Streiks ausgeweitet

Vier Tage Krieg
REUTERS/STAFF
Nach der jüngsten Eskalation
kommen aus dem Südkaukasus wi­
dersprüchliche Signale der verfein­
deten Staaten Armenien und Aser­
baidschan – eine vorläufige Lösung
des Konflikts könnte aber derzeit
möglich sein. Von David X. Noack
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Feindschema
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Rachejustiz
Bremsklotz
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Geht es nach der CSU, sollen Geflüchtete nicht nur Deutsch, sondern
gleich Bayerisch lernen
Unschuldig in US-Haft: Bürgerrechtskämpfer Leonard Peltier hat
wenig ­Hoffnung auf Freilassung
Energiewende verlangsamt: Bundesregierung moniert Kosten bei der
Umstellung der Stromproduktion
Bibbern vor Erdogan
Völkermordresolution: Deutsche Regierungsvertreter drücken sich um Abstimmung im
Bundestag. Von Nick Brauns und Michael Merz
D
Brüssel. Die EU-Kommission hat
im Streit um die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in Polen
am Mittwoch angekündigt, eine
offizielle Verwarnung an Warschau
zu verschicken. Brüssel hatte im
Falle Polens Mitte Januar erstmals
überhaupt eine Überprüfung der
Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat eingeleitet. Warschau
wird vorgeworfen, rechtswidrig
die Ernennung mehrerer Verfassungsrichter rückgängig gemacht
und Beschlüsse des Gerichts miss­
achtet zu haben. Die Kommission
kritisiert zudem, dass die Chefs
der öffentlich-rechtlichen Sender
künftig direkt von der Regierung
ernannt oder abberufen werden
können. Nach der Stellungnahme
der Kommission hat Warschau
nun zwei Wochen Zeit für eine
Reaktion. Nächste Stufe wäre dann
eine Empfehlung Brüssels, die
kritisierten Mängel abzustellen.
Erfolgt auch das nicht, könnte die
EU Sanktionen gegen Polen verhängen.
(AFP/jW)
STEFAN BONESS/IPON
ie türkische Regierung empörte sich am Mittwoch erneut
über die für den heutigen Donnerstag geplante Verabschiedung der
Völkermordresolution im Bundestag.
Bei den Massenmorden unter Verantwortung der jungtürkischen Regierung
waren mit Billigung des deutschen
Kriegspartners zwischen 1915 und 1916
bis zu 1,5 Millionen Armenier sowie
Aramäer und Angehörige weiterer
christlicher Minderheiten ums Leben
gekommen. Der Genozid wird von der
türkischen Regierung nach wie vor
vehement bestritten. Unionsfraktionsvize Franz Josef Jung (CDU) warnte
gestern: »Ich hoffe, dass es nicht zu
irgendwelchen Überreaktionen der
Türkei kommt.« Die parlamentarische
Geschäftsführerin der SPD, Christine
Lambrecht, pflichtete ihm bei: »Es geht
nicht darum, eine aktuelle Regierung zu
kritisieren, an den Pranger zu stellen.«
Trotz dieser Beschwichtigungen bezeichnete der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim die Abstimmung
als »absurd« und »lächerlich«. »Man
sollte die Geschichte den Historikern
überlassen«, sagte er weiter. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
prophezeite wegen der Einstufung als
Völkermord bereits eine Verschlechterung der deutsch-türkischen Beziehungen. Yildirim sprach zwar ebenfalls
von »negativen Auswirkungen« auf
das bilaterale Verhältnis zur BRD, der
Flüchtlingsdeal zwischen der EU und
der Türkei werde deswegen aber nicht
scheitern. Der Präsident Armeniens,
Sersch Sargsjan, bezeichnete die Resolution wiederum als »sehr wichtig« für
sein Land. Er habe »kein Verständnis«
für die Furcht deutscher Politiker vor
einer scharfen Reaktion Erdogans, sagte Sargsjan gegenüber Bild (Mittwoch-
Protest für die Anerkennung des Genozids an den Armeniern (Berlin, April 2015)
ausgabe). Nach anfänglicher Unterstützung der Resolution wird Vizekanzler
Sigmar Gabriel sich offenbar vor der
Abstimmung drücken. Frühzeitig und
demonstrativ hatte sich der SPD-Chef
festgelegt, für das Papier zu votieren.
Nun erfuhr die Nachrichtenagentur dpa
am Mittwoch, dass der Bundeswirtschaftsminister am heutigen Donnerstag parallel zur Entscheidung im Parlament vor 1.000 Teilnehmern beim Tag
der Bauindustrie reden müsse. Auch
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wird fehlen. Er besucht Argentinien und Mexiko. Ursprünglich hatte
er den Beschluss verhindern wollen.
Vizeregierungssprecherin Christiane
Wirtz sagte am Mittwoch in Berlin,
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sei
für die Resolution. An der Abstimmung
im Bundestag werde sie aber aus Termingründen »nach derzeitigem Stand«
nicht teilnehmen.
Unterdessen wurde gegen den früheren Linke-Bundestagsabgeordneten
Hakki Keskin ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet. Ein entsprechender
Antrag sei bei der Landesschiedskommission der Berliner Linkspartei gestellt worden, erfuhr junge Welt am Mittwoch aus dem Parteivorstand. Grund
dafür ist Keskins Rolle als Leugner des
Genozids sowie seine Mitgliedschaft in
der ultranationalistischen Heimatpar-
tei (Vatan Partisi) der Türkei. Letztere
gilt als äußerst militärnah, ihrer Führung gehören Generäle im Ruhestand
an, und die Partei begrüßt ausdrücklich
den Krieg gegen die Kurden. Zuletzt
war Keskin am Sonnabend in Berlin
als Redner auf einer Kundgebung türkischer Nationalisten einschließlich
Verbänden aus dem Spektrum der faschistischen Grauen Wölfe aufgetreten.
Am Dienstag hatte Keskin als LinkeMitglied in einem Debattenbeitrag der
Hannoverschen Allgemeinen Zeitung
die Vernichtung der Armenier erneut
als kriegsbedingte Zwangsumsiedlungen verharmlost.
Siehe Seite 3
Streiks ausgeweitet
Frankreichs Eisenbahner legen Arbeit nieder. Weitere Berufsgruppen wollen sich anschließen
D
er Streik der Angestellten
der französischen Staatsbahn
­SNCF hat zu Einschränkungen
im Schienenverkehr geführt. Am Mittwoch sollten nach Angaben der SNCF
nur ein Drittel der Intercity-Züge, jeder
zweite Regionalexpress und 60 Prozent
der TGV-Schnellzüge fahren. Betroffen waren auch viele Pendlerzüge im
Großraum Paris. Die wenigen Züge, die
fuhren, waren häufig überfüllt. Der unbefristete Ausstand hatte am Dienstag
abend begonnen und richtet sich gegen
Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen. Bei den TGV- und ICE-Verbin-
dungen nach Deutschland waren keine
Behinderungen registriert worden, gleiches gilt für die Eurostar-Züge nach
Großbritannien. Bei den Verbindungen
nach Belgien, wo am Dienstag gestreikt
worden war, Italien, Spanien und in die
Schweiz wurden dagegen viele Züge
gestrichen.
Außerdem kämpfen die Beschäftigen
gegen das von der französischen Regierung geplante neue Arbeitsrecht. Damit
sollen die Rechte der Lohnabhängigen
geschleift werden. Seit über drei Monaten mobilisieren die Gewerkschaften,
Parteien und linke Gruppen gegen das
Vorhaben des Kabinetts von Manuel
Valls. »Diese Woche wird die Woche
mit der stärksten Mobilisierung«, warnte der Chef der Gewerkschaft CGT,
Philippe Martinez, der die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform anführt.
Ein neuer Protesttag gegen Hollandes
Pläne ist zudem am 14. Juni geplant.
Die CGT hatte mit Streiks und Blockaden von Treibstofflagern und Ölraffinerien in der vergangenen Woche für
Benzin- und Dieselknappheit gesorgt.
Die Lage hat sich inzwischen zwar wieder entspannt, nach wie vor sind aber
sechs der acht französischen Raffineri-
Brüssel verschickt
­Verwarnung an Polen
LESZEK SZYMANSKI/DPA-BILDFUNK
Enttarnung einer verdeckten Ermittlerin in Hamburg wirft noch immer
viele Fragen auf. Interview
en von den Protesten betroffen.
Am heutigen Donnerstag ist ein
Streik bei den Pariser Nahverkehrsbetrieben RATP geplant, der aber nur
geringe Auswirkungen haben dürfte.
Arbeitsniederlegungen könnte es ab
Freitag auch bei den Fluglotsen geben.
Die Gewerkschaften wollen damit gegen Stellenstreichungen bei der zivilen
Luftfahrtbehörde protestieren, derzeit
wird aber noch verhandelt. Außerdem
drohen im Juni Pilotenstreiks bei der
Fluggesellschaft Air France aus Protest
gegen Lohnkürzungen.(AFP/dpa/jW)
Siehe Seite 7
Neue Regeln für Leiharbeit
und Werkverträge
Berlin. Das Bundeskabinett hat am
Mittwoch neue Regeln für Leiharbeit
und Werkverträge beschlossen. Der
Gesetzentwurf von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD)
sieht u. a. vor, dass Leiharbeiter spätestens nach neun Monaten wie die
Stammbelegschaft bezahlt werden
und nach maximal 18 Monaten übernommen werden müssen. Die Neuregelungen sorgten dafür, dass dem
Missbrauch ein Riegel vorgeschoben
werde, sagte Nahles.
Die Grünen-Politikerin Beate
Müller-Gemmeke kritisierte den
Entwurf als »große Mogelpackung«. Gleichen Lohn für gleiche
Arbeit gebe es frühestens nach
neun Monaten – dabei endeten
zwei Drittel der Leiharbeitsverhältnisse nach sechs Monaten. Die
Linken-Politikerin Jutta Krellmann
kritisierte die Neuregelungen als
»Murks, der allein den Arbeitgebern hilft«.
(AFP/jW)
wird herausgegeben von
1.832 Genossinnen und
Genossen (Stand 29.4.2016)
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