrichtungen durch die NS-Frauenschaft im Jahre 1933 erfolgreich abwenden, nicht aber die Einrichtung eigener Bahnhofsdienste der NSV ("Nationalsozialistische Volkswohlfahrt") seit 1936 verhindern. Nach der Bekanntgabe des Verbotes der Bahnhofsmissionen im Juli 1939 wurden die letzten der insgesamt 350 evangelischen und katholischen Bahnhofsmissionen bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geschlossen. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Nahezu unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Regimes nahmen auch die ersten Bahnhofsmissionen ihre Arbeit wieder auf. Ehemalige Mitarbeiter und freiwillige Helfer beteiligten sich am Wiederaufbau der Bahnhofsmissionen mit allem Rückhalt bei den evangelischen und katholischen Trägern, deren Organisation nach 1939 nicht aufgelöst worden war. Unzählige Menschen waren unterwegs: Familien, Kriegsheimkehrer, Vertriebene und Flüchtlinge. Neben die Hilfe für Kriegsheimkehrer und Vertriebene trat ab den 50-er Jahren auch die Hilfen für Interzonen-Reisende, illegale Grenzgänger, Rückwanderer in die DDR und Abgeschobene. "Ein 70jähriger polnischer Rentner will ins Sauerland. Von Polen kommend, sitzt er im falschen Kurswagen und landet so in Dortmund. Seine Verwandten erwarten ihn an einem bestimmten Bahnhof. Man hat ihm schon helfen wollen, aber alles war bisher vergeblich. Ganz verzweifelt ist er bei uns. Nach einigen Bemühungen gelingt es, die Verwandten hier nach Dortmund zu dirigieren. So wird er mit dem Auto hier abgeholt. Überwältigt vor Freude, dass wir das möglich gemacht haben, fängt er an zu weinen. Er weiß nicht, wie er uns danken kann und sagt, dass ihm etwas so Gutes in seinem ganzen Leben noch nicht widerfahren sei." (aus: Dienstbuch der Bahnhofsmission Dortmund, 1971) "Am 30.07.1977 kam aus Kassel eine junge Irin zur Bahnhofsmission. Sie hatte durch ihren Vater in der Nähe von Kassel eine Stelle als Pferdepflegerin angenommen. Diesen Beruf hatte sie zu Hause in Dublin gelernt. Nach einer Woche Arbeit mußte sie zusätzlich auch in einer Kneipe arbeiten. Sie erhielt in der Woche 20 DM für die ganze Arbeit. Nachdem sie grundlos geschlagen wurde, verließ sie die Arbeitsstätte und wollte zurück nach Hause. Von der Bahnhofsmission in Kassel bekam sie eine Fahrkarte bis Dortmund. Hier konnten wir ihr mit Hilfe des "Diakonischen Werkes" eine Fahrkarte nach Amsterdam besorgen. Von dort hatte sie ein Flugticket nach Dublin. Sie sprach kein Wort Deutsch! Die Verständigung fand in englischer Sprache statt, was aber keine Schwierigkeiten bedeutete. Die ganze Zeit machte sie einen sehr niedergeschlagenen Eindruck und sprach bei Unterhaltungen fast ausschließlich von zu Hause und ihrem Vater. Sie war jedoch, nachdem sie wußte, dass sie zurück nach Hause konnte, recht aufgelockert und dankte sehr herzlich für die Hilfe. Falls sie ihr Wort halten kann, kommt sie im nächsten Jahr zurück, um uns zu besuchen. I hope so! Thank you!" (aus: Dienstbuch der Bahnhofsmission Dortmund, 1977) Die Bahnhofsmission von 1980 bis heute Die Bahnhofsmission in den 80er und 90er Jahren Seit den 1980er Jahren wurde die Bahnhofsmission immer mehr auch zur Anlaufstelle für psychisch beeinträchtigte Menschen und Wohnungslose, Aussiedler und Asylsuchende. Und immer mehr rückten Beratung und Lebenshilfe in das Hilfespektrum der Bahnhofsmissionen und ergänzten so die vielfältigen Reisehilfen. Und heute? Heute arbeitet die Bahnhofsmission in enger Kooperation mit den anderen Hilfeeinrichtungen der Stadt. Sie ist Teil des sozialen Hilfenetzwerkes in Dortmund. Im Zeitalter der Technisierung und Automatisierung sorgt die Bahnhofsmission mit ihren vielen ehrenamtlich Mitarbeitenden ihrem Motto gemäß dafür, dass die "Menschlichkeit zum Zug" kommt. Traditionsbewusst und -verpflichtet geht sie in eine Zukunft, in der sie auf heute vielleicht noch unbekannte Notlagen von Einzelnen innovativ reagieren wird. "Ein Mann, ca. 65 Jahre alt betritt die Bahnhofsmission und fragt nach der Lebenshilfe. Auf die Frage, welche Einrichtung der Lebenshilfe er suche, eine Werkstatt für Behinderte oder ein Wohnheim, sagt er: Nein, nein, die Lebenshilfe. Meine Frau ist letzte Woche gestorben. Ich komme vom Bodensee. Meine Nachbarin hat mir geraten, wegzufahren, damit ich auf andere Gedanken komme, aber jetzt suche ich einen Geistlichen." Telefonisch stelle ich den Kontakt zum katholischen Zentrum her und begleite den Mann persönlich zum Propsteihof, wo er einen Priester trifft. Ich höre nie wieder von diesem Mann." (aus: Dienstbuch der Bahnhofsmission Dortmund, 2000) Vom Frühjahr 2002 bis Ende 2005 war die Bahnhofsmission Dortmund zusammen mit der Bahnhofsmission Duisburg im Projekt "Mobile Bahnhofsmission im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr" mit mobilen Teams auf der S-Bahn-Linie 2 zwischen Dortmund, Duisburg und Essen unterwegs. Die Professionalisierung der Mitarbeiterinnen von Bahnhofsmissionen schritt voran: Hauptamtliche Mitarbeiterinnen wurden eingestellt, Ehrenamtliche qualifiziert geschult. Die Erweiterung des herkömmlichen Arbeitsgebietes hielt aber auch nach dem Ersten Weltkrieg unvermindert an und wuchs gleichzeitig mit den sozialen Veränderungen der Gesellschaft. Alleinreisende Kinder, umherwandernde Arbeitslose, Landarbeiter: In den Mittelpunkt der Arbeit rückten jetzt alle "Menschen unterwegs". "Ein Mädchen studiert den Fahrplan, es stellt sich ein Mann dazu und die Fürsorgerin hört, wie dieser sagt, es fahre nach drei Stunden ein Zug in derselben Richtung, es möge mit ihm zur Stadt gehen. Das Mädchen geht langsam der Sperre zu. Da bittet die Fürsorgerin das Mädchen für einen Augenblick beiseite und bespricht den Fall mit ihr, während der Mann eiligst verschwindet. Das Mädchen lässt sich belehren und benutzt den nächsten Zug zur Heimfahrt." (aus: Dortmunder Wohlfahrtsblätter, 3. Jahrgang, 1. Dezember 1927)
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