IS im Visier Demokratie unter Druck Seit 2014 verteidigen kurdische Truppen die nordirakische Stadt Kirkuk. Seite 3 Die Demokratie ist in der Krise – »nd« widmet ihr eine 16-seitige Beilage. Coolness im Boxring Muhammad Ali war kein politischer Schwarzer, der Sport trieb, sondern ein schwarzer politischer Sportler. Ein Nachruf. Seite 15 Foto: Willi Effenberger Montag, 6. Juni 2016 STANDPUNKT Ein Köder in Rot-Rot-Grün 71. Jahrgang/Nr. 130 Bundesausgabe 1,70 € www.neues-deutschland.de Schloss sucht Schlüssel Grundeinkommen abgelehnt Gauck zieht aus – vielleicht. Über seinen Nachmieter wird schon heftig spekuliert Nur ein knappes Viertel der Schweizer sagt bei Referendum Ja Wolfgang Hübner über die anschwellende Präsidenten-Debatte Noch ist Joachim Gauck nicht ausgezogen aus dem Präsidentenschloss Bellevue; noch hat er nicht einmal der Bundeskanzlerin erklärt, was er vorhat. Aber schon wird er in der Öffentlichkeit wie ein Mann von gestern behandelt. Um Gauck geht es eigentlich gar nicht mehr; nur noch um die Nachfolge. Die allerdings hat es in Zeiten der parteipolitischen Erschütterungen in sich. Denn wie neuerdings die Landtage, so wird auch die Bundesversammlung zunehmend unübersichtlich. Zwar hätte die Große Koalition in dem Gremium eine klare Mehrheit, das den Bundespräsidenten wählt – aber was zählen zwei Drittel Schwarz-Rot, wenn sich die Partner nicht über den Weg trauen und schon jetzt jeder an die viel wichtigere Bundestagswahl nächstes Jahr denkt? Da ist es taktisch schlau, wenn die Linkspartei erneut den rotrot-grünen Köder auswirft, wie sie es zuletzt auch in der Kanzlerfrage getan hat. Aber ob jemand anbeißt? Die Grünen haben nach der Regierungsbildung in Stuttgart ganz andere Tagträume, (Schwarz und Grün hätten sogar eine Mehrheit in der Bundesversammlung). Und was von den linken Anwandlungen des SPDChefs Gabriel bleibt – wer weiß? Ohne reale Machtoption nach Inhalten und Wahlaussichten dürfte ein rot-rot-grüner Anlauf in Richtung Präsidentenamt eine Schimäre bleiben. Doch noch hat Gauck sich ja nicht geäußert. Dazu wäre kurz und knapp zu sagen: Einmal Gauck ist eigentlich genug. Fröhlichen Ruhestand! UNTEN LINKS Kurz vor der Fußball-Europameisterschaft zeichnet sich ein interessanter Medientrend ab: Die EM-Experten palavern nicht mehr wie Kahn, Scholl oder Netzer über Pässe, Auswechslungen oder langweilige »Wenn der in der 70. reingeht, haben wir ein ganz anders Spiel«-Kram, nein: Die neuen EM-Experten besitzen den Blick fürs große Ganze. Für Zusammenhänge und Hintergründe. Deshalb haben solche FußballFachblätter wie »Spiegel«, »FAS« und Welt am Sonntag« ihre Spalten alten Taktikfüchsen wie Frauke Petry und Alexander Gauland weit geöffnet, damit die uns endlich mal die Wahrheit offenbaren: über Boateng, Özil und die ziemlich undeutsche deutsche Elf (in AfD-Sprache: links-rot-grün versifft). Für alle, denen das zunehmend auf die Nerven geht, gibt es aber Hoffnung: Ein Land, in dem sich tatsächlich zweieinhalb Millionen Menschen mit der LiveÜbertragung der Hochzeit von Daniela Katzenberger betäuben, hat eben doch noch andere Interessen als den totalen Fußball. wh ISSN 0323-3375 Foto: dpa/Istvan Bajzat Basel. Bei der weltweit ersten Volksabstimmung über ein bedingungsloses staatliches Grundeinkommen für jedermann hat sich die Schweiz klar dagegen entscheiden: 76,9 Prozent der Teilnehmer des Referendums stimmten laut Endergebnis dagegen, 23,1 Prozent sagten Ja. Die Initiatoren sprachen dennoch von einem »sensationellen Erfolg«. Deutlich über 20 Prozent Zustimmung – das sei »weit mehr, als wir erwartet hatten«, sagte Daniel Häni, der Sprecher der Volksinitiative. »Das bedeutet, die Debatte geht weiter, auch international.« So werde bereits am kommenden Dienstag in Berlin von der deutschen Initiative »Mein Grundeinkommen« per Los eine solche Zusatzzahlung in Höhe von 1000 Euro für zwölf Monate an einen der zahlreichen Bewerber vergeben, kündigte der deutsche Mitinitiator des Schweizer Referendums, Philip Kovce, an. Zuvor hatte diese deutsche Initiative bereits 45 solche Grundeinkommen ausgereicht; das Geld dafür kam durch Spenden zusammen. dpa/nd Seiten 4 und 7 Verfassungsschützer besorgt über AfD Thüringer Behördenleiter Kramer: Wir schauen sehr genau hin Foto: imago/Metodi Popow Berlin. Bundespräsident Joachim Gauck verzichtet auf eine zweite Amtszeit, verlässt freiwillig Schloss Bellevue – obwohl ihm ein neuer Mietvertrag, sprich die Wiederwahl praktisch sicher ist. So meldete es jedenfalls die »Bild«-Zeitung und löste damit geradezu ein wochenendliches Kreativitätsfeuerwerk aus. Lammert, Steinmeier, Schäuble wurden bereits als mögliche Nachfolger genannt. Die Union möchte wohl keinen gemeinsamen Kandidaten mit der SPD, hieß es. Umgekehrt sieht es ähnlich aus. Die FDP lehnt Schäuble ab, da dieser – so Parteivize Wolfgang Kubicki gegenüber dem »Tagesspiegel« – die Liberalen einst »regelrecht gemobbt« habe. Und die LINKEi versucht SPD und Grüne für einen rot-rotgrünen Bewerber zu begeistern. Durchsetzbar wäre dieser in der Bundesversammlung (spätestens im dritten Wahlgang würde nach jetzigem Stand die rot-rot-grüne Stimmenzahl ausreichen), das Problem scheint eher zu sein, dass sich die drei Parteien zusammenraufen müssten. Und zwar alle ihre Flügel. Spekulationen, Vorschläge, Absagen – dabei ist noch nicht einmal offiziell, dass Gauck nicht mehr will. Zumindest Bundestagspräsident Norbert Lammert zeigte sich als Vorgeschlagener für Gaucks Nachfolge wenig amü- siert. Spekulationen seien »erstens unnötig und zweitens auch respektlos. Ich werde mich daran sicher nicht beteiligen.« Er nicht, dafür mit Sicherheit viele viele andere. Denn es geht nicht nur um einen neuen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin. Wenn im Februar 2017 die mehr als 1200 Mitglieder der Bundesversammlung (die genaue Zahl wird erst kurz vor der Wahl bestimmt) zusammentreten, tun sie dies mitten im Wahlkampf für die Bundestagswahl im Herbst 2017. Da möchte keine Partei mit dem falschen Kandidaten und Verbündeten ein aus ihrer Sicht falsches Signal ans Wahlvolk senden. mdr Seite 5 Polen rebellieren »für die Freiheit« Zehntausende auf den Straßen gegen Politik der national-konservativen Regierung In Erinnerung an die Parlamentswahlen von 1989 und den Sieg über den Kommunismus protestierten Zehntausende Polen am Samstag gegen die national-konservative Regierung. Warschau. Zehntausende Menschen haben am Samstag in Warschau und anderen Städten Polens unter dem Motto »Alle für die Freiheit« an den 27. Jahrestag der Wahlen von 1989 erinnert und gleichzeitig gegen die Politik der national-konservativen Regierung demonstriert. Allein in Warschau gingen nach Angaben der Stadtverwaltung bis zu 50 000 Menschen auf die Straße. In zahlreichen Städten gab es Freiheitsmärsche und -picknicks. Auf dem Verfassungsplatz der Hauptstadt schwenkten Tausende polnische und Europafahnen. »Höre, Jarek – hier ist das Polen freier Menschen!«, rief Bürgerrechtler Wladyslaw Frasyniuk dem nationalkonservativen Chef der mit absoluter Mehrheit regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslaw Kaczynski, zu. Viele Demonstranten trugen als Zeichen der Freiheit Papierschmetterlinge in den Nationalfarben weiß und rot als Haarspange oder Brosche. Sie riefen »Freiheit, Gleichheit, Demokratie«. Zu den Kundgebungen hatten das oppositionelle Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) und die drei ehemaligen Präsidenten Lech Walesa, Aleksander Kwasniewski und Bronislaw Komorowski aufgerufen. Immer wieder skandierten die versammelten Menschen: »Freiheit, Gleichheit, Demokratie!« Zu den umstrittensten Reformprojekten der Regierung zählen Maßnahmen zur schärferen Kontrolle von Medien und Verfassungsgericht. Am Mittwoch hatte die EU-Kommission Warschau in einer offiziellen Verwarnung zur Einhaltung der rechts- staatlichen Prinzipien der EU aufgefordert. Brüssel wirft Warschau vor, die Unabhängigkeit des Gerichts massiv eingeschränkt zu haben. Ohne Einlenken Warschaus drohen Polen Sanktionen bis hin zum Stimmrechtsentzug. »Die Polen haben ein Recht auf Wandel.« Jaroslaw Kaczynski, PiS-Vorsitzender Warschau weist die EU-Kritik immer wieder scharf als Einmischung zurück. Kaczynski, sagte auf einem PiSParteitag am Samstag: »Wir haben es mit Rebellion zu tun.« Die Regierungsgegner und das Verfassungsgericht wollten den Wählerwillen nach Veränderung nicht akzeptieren. »Wenn wir einen demokratischen Rechtsstaat haben sollen, dann darf kein Staatsorgan, darunter auch das Verfassungsgericht, Gesetze außer acht lassen«, sagte Kaczynski. Die Polen hätten ein »Recht auf Wandel«. Das Verfassungsgericht hatte im März die umstrittene Justizreform der Warschauer Regierung für verfassungswidrig erklärt. Die Regierung erkennt das Urteil jedoch nicht an. Walesa, Kwasniewski und Komorowski richteten einen gemeinsamen Appell an die Völker Europas, in dem sie zur Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufrufen. »Von den Straßen und Plätzen, auf denen einst Solidarnosc geboren wurde, rufen wir einmal mehr alle Europäer zur Solidarität auf«, schrieben sie in ihrer gemeinsamen Botschaft. »Wir sprechen für Hunderttausende – freie polnische Bürger, die seit einem halben Jahr auf den Straßen ihre Bindung an Demokratie, Recht und ein freies Europa demonstrieren.« Agenturen/nd Kommentar Seite 4 Berlin. Die Voraussetzungen für eine nachrichtendienstliche Beobachtung der rechtspopulistischen AfD sind nach Aussage des Thüringer Verfassungsschutz-Chefs Stephan J. Kramer nicht erfüllt. Man schaue aber »sehr genau auf die offenen Informationen, Medienberichte und Stellungnahmen aus der Partei«, sagte Kramer gegenüber »neues deutschland«. Äußerungen zum Islam, gegen Flüchtlinge und politisch Andersdenkende seien erste ernstzunehmende Anhaltspunkte. »Wir prüfen derzeit, ob sich daraus eine veränderte Bewertung ergibt.« Kramer plädierte zudem für eine Grundsatzdebatte über die Sicherheitsarchitektur in Deutschland. Dabei sollte es u.a. um die Frage gehen, »wie und ob bestimmte Konstruktionen und Regelungen angesichts der heutigen Gefährdungssituationen, der föderalistischen Strukturen noch angemessen und sinnvoll sind«. Die Verfassungsschützer fragten sich »selbstkritisch, ob uns die aktuelle Extremismusdefinition die echten Bedrohungen zuverlässig erkennen lässt«. nd Seite 2 Petry für »brutale« Rentenkürzung Rechtspartei AfD will auch kinderlose Paare stärker belasten Berlin. Führende Politiker der RechtsaußenPartei AfD machen weiter Schlagzeilen – mit dem Ruf nach Rentenkürzungen. AfD-Chefin Frauke Petry sagte der »Welt am Sonntag«, an einer »weiteren Verlängerung der Lebensarbeitszeit führt kein Weg vorbei«, zudem werde man »vermutlich über eine weitere Kürzung der Renten reden müssen«. Dies sei »brutal«, aber wegen der demografischen Entwicklung unabdingbar. Petry verknüpfte ihre Rentenforderung mit dem Appell zu mehr Geburten. Dazu sollen Kinderlose auch stärker belastet werden als bisher. »Familien soll weniger Geld abgezogen werden, ärmere Familien wollen wir bei den Sozialbeiträgen entlasten. Das wird von Kinderlosen mitfinanziert werden müssen«, so Petry. Unterdessen hat AfD-Vize Alexander Gauland Angela Merkel eine »Kanzler-Diktatorin« genannt, die das »Volk völlig umkrempelt und viele fremde Menschen uns aufpfropft«. Das berichtet die »Frankfurter Allgemeine« mit Blick auf einen Auftritt Gaulands in dieser Woche. Agenturen/nd Seite 12
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