PREIS DEUTSCHLAND 4,90 € DIEZEIT WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 2. JUNI 2016 No 24 Viel studiert, nichts kapiert An den deutschen Universitäten wird oft falsch gelernt – und falsch gelehrt VW, Mercedes & Co. In Vorstandsetagen hat immer noch der Machtmensch das Sagen: Eine Wutrede des Topmanagers Thomas Sattelberger Chancen Dazu: Wie Daimler die Verbraucher mit einem angeblichen »Umweltauto« narrte Titelillustration: Mart Klein & Miriam Migliazzi für DIE ZEIT Wenige entscheiden, viele leiden Die Geisterschiffe In Japan werden seit Jahren Boote mit toten Seeleuten angespült. Wer waren die Männer? Dossier WIRTSCHAFT ERTRUNKENE IM MITTELMEER STAAT UND MARKT Lautes Schweigen Tod eines Dogmas Jenseits der Asyldebatte ist es längst Konsens in Europa, dass man keine Flüchtlinge mehr aufnehmen will VON CATERINA LOBENSTEIN F lüchtlingspolitik? Geht kurz gefasst so: Merkel gegen Seehofer, Merkel gegen Orbán, Merkel gegen Hol‑ lande. Wutbürger gegen Gutmensch. Böhmermann gegen Erdoğan. Gau‑ land gegen Boateng. Es scheint, als hätten die Flüchtlinge Europa zweigeteilt, als ginge ein Riss durch die EU, so tief wie nie. Zwischen denen, die Flüchtlinge willkommen heißen, und denen, die skeptisch sind. Zwischen Menschen, für die Muslime und Schwarze zu Eu‑ ropa gehören. Und denen, die das anders sehen. In nur einem Jahr hat es Europa geschafft, die Flüchtlinge hinter der Flüchtlingsdebatte ver‑ schwinden zu lassen. Doch der Riss ist eine op tische Täuschung, der Streit um Merkels Will‑ kommensgruß und Seehofers Obergrenze, um Böhmermanns Gedicht und Boatengs Nach‑ barn: alles Ablenkung. Ablenkung davon, dass in Europa Konsens herrscht in der entscheidenden Frage, ob Menschen, die Schutz suchen, die EU überhaupt noch betreten sollen. Die Antwort lautet: Möglichst nicht (auch wenn der Preis da‑ für hoch und schmutzig ist). Die neue asylpoliti‑ sche Eintracht reicht von Budapest bis nach Berlin, sie stützt das umstrittene Abkommen mit der Türkei. Und selbst wenn dieses Abkommen scheitern sollte: Der Konsens wird zweitverwer‑ tet. Seit Wochen planen EU-Strategen, wie sie Grenzkontrollen dort verschärfen, wo zurzeit die meisten Flüchtlinge aufbrechen: in Afrika. Ein Liebespaar wird geborgen: Zwei einander umarmende Leichen Europas Regierungen überwachen das Mittel‑ meer mit Satelliten, sie schicken Drohnen nach Nordafrika. Sie bereiten Grenzschutzverträge vor, auch mit Diktaturen wie Ägypten und dem Sudan. Sie drängen auf einen Deal mit Libyen, sie denken darüber nach, dort Gefängnisse zu finanzieren, in denen Flüchtlinge eingesperrt werden. In den vergangenen Jahren haben Men‑ schenrechtsorganisationen solche Haftlager be‑ sucht. Sie konnten zeigen, dass dort gefoltert wird. Dass es Wachen gibt, die Flüchtlinge ver‑ gewaltigen, sie an Freier verkaufen und an Men‑ schenschmuggler. Vor einigen Wochen haben Wärter in einem dieser Lager wahllos in die Menge geschossen, mehrere Flüchtlinge starben. Früher wurden solche Abkommen von Hard‑ linern verhandelt. Von Italiens ehemaligem Re‑ gierungschef Berlusconi zum Beispiel, der Libyens Diktator Gaddafi rund drei Milliarden Euro bot, auf dass er die Grenzen bewache. Heute tütet die EU diese Deals mit vereinten Kräften ein. Der Konsens, der das möglich macht, ver‑ birgt sich hinter den lautstarken Debatten. Man bemerkt ihn immer dann, wenn Stille herrscht. Als die AfD-Chefin Frauke Petry forderte, an Europas Grenzen müsse geschossen werden: em‑ pörte Kommentare aus den Parteizentralen. Als der erste tödliche Schuss auf einen Flüchtling fiel, an der bulgarisch-türkischen Grenze, war die Empörung kaum hörbar. Als der AfD-Vize Alexander Gauland über den Fußballer Jérôme Boateng sagte, viele Deutsche wollten »einen wie Boateng« nicht als Nachbarn haben: Shitstorm von allen Seiten. Aber war ein Mucks zu hören, als einige Wochen zuvor geheime Papiere aus Brüssel an die Öffentlichkeit gelangten? Als nachzulesen war, dass die Europäische Union Flüchtlinge zurück nach Libyen schicken lassen will, dorthin, wo Schwarze nicht diskriminiert werden, sondern versklavt? Nach einem Jahr Flüchtlingskrise ist klar: Auch Empörung hat ihre Außengrenzen. Längst verlaufen die Grenzen der europäi‑ schen Menschlichkeit nicht mehr quer durch Europa, sondern um Europa herum. Am Mittel‑ meer entlang, wo in diesem Mai so viele gestor‑ ben sind wie noch nie zu dieser Jahreszeit. Gerade stellte die italienische Marine das Vi‑ deo eines kenternden Kahns ins Netz, mit mehr als 500 Passagieren, die voller Angst im Wasser strampeln. Hilfsorganisationen befragten Über‑ lebende, Retter gaben Interviews, allmählich er‑ gab sich ein Bild: In der vergangenen Woche sind vor der libyschen Küste mindestens sechs Boote gesunken und 880 Menschen gestorben, schätzt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Mit Netzen habe man Menschen aus dem Wasser gefischt, sagen die Retter, tote und lebendige. Ein Liebespaar sei geborgen worden, zwei einander umarmende Leichen. Ein totes Baby, von dem es ein Foto gibt, die Füße schrum‑ pelig, die Lippen blau. Als das Foto Europa er‑ reichte, feilte die EU am Deal mit der Türkei, der vor allem eins bewirkt: dass die Flüchtlinge draußen bleiben. Und Deutschland stritt darü‑ ber, ob der Vizesprecher einer mittelgroßen Pro‑ testpartei ein Rassist ist oder nicht. www.zeit.de/audio Ausgerechnet der Internationale Währungsfonds ruft das Ende des Neoliberalismus aus – und was kommt jetzt? VON MARK SCHIERITZ I deologien sterben einen leisen Tod. Ist ihre Zeit gekommen, werden sie klammheim‑ lich entsorgt, dann stellt niemand unan genehme Fragen. Umso bemerkenswerter, dass am vergangenen Freitag eine der wirkungsmächtigsten Ideologien der Nach‑ kriegszeit hochoffiziell zu Grabe getragen wurde: der Neoliberalismus. Wie es dazu kam? Der Internationale Wäh‑ rungsfonds (IWF) hat eingeräumt, dass die Ent‑ fesselung der Marktkräfte die Wirtschaft in vie‑ len Fällen nicht wie erhofft gestärkt, sondern vielmehr geschwächt habe. Dazu muss man wis‑ sen, dass es sich beim IWF um jene Institution handelt, die genau diese Entfesselung mit gro‑ ßem Eifer vorangetrieben hat und so zum Hass‑ objekt von Globalisierungskritikern in aller Welt wurde. Wenn sich der Fonds jetzt vom Neolibe‑ ralismus distanziert, ist das ungefähr so, als gäben die Grünen die Ökologie auf oder der Papst schwörte dem Katholizismus ab. Auf dem Markt agieren Menschen, deshalb braucht er Schranken Tatsächlich ist es still geworden um die Ver heißungen der neoliberalen Revolution, die un‑ ter Ronald Reagan und Margaret Thatcher ihren Siegeszug antrat und Deutschland in Gestalt von Agenda-Reformen und Finanzderegulierung er‑ reichte. Nach fast drei Jahrzehnten neoliberaler Politik bleibt festzuhalten: Die Weltwirtschaft befindet sich in einem permanenten Krisen zustand, für die Fehlspekulationen einer globa‑ len Finanzelite musste die Allgemeinheit auf‑ kommen, und in fast allen Industrienationen ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer ge‑ worden. Das muss man erst einmal schaffen. Dabei war das mit dem Markt im Grunde gar keine schlechte Idee. Schon Karl Marx wusste um den emanzipatorischen Gehalt der kapitalis‑ tischen Produktionsweise, in der, wie er es for‑ mulierte, »alles Ständische und Stehende ver‑ dampft«. Ganz konkret haben in Asien Millio‑ nen Menschen den Weg aus der Armut geschafft und in Deutschland Frauen deutlich mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt als vor zwanzig Jahren. In den Geschichten über die sogenannte gute alte Zeit bleibt das meistens unerwähnt. Zur Ideologie wurde der Neoliberalismus, weil seine Anhänger irgendwann anfingen, sich als Prediger einer Heilslehre zu verstehen, über Notfalls ein Putsch! Was, wenn Trump doch Präsident wird? Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Richard Ford Feuilleton PROMINENT IGNORIERT die nicht weiter diskutiert werden muss. Die Politik war daran nicht unbeteiligt. Sie hat sich von der Arroganz blenden lassen, statt die neo liberale Theorie als das zu behandeln, was sie in ihrem Kern ist: eine von vielen möglichen Sicht‑ weisen auf die Welt. Das hat die Praxis inzwi‑ schen eindrucksvoll gezeigt. Die Finanzkrise hat die Geschäftsgrundlage für Neoliberale – und Ökonomen generell – in‑ soweit verändert, als diese ihren Platz in der ers‑ ten Reihe verloren haben. Da würden sie gern wieder sitzen, aber dann hätten sie rechtzeitig darüber nachdenken sollen, ob es wirklich der allgemeinen Wohlfahrt dient, wenn Devisen‑ händler Milliardensummen um den Erdball transferieren. Auch auf dem Markt agieren Men‑ schen, deshalb braucht er Schranken. Es wäre aber falsch, das Scheitern des Neo liberalismus mit einem Scheitern der Marktwirt‑ schaft gleichzusetzen. Gescheitert ist eine spezi‑ fische Form der Marktwirtschaft, die auf gesell‑ schaftliche Belange keine Rücksicht nimmt. Es gibt – siehe Frankreich – Länder, die einen or‑ dentlichen Schuss Markt durchaus vertragen könnten. In den USA hingegen dürfte allmäh‑ lich ein Punkt erreicht sein, an dem ein weiterer Rückzug des Staates die Menschen nicht mehr befreit, sondern neue Abhängigkeiten schafft. Vielleicht ermöglicht genau diese Ambivalenz eine produktive Auseinandersetzung mit der Frage nach dem richtigen Verhältnis von Staat und Markt. Indizien dafür gibt es: Ökonomen tun sich mit Historikern und Neurowissen‑ schaftlern zusammen, um aus der Geschichte zu lernen und das menschliche Verhalten besser zu verstehen. Und in Deutschland regiert eine Bun‑ deskanzlerin, die einst als Wirtschaftsreformerin angetreten war und jetzt den Mindestlohn gut findet und Griechenland die Schulden erlassen will. Es wachsen wundersame Blumen auf den Trümmern des Neoliberalismus. Wohin das alles führt? Schwer zu sagen. Eine gute Nachricht ist es trotzdem. Ökonomie ist die Lehre vom Umgang mit knappen Ressourcen, insofern könnten die Ökonomen einiges zur Lösung der Großprobleme des 21. Jahrhunderts – Klima, Demografie, Migration – beitragen. Falls sie sich öffnen. Immerhin zeigt die Selbst‑ kritik des IWF, dass das System lernfähig ist. Und das spricht für das System. www.zeit.de/audio Arme Karnickel Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Frauen seines Landes abermals ermahnt, die Empfängnis nicht zu verhüten. Zahlreiche Kinder zu gebären sei die wahre muslimische Haltung. War das seine Antwort auf die Bemerkung von Papst Franziskus, die Katholiken müssten sich nicht vermehren wie die Karnickel? Im edlen Wettstreit um die weibliche Fertilität jedenfalls hat Erdoğan die Nase vorn. GRN. Kleine Fotos (v. o.): Katrin Spirk für DIE ZEIT; Kosuke Okahara für DIE ZEIT; alimdi Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DK 49,00/FIN 7,50/N 66,00/E 6,10/ CAN 6,30/F 6,10/NL 5,30/ A 5,00/CH 7.30/I 6,10/GR 6,70/ B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00 o N 24 7 1. J A H RG A N G C 7451 C 24 4 190745 104906
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