SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Das kann doch nicht wahr sein! –
Musikalische Irrtümer (5)
Das nimmt doch keiner so genau…
Mythenbildung in der Biographik
Von Nele Freudenberger
Sendung:
Freitag, 03. Mai 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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SWR2 Musikstunde mit Nele Freudenberger
Das kann doch nicht wahr sein! – Musikalische Irrtümer (5)
Das nimmt doch keiner so genau… Mythenbildung in der Biographik
Signet
Mit Nele Freudenberger. Gerade im 19. Jahrhundert gab es einen wahren GenieKult! Kein Wunder also, dass manche Biographen dem Gegenstand ihres
Schreibens die eine oder andere Kleinigkeit dazu gedichtet oder auch
weggelassen haben, um die Person in besserem Licht erscheinen zu lassen. Oder
auch sich selbst. Auf diesem und auf anderem Wege haben sich so manche
Irrtümer in die Köpfe des Publikums geschlichen. Unser Thema in der heutigen
Musikstunde
Kennungsmelodie
Ludwig van Beethoven. Grimmig, unfrisiert, genial. Das wir ihn für genial halten,
erklärt sich von selbst und ist auf seine Kompositionen zurückzuführen, dass wir
einen etwas strubbligen Eindruck von ihm haben liegt an dem berühmten
Gemälde von Joseph Karl Stieler, dass Beethoven etwas grimmig gewesen sein
muss – oder zumindest so wirkte – kann man Zeitzeugenberichten entnehmen,
dem Gesichtsausdruck auf besagtem Gemälde oder auch den Worten mit
denen das von Beethoven verfasste Heiligenstädter Testament beginnt: „Oh ihr
Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet oder
erkläret, wie unrecht tut ihr mir!“
Viele andere Eindrücke verdanken wir seinem Freund Anton Schindler [räusper]
so zumindest hat Schindler sich gerne in Beethovens Biographie dargestellt, die er
praktischerweise selber geschrieben hat.
Da die Forschung aber zuverlässig ist und nicht alles glaubt, was man ihr auftischt,
wurde recht schnell klar, dass Schindler hier Schindluder betrieben hat.
Schindler war eher eine Art Sekretär Beethovens. Er lebte also tatsächlich im
näheren Umfeld des Komponisten, aber von einem freundschaftlichen Verhältnis
kann keine Rede sein.
1840 erschien die von Anton Schindler verfasste, erste Beethovenbiographie. Für
seine Zeitgenossen musste sie erst einmal plausibel sein: denn wer wäre so
perfide, derart wichtige Dokumente zu fälschen! Tatsächlich hat er wohl
nachträglich Einträge in Beethovens Konversationshefte gemacht und hat auch
in anderen Dokumenten seine Spuren hinterlassen.
Der Grund ist ausgesprochen einfach: Schindler wollte sich als Beethoven-Kenner
und zwar sowohl seiner Werke als auch seiner Person unentbehrlich machen und
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so beförderte er sich in seinem eigenen Werk zu Beethovens Kompositionsschüler
und seinem innigsten Freund – eine Freundschaft, die laut Schindler sehr viel
länger dauerte, als die beiden sich tatsächlich kannten.
Deswegen ist alles, was man in dieser Biographie über das Verhältnis zwischen
Beethoven und Schindler lesen kann wahrlich mit Vorsicht zu genießen.
Mit einem allerdings hat Schindler auf jeden Fall Recht: Beethoven war ein Genie,
dessen Werk die Zeiten überdauert!
Musik 1
Ludwig van Beethoven
Final Chor: O welche Lust, in freier Luft; Fidelio
Leonard Bernstein, Wiener Philharmoniker, Chor der Wiener Staatsoper
M0028671
Zeit: 7:16
Der Chor „O welche Lust, in freier Luft“ aus Beethovens Oper „Fidelio“. Leonard
Bernstein dirigierte die Wiener Philharmoniker und den Chor der Wiener
Staatsoper.
Musik von Ludwig van Beethoven – einem der Titanen der Musikgeschichte, was
auch sein Biograph Anton Schindler wusste – weswegen er seine Rolle in
Beethovens Leben etwas aufgepeppt hat, indem er Quellen fälschte.
Beethoven war ja nun schon zu Lebzeiten ein großer Name und auch in der
Romantik war Beethoven das Komponistenvorbild schlechthin.
Also eigentlich sollte es einen Komponisten doch freuen, wenn er als „Erbe
Beethovens“ bezeichnet wird – oder?
Aber Johannes Brahms empfand diese Äußerung wohl nicht als Lob, sondern als
Bürde. Josef Helmesberger – Komponist, Dirigent und Geiger fand diese
mächtigen Worte.
Auch Robert Schumann schrieb in der Neuen Zeitschrift für Musik, dass Brahms ein
Berufener sei!
Mit großem Lob und dem daran hängenden Erwartungsdruck konnte Brahms
offenbar nicht umgehen.
Wenn man bedenkt, dass er seine frühen Kompositionen häufig unter Pseudonym
herausbrachte und um auf Nummer Sicher zu gehen, ihnen höhere Opuszahlen
gab, dann kann man sich vorstellen, dass er unter schweren Selbstzweifeln litt und
diese Art von Lob eher als Druck empfand.
Dass Brahms übermäßig selbstkritisch war, lässt sich an unterschiedlichen Dingen
fest machen. Zum Beispiel an seiner 1. Sinfonie, an der er beeindruckende 14
Jahre gearbeitet hat, bevor er sie aufführen ließ – und selbst dann war er noch
nicht zufrieden und nahm noch ein paar Korrekturen vor. Und das mit den
Eingriffen betrifft fast alle seine Kompositionen: er änderte und verwarf oder
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vernichtete sogar, was ihm nicht gefiel. Sein Klaviertrio op. 8 liegt sogar in zwei
Fassungen vor, weil der junge Brahms es aus einer für ihn ungewöhnlichen Laune
heraus praktisch sofort in den Druck gegeben hat. Die zweite Fassung die 35
Jahre später erschien, ist dann die korrigierte Version der ersten. Offenbar hat es
den akribischen Brahms dann doch gewurmt, dass er diese erste Fassung des
Trios schon hat drucken lassen!
Man sieht also: Brahms war wahrlich kein Beethoven – zumindest nicht, was die
Arbeitsweise anging. Ein Irrtum also zu glauben, es würde einen Komponisten
zwangsläufig stolz machen, wenn man ihn für den Nachfolger Beethovens hält…
Jetzt die jugendliche erste Fassung des H-Dur Trios
Musik 2
Johannes Brahms
Trio Op. 8 (erste Fassung von 1854)
Scherzo-Trio-Tempo primo
Trio Parnassus
M0019101 006
Zeit: 6:20
Der zweite Satz aus dem H-Dur Trio op. 8 Johannes Brahms – das Trio Parnassus
hat die frühe Fassung von 1854 gespielt in der SWR2 Musikstunde.
Brahms, ein Genie, das allerdings nicht so recht mit der hohen Erwartung
umzugehen wusste, dass man in ihm einen Nachfolger Beethovens sah.
Ein Versuch, einen Mythos um einen Mann zu stricken, der ihn selber gar nicht
wollte!
Das gleiche kann man sicherlich auch von Johann Sebastian Bach sagen.
Bei ihm verhielt es sich allerdings etwas anders. Er kam aus einer Musikerfamilie, in
der Musik über Generationen schon ein BERUF war, der gelernt und nach
bestimmten Regeln ausgeführt wurde. Bach war also im weitesten Sinne ein
Handwerker. Deswegen kam auch zu Bachs Lebzeiten – und er vermutlich am
allerwenigsten – niemand auf die Idee, er sei ein Genie. Er war sehr gut, ja, aber
dieser Geniekult den gab es einfach noch gar nicht. Die Person hinter dem
Musiker, mit all ihren Empfindungen, Emotionen und auch Alltäglichkeiten,
interessierte keinen.
Entsprechend hielt man es nicht für nötig, Briefe oder Aufzeichnungen über ihn
aufzuheben – nicht wie später bei Mozart, der ja von Kindesbeinen an darauf
gedrillt wurde, gefälligst seinen Platz in der Musikgeschichte einzunehmen.
Die erste Bach Biographie ist erst 1802 erschienen – Johann Nikolaus Forkel hat sie
52 Jahre nach Bachs Tod geschrieben.
Zwar kannte Forkel Carl Phillip Emanuel und Friedemann Bach und ließ sich von
ihnen über den Vater berichten, aber mehr Quellen hatte er im Grunde nicht zur
Verfügung.
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Dazu kommt noch der Genie-Kult, der in Bezug auf die Person Bachs etwa mit der
Biographie von Forkel einsetzt, der aus seiner Bewunderung für Bach keinen Hehl
machte. Dieser Kult, der im Laufe des 19. Jahrhunderts noch weiter zunahm,
verbot quasi ein Genie als normalen, womöglich aufbrausenden Menschen
darzustellen, der Bach gewesen sein könnte – davon zeugen nicht zuletzt zwei
Geschichten: sein Gefängnisaufenthalt in Weimar (er hat einfach eine Stelle in
Köthen angenommen, ohne seine Weimarer Dienstherren um Erlaubnis zu bitten,
was diese gar nicht lustig fanden) und natürlich auch die Geschichte mit dem
Zippelfagottisten… Mit diesem Wort soll er nämlich einen Schüler beleidigt haben
– was auch immer ein Zippelfagottist sein mag – und dieser forderte daraufhin
Satisfaction…
Bach bleibt ein Mythos – eben weil man so wenig über ihn persönlich, über
seinen Charakter weiß.
Dennoch ist er der Meister aller Komponisten. Allerdings auf eine sehr
unaufgeregte Art und Weise. Das ganze Brimborium um ihn haben andere
gemacht.
Jetzt ein Stück, dessen erste Skizzen angeblich bei besagtem
Gefängnisaufenthalt geschrieben worden sein sollen: D-Dur Präludium und Fuge
aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers
Musik 3
Johann Sebastian Bach
Präludium und Fuge D-Dur
Das wohltemperierte Klavier Band 1
Glenn Gould
Sony Classical, LC6868, sm2k 52600, 5099705260029
Zeit: 1:06 und 1:39
Glenn Gould mit Präludium und Fuge in D-Dur aus dem ersten Band des
wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach. Der vielleicht größte aller
Komponisten, die es je gegeben hat. Auf jeden Fall großes Vorbild für die
nachfolgenden Generationen.
Das Genie als das Ideal. Das Genie als idealer Mensch – ohne jeden Makel
(zumindest, was die Charaktereigenschaften angeht) das war ein Blick auf
Künstler, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu ändern begann. Aber
davor war man offenbar bereit, alles dafür zu tun, um Künstler als solche idealen
Menschen fast schon gottähnlich darzustellen.
Da durften auch schon mal biographische Quellen etwas frisiert werden.
Im Falle von Franz Liszt wurde zumindest der Versuch unternommen, ihn etwas
besser zu machen, als er offenbar war. Seine langjährige Lebensgefährtin
Carolyn Sayn-Wittgenstein war lebhaft daran interessiert, die Biographie ihres
Geliebten etwas aufzumöbeln. Wie praktisch, dass sie enge Kontakte zu seinen
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Biographinnen pflegte! Lina Rahmann die eine, La Mara – alias Marie Lipsius – die
andere.
La Mara hat die Aufgabe übernommen, die Liszt-Briefe herauszugeben. Sage
und schreibe 11 Bände – für die Musikwissenschaft von unschätzbarem Wert,
denn eine solche Sammelarbeit ist ohnehin schon sehr aufwändig, wird aber
immer schwieriger, je länger man wartet, da die Briefe sich immer mehr verlieren
und zerstreuen.
Wie dem auch sei, La Mara hat also die Liszt Briefe herausgebracht und war sich
ein Glück ihrer musikwissenschaftlichen Verantwortung bewusst! Das kann man
zumindest vermuten, weil sie in ihren Memoiren einen Brief zitiert, den SaynWittgenstein an sie geschrieben hat. Ein wunderbares Dokument, das ich
meinerseits jetzt in Teilen präsentieren möchte. Sayn-Wittgenstein schreibt an La
Mara über einen Band, in dem Briefe unterschiedlichster Prominenter
herausgegeben wurden – von La Mara natürlich:
„kommen wir zu denen von Liszt, die ich natürlich zuerst las, so bedauerte ich, sie
nach Art rohen Gemüses aufgetischt zu sehen. Als ich in der guten alten Zeit von
1848 nach Weimar kam, war eine Kommission damit beschäftigt alle Briefe und
Billette (wo Goethe Spargel schickte oder Ananas bekam) zu prüfen und nach
den Regeln der Grammatik in schöne Form zu bringen. Da ich Dr. Froriep […]
kannte, weiß ich, wie man da jedes Wort auf die Goldwage legte. Nun muss ich
gestehen, daß ich Liszts Genie und Esprit hoch genug stelle, um für ihn und seine
literarische Ehre eine ähnliche Rücksicht und Sorgfalt zu wünschen. […] Auch Liszt
legte viel Wert auf die Form – wer wüßte das besser als ich? Doch nicht immer hat
man Zeit und Stimmung hierzu: auch lassen uns momentane Eindrücke oft
aussprechen, was nicht der Mühe wert ist auf die Nachwelt zu kommen. Liszt war
sehr indigniert über die Menge gänzlich indifferenter Briefe, die in der
Goethesammlung Platz gefunden haben. Bei einer solchen Überfülle, sagte er,
gehen die guten Sachen unter den mittelmäßigen ganz verloren.
Man kann sich vorstellen, welche Anforderungen Männer von hoher literarischer,
nicht nur musikalischer Bildung an Briefe eines Mannes stellen, der wie Liszt die
Hälfte seines Lebens in den höchsten Schichten der Gesellschaft zugebracht hat.
Darum möchte ich, daß man ihn in seinen Briefen ordentlich en toilette sehe.
Man sage nicht, dass sie ihn dann nicht seiner vollen Natur nach zeigen würden.
Eine ordentliche Toilette ändert die Natur ebensowenig, als der Mann oder die
Frau, die frühmorgens im Schlafrock sitzen, ihre Natur ändern, wenn sie
gewaschen, gekämmt, sorgfältig angezogen vor der Welt erscheinen.“
So Sayn-Wittgenstein in ihrem Brief an La Mara. Außerdem legt sie La Mara in
dem Brief noch nahe, mit der Herausgabe einige Jahre zu warten, weil das
Publikum dann mehr Interesse und der Blick auf Liszt sich dann schon etwas
verklärt habe!
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Zwar erschienen die Briefe nicht sofort – aber das hat wohl eher etwas mit dem
Arbeitsaufwand einer solchen Sammlung zu tun – aber immerhin hat La Mara sie
nicht en Toilette präsentiert.
Was Liszt wohl davon gehalten hätte….
Musik 4
Franz Liszt
Années de Pèlerinage – erstes Jahr „Schweiz“, Pastorale
Michael Korstick
M0280786 003
Zeit: 1:35
Die Pastorale aus Franz Liszts Klavierzyklus „Années de Pèlerinage“ – erstes Jahr:
„die Schweiz“. Gespielt hier in der SWR2 Musikstunde von Michael Korstick. Liszt
wurde vor allem von den Frauen um ihn herum zum Genie und zum Star stilisiert.
So sehr, dass seine langjährige Lebensgefährtin sogar seine Briefe frisieren wollte,
um ihn posthum in ein besseres Licht zu rücken.
Wenn wir schon bei Liszt sind, ist der Weg zu Wagner nicht weit. Schließlich war
der mit Liszts Tochter Cosima verheiratet und Liszt außerdem ein großer Förderer
von Wagners Werken.
Wohl um kaum einen Komponisten rankt sich ein so starker Mythos, wie um
Richard Wagner. Den zu kreieren war sicherlich nicht leicht und wurde schon zu
seinen Lebzeiten in Angriff genommen – auch durch ihn selbst. Seine Idee vom
Gesamtkunstwerk, davon, dass Kunst in der Lage wäre, den Menschen zu
verbessern rührte seine Zeitgenossen offenbar an. Mal ganz abgesehen davon,
dass er ein fantastischer Komponist war. Mit Bayreuth ging der Mythos Wagner
quasi in die zweite Runde! Bayreuth selbst wird zum Mythos. Eine kleine
bayerische – Entschuldigung, fränkische – Provinzstadt, die im Rest von
Deutschland vermutlich niemand kennt. Bis die Wagners einfallen. Seither ist
dieses Städtchen untrennbar mit dem Namen Wagner verbunden – Bayreuth ist
Synonym für die Festspiele und schon seit Generationen für den ganzen Wagner
Clan. Was für ein genialer Schachzug! Obwohl zu bezweifeln ist, dass Richard und
Cosima einen Erfolg mit dieser Tragweite geplant haben.
Schon zu Lebzeiten umflorte Wagner ein Hauch von Göttlichkeit. Seine Anhänger
nannten ihn Meister, bis heute schwingt in der Sprache von Wagnerianern etwas
Devotes mit. So schreibt 1876 Paul Lindau in seinen Pressekritiken nüchterne Briefe
aus Bayreuth „Es herrscht hier eine dienerhafte Unterwürfigkeit, von der man sich
kaum eine Vorstellung macht […] es kommt mir so vor, als sei die gute alte Zeit
des beschränkten Unterthanenverstandes wiedergekommen[…]“
Wagner schien sich in der Rolle gefallen zu haben und nach seinem Tod haben
sämtliche seiner Anhänger daran gearbeitet, dieses Bild des „Meisters“ zu
erhalten. Allen voran seine Frau Cosima.
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Dass die Nazis aus diesem Mythos dann etwas ganz eigenes gemacht haben,
steht auf einem anderen Blatt. Aber der Umstand, dass das überhaupt möglich
war spricht für sich.
Richard Wagner war ein Komponist, der offenbar nicht als Mensch sondern als
Genius wahrgenommen werden wollte und alles daran setzte, dass das auch
geschah. Denn wenn wir mal ehrlich sind: jemand, der seinem Freund,
finanziellen Unterstützer und Gönner die Frau ausspannt hat durchaus
menschliche Fehler…
Aber zugegeben wenig musikalische. Wer kann schon ein galoppierendes Pferd
inklusive wehender Mähne komponieren…
Musik 5
Richard Wagner
Die Walküre, Walkürenritt
Marek Janowski, Staatskapelle Dresden
Eurodisc, 00202, 301143-465, 887254622321
CD3 Track 6
Zeit 6:35
Der Walkürenritt aus der Oper „die Walküre“ von Richard Wagner. Marek
Janowski dirigierte die Staatskapelle Dresden. Heute dreht sich die SWR2
Musikstunde um musikalische Irrtümer, die im Umgang mit Biographien entstehen
können.
Ein wirklich großer biographischer Irrtum, dem ungeheuer viele Menschen
erlagen und vielleicht noch immer erliegen, basiert auf einem Film. Milos Forman
hat ihn gedreht und ihm ist mit „Amadeus“ ein absoluter Geniestreich geglückt –
leider hielten anschließend sehr viele Leute Salieri für den Mörder Mozarts….
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Peter Shaffer – der
übrigens auch das Drehbuch geschrieben hat.
Der Plot von Film und Stück besteht darin, das Antonio Salieri, alt und grau und
dem Tode nah, seine Geschichte erzählt. Salieri, der immer im Schatten Mozarts
stand, Salieri, der immer fleißig war, dem es aber an Genialität fehlte und Mozart,
der mit seinem ungeheuren Talent so verschwenderisch umging und der ein
liederliches Leben führte – eben eine Art Sex and Drugs and Rock’n’Roll.
Salieris perfider Plan: er schickt einen geheimen Auftraggeber, der Mozart
maskiert und anonym bittet, ein Requiem zu schreiben. Er taucht regelmäßig auf,
setzt Mozart, der sich zu Tode ängstigt unter Druck, bis er sich sprichwörtlich tot
gearbeitet hat.
Soweit Film und Theaterstück.
Ja, das Requiem ist Mozarts letztes Werk und nicht ganz vollendet worden. Ja,
lange Zeit wusste man nicht, wer der Auftraggeber war
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und schon ohne den Film rankten sich zahlreiche Mythen um dieses fantastische
Stück.
Aber dass Salieri ihm aus Neid einen gruseligen Kompositionsauftrag bescherte?
Mehr als unwahrscheinlich. Denn im Gegensatz zu Mozart hatte Salieri sein
regelmäßiges Auskommen. Seine Werke waren über die Maße beliebt und ob
Mozarts Genie damals wirklich so konkret wahrgenommen wurde ist eh fraglich.
Musikalische Revolutionen werden ja oft gerne erst im Nachhinein als lohnend
empfunden.
Aber auch Shaffer war bei weitem nicht der erste, der sich mit dem
Konkurrenzverhältnis zwischen Salieri und Mozart auf der Bühne
auseinandersetzte: kein geringerer als Alexander Puschkin tat das schon lange
vorher: mit seinem Drama „Mozart und Salieri“ von 1832 legte er wahrscheinlich
die Grundidee zu Shaffers Stück. Denn auch Pushkin lässt Salieri in die Rolle des
Neiders schlüpfen und auch er lässt einen geheimnisvollen Mann ein Requiem bei
Mozart in Auftrag geben.
Dass der Stoff publikumswirksam ist zeigt nicht zuletzt, dass aus dem Pushkin Werk
auch eine Oper entstanden ist: Nikolai Rimski-Korsakov hat sie komponiert, sie
trägt ebenfalls den Titel „Mozart und Salieri“
Jetzt aber Musik aus Mozarts letztem Werk, die Musik, die er nachweislich noch
selbst geschrieben hat: Introitus und Kyrie aus dem Requiem
Ach ja übrigens: inzwischen weiß man, dass der Auftraggeber Franz von Walsegg
war.
Musik 6
Wolfgang Amadeus Mozart
Requiem d-Moll
Introitus und Kyrie
Jos van Immerseel, Anima Eterna, Collegium Vocale Gent
M0305982 010 + 011
Zeit: 4:53 und 2:50
Jos van Immerseel dirigierte Anima Eterna und das Collegium Vocale Gent,
gespielt und gesungen haben sie Introitus und Kyrie aus dem Requiem von
Wolfgang Amadeus Mozart – ein Stück um das sich etliche Mythen und
Legenden ranken. Unter anderem ausgelöst, durch den Film Amadeus.
Legenden und Fehleinschätzungen können sich nicht nur um die Biographie von
Personen ranken, sondern auch um die von Klangkörpern.
Die Wiener Philharmoniker sind sicherlich einer der besten Klangkörper der Welt.
Berühmt ist vor allem ihr Neujahrskonzert, fast ein Muss für jeden Klassikfan, das
auch international im Rundfunk und im Fernsehen übertragen wird.
Eine Form des Konzerts, das etliche Orchester übernommen haben und wo Musik
von einem Komponisten eigentlich nicht fehlen darf: Johann Strauß Sohn.
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Die Wiener Philharmoniker gelten weltweit als das Orchester, dass die Musik von
Strauß am besten spielt, den Wiener Schmäh der Musik besonders gut beherrscht.
Anzunehmen, dass das immer schon so war, ist ein großer Irrtum. Auch wenn die
Wiener Philharmoniker 1842 gegründet wurden, also in genau der Zeit, in der
Straußens – also Vater und Sohn – ihre größten Erfolge feierten, kam eine
Annäherung an Strauß erst später zustande.
Genaugenommen lehnten die Philharmoniker es rundweg ab, Musik von Familie
Strauß mit in ihr Programm zu nehmen: zu seicht, leichte Unterhaltungsmusik –
man wollte schließlich den frisch gegründeten Ruf nicht gefährden.
Zu einer ersten Begegnung zwischen Johann Strauß Sohn und Wiener
Philharmonikern kam es erst im Jahre 1873 – also 31 Jahre nach der Gründung
des Orchesters.
Für den Opernball komponierte Strauß den Walzer „Wiener Blut“ und dirigierte die
Uraufführung wienerisch stilecht mit der Geige in der Hand. Das Publikum war
begeistert – und die Philharmoniker auch! Noch im selben Jahr gaben sie ein
Galakonzert, wiederum von Strauß dirigiert und mit seiner und seines Vaters Musik.
1894 – im Jahr von Johann Strauß Sohn fünfzigjährigen Dienstjubiläum beteiligten
sich die Wiener Philharmoniker auf Orchesterart: sie bestritten das Festkonzert.
Strauß war gerührt und schrieb: „Einstweilen schriftlich heißesten Dank den
großen Künstlern den berühmten Philharmonikern sowohl für Ihre Meisterleistung,
als auch für die Kundgebung Ihrer Sympathie womit Sie [sic!] die größte Freude
bereitet haben Johann Strauß“
Die nächste Begegnung gab es 1899 mit der Uraufführung der Fledermaus.
Der Ruf, ein wenn nicht gar DAS Straußorchester zu sein, mag aber vor allem
wirklich an den Neujahrskonzerten liegen, die es aber erst seit gut 75 Jahren gibt.
Begonnen hatte alles 1929 als Clemens Kraus bei den Salzburger Festspielen ein
reines Strauß-Programm dirigierte. Der Erfolg war immens, so dass bis 1933 jedes
Jahr ein solches Programm aufgeführt wurde.
1939 war es wieder Kraus, der am 31. Dezember ein Konzert dirigierte – diesmal in
Wien – dessen Erlös an die nationalsozialistische Spendenaktion
„Kriegswinterhilfswerk“ ging. Seit 1941 wurde diese Art von Konzert dann immer
am 1. Januar gegeben. Die Geburt des legendären Neujahrskonzert fällt also
ausgerechnet genau in die düsterste Zeit der europäischen Geschichte – in der
man gute Laune Musik á la Strauß wirklich gebrauchen konnte. Auch oder
gerade weil es eigentlich fehl am Platz war.
Dass die Wiener Philharmoniker also mal DIE Interpreten für die Musik von Johann
Strauß werden sollten, war zunächst nicht abzusehen. Deshalb jetzt das Werk, das
die Annäherung brachte: hier ist Wiener Blut, gespielt natürlich von den Wiener
Philharmonikern, es dirigiert Seiji Ozawa
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Musik 7
Johann Strauß Sohn
Wiener Blut
Seiji Ozawa, Wiener Philharmoniker
M0055582
Zeit: 8:20 + Beifall
Seiji Ozawa dirigierte die Wiener Philharmoniker und sie spielten „Wiener Blut“
von Johann Strauß Sohn. Ein Irrtum anzunehmen, dass die Wiener schon immer
ein Strauß-Orchester gewesen sind.
Damit geht unsere SWR2 Musikstunde für diese Woche zu Ende. Musikalische
Irrtümer haben uns beschäftigt und es bleibt die Frage zurück, bei welchen
Irrtümern es sich lohnt, mit ihnen aufzuräumen und mit welchen man eigentlich
ganz gut leben kann.
Sie können die Folgen der Musikstunde „musikalische Irrtümer“ noch eine Woche
im Internet nachhören unter SWR2.de da finden sie auch die Sendemanuskripte.
Mein Name ist Nele Freudenberger ich sage Tschüss und wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende!