Waffenlose Kampfkunst und Persönlichkeitsgestaltung Die Geschichte des waffenlosen Kämpfens – welche ebenso alt ist wie die Geschichte des Kämpfens überhaupt – weist eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte und Entwicklungen auf. Als eine Art „sportliches Kräftemessen“ ist sie seit alters Bestandteil der Traditionen vieler Völker und Kulturen; nicht nur innerhalb der asiatischen und der europäisch-abendländischen Gebiete, sondern auch hinsichtlich der afrikanischen, südamerikanischen, pazifischen u.v.a. Lebensräume.1 Nicht selten wird dabei der Beginn eines solchen Kräftemessens oder Wettstreits mit den Taten von Göttern und Helden der jeweiligen Mythologien in Verbindung gebracht.2 Was demgegenüber militärische Belange angeht, so hat das waffenlose Kämpfen stets eine nur mehr untergeordnete Rolle gespielt; hier stand und steht der Kampf mit der Waffe an erster Stelle. Bedenkt man, dass die Aussicht, unbewaffnet die Angriffe eines oder mehrerer bewaffneter Gegner zu überleben minimal, um nicht zu sagen gleich Null ist, so wird diese geringe Bedeutung des waffenlosen Kämpfens für größere kämpferische Auseinandersetzungen ohne weiteres verständlich. Weitaus größerer Wert wird in einem solchen Umfeld daher auch einer generellen Körperertüchtigung zur Steigerung von Kraft und Ausdauer beigemessen, wie sie durch klassische athletische (Solo-)Disziplinen oder diverse (Gemeinschafts-)Sportarten erreicht wird. Die Zweikampfdisziplinen kommen dabei zwar auch zum Tragen; allerdings nur als Mittel zum Zweck: bestimmte wertgeschätzte Eigenschaften – wie z.B. Aggressivität, oder die Fähigkeit Schmerzen „einstecken“ zu können – und die im Zweikampf besonders deutlich zutage treten, werden so gefördert. Der Einzelne kann sich hier einerseits Ruhm erwerben, andererseits aber bleibt die Ausrichtung auf ein gemeinsames und vom Einzelnen letztlich unabhängiges Ziel unangetastet.3 Als dritter Aspekt in diesem Zusammenhang wäre schließlich noch die Entwicklung und Ausübung von 1 Siehe hierzu z.B. Damm, Die gymnastischen Spiele der Indonesier und Südseevölker – Die Zweikampfspiele (1922), Poliakoff, Kampfsport in der Antike (1987) und Touny & Wenig, Der Sport im alten Ägypten (1969). 2 Man denke nur an Herakles und Achilles in der griechischen Mythologie, an Thor in der germanischen Mythologie, welcher mit der Zeit in Gestalt eines alten Weibes rang, oder an Jakob, der mit Gott rang um seinen Segen zu erlangen (Genesis 32, 23-33). Ebenso war das heute kaum verstandene Sumo Japans zunächst und primär kultisch-rituell von Bedeutung, bevor es mit dem Aufstieg der Kriegerkaste auch einen kämpferischen Zweig ausbildete (kumi-uchi), und daran anschließend auch einen sportlich-professionellen. 3 Der moderne Wettkampfsport als Instrument im Kampf um Ruhm und Ehre für die Nation steht denn auch chauvinistisch-militaristischen Ideologien sehr viel näher als auf den ersten Blick deutlich ist (und werden soll). sportlichen Tätigkeiten mit spezifisch militärischen Bezügen zu erwähnen, wie z.B. Biathlon, Geländeläufe etc.4 Neben Wettstreit und Militär aber wird die (vermeintliche) Hauptaufgabe des waffenlosen Kämpfens für gewöhnlich in seinem Beitrag zur „Selbstverteidigung“ (goshin-jutsu) gesehen; worunter in der Regel ganz allgemein die Fähigkeit verstanden wird, sich mit Blick auf allerlei körperliche Attacken und aggressive Szenarien zu behaupten. Dieses möglichst unversehrte Überstehen von körperlichen Angriffen bildet tatsächlich aber nur den weitaus kleineren, und – wenngleich in der Regel zwar zuerst erlernten, idealerweise aber trotzdem nur zuletzt zum Einsatz kommenden - Teil einer umfassenden Lebensgestaltung und Lebensführung, in welche das waffenlose Kämpfen im Sinne von „Kampfkunst als Weg“ eingebettet ist. Gerade diese beiden Aspekte, d.h. Selbstverteidigung und Lebensweg, sind es nun, welche den Scheidepunkt für die gesamte Anschauung bezüglich des waffenlosen Kampfes sichtbar machen und alle damit verbundenen, unterschiedlichen äußeren und inneren Entwicklungen und Auswirkungen begründen. In der Tat verhält es sich so, dass automatisch ab einem bestimmten Punkt einem der beiden Bereiche der Vorzug gegeben wird und auch gegeben werden muss – unabhängig davon, inwieweit eine solche Wahl dem Einzelnen bewusst ist oder nicht. Wenn aber waffenloses Kämpfen ab diesem kritischen Punkt (weiterhin) unter dem Primat der Selbstverteidigung betrieben wird, so bedeutet dies letztlich eine Sackgasse. Auf die praktisch nicht vorhandene Bedeutung des waffenlosen Kämpfens im militärischen Rahmen wurde bereits hingewiesen; genau dieselbe Beschränkung betrifft aber auch das waffenlose Kämpfen zum Zwecke der Selbstverteidigung. Nicht in Abrede gestellt werden soll dabei der große Nutzen von Selbstverteidigungstraining für den Aufbau eines grundsätzlichen Selbstvertrauens; wohl aber soll der waffenlose Kampf als Mittel zum körperlichen Selbstschutz in Frage gestellt werden. Dieser Zweifel begründet sich v.a. durch folgende Auffassung: Einerseits erfolgen viele Angriffe auf Leib und Leben mittels Waffengewalt (Raubüberfälle, Entführung, Vergewaltigung u.a.), welche bei einem halbwegs geplanten Vorgehen oder kaltblütigem/n Täter(n) die Aussicht auf eine erfolgreiche Gegenwehr praktisch gegen Null senken. Andererseits gibt es zunächst diverse legal zu erwerbender Waffen, welche für den Selbstschutz verwendet werden können (Messer, Elektroschocker, Gaspistolen u.a.); 4 Man lese hierzu besonders die „Gesetze“ (Nomoi) von Platon, welches eine Vielzahl an Informationen über die kriegerische Ausbildung und Körperertüchtigung seiner Zeit liefert. hinzukommen allerlei „provisorischen“ Waffen (Wurfgegenstände, Mobiliar etc.). Sich mittels einer solchen Waffe gegen einen unbewaffneten Angriff erfolgreich zu verteidigen ist aber weniger eine Frage der Körperbeherrschung, als vielmehr der geistigen Einstellung, d.h. der Entschlossenheit. Davon abgesehen ist das zur erfolgreichen, waffenlosen körperlichen Verteidigung notwendige Instrumentarium im Grunde genommen sehr beschränkt (Stechen und Bohren in Hals und Augen, Schläge in die Genitalien, Beißen u.Ä.) und bedarf nur wenig körperlicher Übung – auch hier ist vielmehr wieder die mentale Einstellung bestimmend. Schon allein diese Punkte müssten die Ausrichtung des Unterrichts, zumindest bei Fortgeschrittenen, in eine grundsätzlich andere Richtung lenken als dies oftmals der Fall ist. Stattdessen wird eine Vielzahl zwar grundsätzlich möglicher (oder anders gesagt, nicht prinzipiell unmöglicher), aber egal wie wahrscheinlicher Szenarien entworfen, und eine Unmenge an körperlichen Techniken und Fertigkeiten geschult. An der Spitze solch fragwürdiger Entwicklungen steht dabei die gerne angeführte „Straße, auf der es keine Regeln gibt“ und die bevölkert ist von „gewissenslosen, knallharten Schlägern“, deren einziger Zeitvertreib darin besteht, Schwächere ausfindig zu machen und aus purer Lust und Laune heraus krankenhausreif zu prügeln. Sicherlich mag es solche Individuen geben; doch ist es nicht zu weit hergeholt, diese als Regelfall für Notwehrsituationen heranzuziehen? Und gerade für eine solche Situation müsste gelten: wie groß sind denn die Chancen, bei einer solche Konfrontation tatsächlich noch etwas ausrichten zu können? Wenn der Angreifer wirklich derart verschlagen ist, wird er dann nicht sowieso völlig unvermittelt, vielleicht auch hinterrücks oder mit mehreren, sein Opfer erst einmal grob außer Gefecht setzen oder benommen machen, um es dann daran anschließend zu malträtieren, woraus er ja erst (angeblich) seine eigentliche Befriedigung zieht? Wenn überhaupt, so scheinen die einzige Aussicht auf Erfolg angesichts solch extremer Fälle doch nur die oben erwähnten, minimalen körperlichen Mittel und die Verteidigung mittels einer Waffe zu bieten; im Verbund mit einer absoluten Kompromisslosigkeit. Aber macht es überhaupt Sinn, sich auf solche, zweifellos möglichen, aber sicher nicht sehr wahrscheinlichen Situationen „vorzubereiten“? Verliert man dadurch nicht vielmehr all die Möglichkeiten aus dem Auge, welche ein Entstehen gewalttätiger Situationen im Vorfeld verhindern können? Und sind nicht die weitaus größere Zahl von körperlichen Konflikten, zumindest unter Männern, weniger Notwehrsituationen, als vielmehr bewusst oder stillschweigend getroffene Vereinbarungen, sich zu prügeln (Revierkämpfe, Machtkämpfe, Frustbewältigung, Aggressionsentladung etc.)? Und muss ein ständiges „mit dem Schlimmsten rechnen“ oder sich auf körperliche Gewalt vorbereiten nicht auf Dauer dazu führen, Situationen zu provozieren, in denen die erlernten Fertigkeiten auch ausprobiert werden können? Und wenn nicht: wie entgeht man der Gefahr einer Frustration darüber, sich jahrelang in etwas zu schulen, was nicht gebraucht wird oder gar nicht gebraucht werden soll? Um diesen Schwierigkeiten konstruktiv zu begegnen, ist es notwendig, den Schritt von der Selbstverteidigung als Selbstzweck zur Kampfkunst als Mittel zu machen. Was aber heißt es, waffenloses Kämpfen einzubetten in „Kampfkunst als Weg“? Die modernen japanischen Kampfkünste gründen im „gemeinsamen Weg von Pinsel und Schwert“ (bunbu-ryôdô), welcher etwa während der Jahre 1600-1850 seine Blüte erlebte. In dieser Zeit verbanden die Samurai als Herrscher des Landes auf einer breiten Basis Philosophie und Ethik (bun) mit den kämpferischen Disziplinen (bu) zu einer ganzheitlichen Methode der Lebensführung (dô). Dieser „gemeinsame Weg von Pinsel und Schwert“ ist jedoch keine militärische Kunst mehr; wohl aber wurzeln seine kämpferischen Anteile in den Mitteln der Kriegsführung (bugei) der vorangegangenen Jahrhunderte. Da das Land größtenteils befriedet war, änderten sich die Formen einer Auseinandersetzung grundlegend: statt großer Schlachten gab es gesuchte Zweikämpfe; an Stelle einer breiten Grundausbildung in allen gängigen Waffen trat die Spezialisierung in einigen wenigen. Der nächste Schritt erfolgte dann durch die großen Meister am Ende des 19. und im frühen 20.Jd. welche den heute bekannten Kampfkünsten ihre Gestalt gaben. Die konkrete Zweikampffähigkeit tritt dabei eindeutig hinter das eigentliche Anliegen, der Gestaltung des eigenen Charakters und Lebens, zurück. Anders ausgedrückt: der kämpferische Anteil (bu) wird zum Mittel auf den Weg (dô), dessen Anliegen die Kultivierung (bun) des Menschen im Sinne von Friedfertigkeit und Harmonie ist.5 Leider, und hier liegt das Pendant zur Problematik der oben behandelten, einseitigen Ausrichtung auf Selbstverteidigung, fehlt den meisten „Kampfkunst-Betrieben und -Betreibenden“ in unserer Zeit ein planvolles Vorgehen, was diese Kultivierung angeht; die beiden Enden bilden dabei die „(Kampf)Sportvereine“ (denen bun fehlt) einerseits, und die „reinen Traditionalisten“ andererseits (denen es an bu als Mittel auf dem Weg mangelt). Die entscheidende Frage lautet also, wie Kampfkunstpraxis und -unterricht beschaffen sein 5 Etwas anders stellt sich das Bild für die Entwicklung der Kampfkünste in China dar, welches gerade während der Friedenszeit und Isoliertheit Japans einerseits von den Mandschu beherrscht wurde, und andererseits das Interesse der europäischen Kolonialmächte erweckte. Doch erfolgte die philosophische Fundierung auch hier praktisch genau zur selben Zeit, und auch die Begründer und großen Meister der heutigen Stile (Yip Man, Yang Cheng Fu u.a.) lebten etwa im selben Zeitraum wie in Japan (Gichin Funakoshi, Jigorô Kanô, Ueshiba Morihei). müssen, um bu im Dienste von bun zu fördern; aber ohne in eine der oben erwähnten Einseitigkeiten zu verfallen. Hierbei können zwei „Stufen“ unterschieden werden: Die erste Stufe, welche für den Hauptteil der Praktizierenden einer Kampfkunst von Bedeutung ist (in etwa die Gruppe der regulären Schüler mit einem Übungspensum von 2-3x die Woche), besteht in der mehr oder weniger „schleichenden“ Vermittlung bestimmter Grundprinzipien des bun-Bereiches, wie sie praktisch allen Vereinen, Clubs und Schulen gemeinsam sind. Dabei handelt es sich einerseits um äußere Reglements, wie sie in der Schulordnung (Dôjô-kun) niedergelegt sind, und andererseits um innere Entwicklungen, welche durch das Training mitgebildet werden. Ersteres betrifft z.B. Punkte wie Pünktlichkeit, Körperpflege, Rücksichtnahme auf den Übungspartner u.a. Letzteres bezieht sich z.B. auf die Einsicht der Eigenverantwortlichkeit für Fortschritt und Erfolg, den Aufbau von Willenskraft und Durchsetzungsvermögen, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit etc. Im Laufe der Zeit wird sich der Einfluss der so aufgenommenen Prinzipien auch auf andere Bereiche der Lebensgestaltung erstrecken, und eventuell im Umgang mit Problemen und Schwierigkeiten zum Tragen kommen. Die zweite Stufe richtet sich an die Lehrer oder auch Schüler mit einer deutlich stärkeren Bindung an die Kampfkunst (also einem Trainingspensum von 4x oder mehr die Woche). Um hier die Rolle von bu als Mittel für bun zunächst zu klären, und dann darüber hinaus auch in den Unterricht und die eigene Lebensplanung zu integrieren ist das eigene Studium unerlässlich. Die Texte des budô (d.h. die modernen Bücher zum Thema sowie die Abhandlungen der „Gründerväter“) beziehen sich in der Regel auf die Schriften des bunburyôdô; dieser Umstand sollte bereits deutlich machen, dass eine Auseinandersetzung mit den in deutscher und evtl. englischer Übersetzung vorhandenen Schriften dieses Genre („Buch der Fünf Ringe“, „Kunst der Bergdämonen“, „Interne Überlieferung der Kampfkunst“, „Aufzeichnung über die wunderbare Weisheit des unverrückbaren Geistes“ u.a.) für ein tiefergehendes Verständnis unerlässlich ist. Dabei wird man feststellen, dass diese Texte sich ihrerseits wieder auf die klassischen Schriften des Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus, sowie auf die klassische chinesische Kriegskunst (z.B. Sunze) und traditionelle chinesische Medizin (TCM) beziehen. Wer also bunbu-ryôdô zumindest annäherungsweise ganz erfassen möchte, wird nicht umhinkommen, sich auch mit diesen Traditionen, wenigstens partiell (d.h. in Form von einführenden Werken), auseinander zu setzen. Dieses Wissen gilt es dann in einem zweiten Schritt auf sich selbst anzuwenden – die Auseinandersetzung mit dem eigenen Welt-, Menschen- und Selbstbild, den eigenen, offenkundigen (bewussten) und verborgenen (unbewussten) Schwächen und Stärken, Wünschen und Ängsten wird somit nach und nach zum eigentlichen Hauptanliegen. Für die Trainingsgestaltung kann dies bedeuten, solche Themen verstärkt aufzunehmen; z.B. durch gelegentliche oder regelmäßige Seminartage und dergleichen. Daneben müssen jedoch auch die Grenzen der Vermittlung eines solchen, bu als Mittel für bun nehmenden, Weges erkannt werden, welche ihren Hauptgrund in der ganz natürlichen Zufriedenheit der meisten Schüler mit dem Bereich der obigen „ersten Stufe“ haben. Entscheidend ist denn auch vielmehr die Gestaltung des eigenen Übungsprogramms; anstelle von 5-7x die Woche eine Disziplin zu verfolgen, wäre es denn wohl – zumindest eine Zeitlang – angebrachter, 3-5x der Hauptdisziplin (z.B. Karate oder Taekwondo) nachzugehen, sowie sich 1-2x mit einer ergänzenden, in der Regel „weichen“ bzw. „langsamen“ Kunst (z.B. Yoga, Taiji, Qigong) und 1-2x mit einer primär nicht-physischen Übung (Meditation o.ä.) zu beschäftigen. „Die Suche bestimmt den Weg, aber das Ziel bestimmt die Suche. Unser erstes und dringlichstes Anliegen muss es daher sein, unseren Weg zu erkennen und ihm zu folgen; dann werden wir unsere Suche verstehen, und dann werden wir schließlich auch unser Ziel verstehen.“ In diesem Sinne sei allen ernsthaft Interessierten der Mut und die Ausdauer gewünscht, welche erforderlich sind für ein Eintauchen durch die Oberfläche des Bekannten und Vertrauten hinein in die vielfältige, lebendige und zeitlose, namenlose Wirklichkeit, die allen wahren Wegen gemeinsam ist und die zur einen Quelle zu führen vermag.
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