Komm, o Schlaf

Gesellschaft
Komm,
o Schlaf
Selbstoptimierung II Der Schlaf
war die letzte leistungsfreie
Zone. Das ist vorbei. Ein Brief
an die Aussteller der Berliner
Schlafmesse „Sleep for it“.
wir trafen uns vor ein paar Tagen auf einer Messe in Berlin. Der „Sleep for fit“ –
der Messe „für erholsames Schlafen“. Ihr
habt dort allerhand Sachen ausgestellt
und Vorträge gehalten. Ich bin dort rumgelaufen und habe nach Lösungen für
mein Schlafproblem gesucht. Meine Frau
nennt mich zärtlich „die Wanderhure“,
weil ich nachts, getrieben von innerer
Unruhe und Schlaflosigkeit, oft vom Ehebett ins Gästezimmer wandere. Und wieder zurück.
Zuerst habe ich mir auf der Messe die
ganzen Matratzen und Betten angeschaut. Schön fand ich die Zirbenholzbetten. Ein Zirbenbett, so erfuhr ich,
entlastet das Herz um 3500 Schläge pro
Tag. Durch die Zirbenkraft. Hingezogen
fühlte ich mich aber auch zur futuristischen „Technogel“-Matratze. Die soll
„die Leichtschlafphase um bis zu 33 Prozent reduzieren, den Tiefschlaf dagegen
um bis zu 45 Prozent verlängern“. Tiefschlaf, mein Gott, wie gut das klang!
Den Kopf voller Matratzenfragen, verpasste ich dann fast den Vortrag zum
„Betthöhlenklima“ von Dr. Günter
Schulz. „In der Betthöhle sollte ein Klima sein, das warm, aber trotzdem trocken ist“, sagte Schulz. Klimamäßig würde er eine „Bettdecke mit Klimazonen“
empfehlen. „Der Tiefschlaf steigt dadurch um 20 Prozent.“ Dann sprach
Schulz weiter über Klimazonen, bis ich
das Gefühl hatte, ich bin gar nicht auf
der Schlafmesse in Berlin, sondern auf
der Klimakonferenz in Tokio.
Ich war dann auch ein bisschen müde.
Aber ich dachte: Supermatratze, Superklimabettdecke, was kann ich noch tun
für meinen Schlaf? Der Superschlafanzug.
Schlafanzüge, das merkte ich schnell,
sind aber eher Neunzigerjahre. Es gibt
jetzt die „Performance Sleepwear“ – mit
„Wärmemanagement und optimalem
Feuchtigkeitsmanagement“ in Verbin-
dung mit einer „idealen Druckverteilung“. Zusätzlich wurde mir von Euch,
liebe Sachverständige, empfohlen,
doch mal den „Sleep Optimizer“ zu probieren. Ein Granulat, das die „Erholungsprozesse von Körper und Geist im Schlaf
optimiert“.
Da wurde ich dann ein bisschen unsicher. Ein Gefühl, das sich verstärkte,
als ich die „SleepLeggings“ mit „AntiCellulite-Funktion“ für Frauen in den
Händen hielt. Spontan gingen mir zwei
Dinge durch den Kopf: 1. Gott, der Barmherzige, möge verhindern, dass meine
Frau jemals mit Anti-Cellulite-Höschen
ins Bett steigt. 2. Es ist ein Wahnsinn,
was heute vom Schlaf erwartet wird. Er
soll fit machen und schlank und leistungsfähig. Er soll einem etwas bringen,
über den Schlaf hinaus. Er soll, nach
Möglichkeit, effizient sein.
Liebe Sachverständige, das Schöne
am Schlaf war doch immer, dass er eine
völlig leistungsfreie Zone war. Ein Ruhebereich, sich selbst genügend. Vielleicht
der letzte. Vom Essen wird heute längst
erwartet, dass es nicht nur schmeckt und
sättigt, sondern bitte auch Schönheit
und Gesundheit bringt. Oder wenigstens
die Darmflora aufpoliert. Aus Sport wurde Fitness. Aus Entspannung Wellness.
Nur der Schlaf blieb einfach Schlaf. Mal
gut, mal schlecht. Das fand ich sympathisch.
Jetzt gibt es Schlaf-Apps und den „SE
80 SleepExpert“ – eine runde Scheibe,
die aussieht wie ein Frisbee. Die soll ich
mir unter die Matratze schieben, wo der
SE 80 dann alles vermisst: Schlafphasen,
Einschlafdauer, Aufwachhäufigkeit.
Mit einer App wird die Schlafqualität
berechnet und mein „Sleep Score“ angezeigt.
Ich möchte aber niemand sein, der seinen Sleep Score misst. Wozu überhaupt?
Lieber bleibe ich die Wanderhure.
Oder gehe zum „Schlafcoach“. Alles
wird ja heute gecoacht. Die Beziehung,
die Persönlichkeit, der Sex, die Arbeit.
Beim Messe-Workshop „Grifftechniken und Atemübungen gegen das Gedankenkarussell“ sagte der Schlafcoach:
„Wir müssen Schlafkompetenz erlangen!“
Und: „Tagebuch führen bringt Entkopplung vom Alltag!“ Was dann auch wieder stressig klang. Kompetenz erlangen,
Tagebuch führen.
Ich will doch einfach nur schlafen.
DER SPIEGEL 17 / 2016
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