Bayer will Monsanto kaufen Zusammen wären die Firmen der weltweit wichtigste Saatgut- und Pestizidhersteller ▶ Seite 4 AUSGABE BERLIN | NR. 11025 | 21. WOCHE | 38. JAHRGANG DIENSTAG, 24. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ Jöööö! FILM Die deutsche Regisseurin Maren Ade hat in Cannes den internationalen Kritikerpreis geholt ▶ SEITE 15 ÖSTERREICH Der grüne GEWALT 22.960 rechts- Professor Alexander Van der Bellen gewinnt die Stichwahl zum Bundespräsidenten – mit 31.026 Stimmen Vorsprung ▶ SEITE 2, 3, 12 extreme Straftaten notierten die Sicherheitsbehörden im vergangenen Jahr ▶ SEITE 6 FERIENWOHNUNGEN Berliner Zweckentfremdungsverbot kommt ins Stocken ▶ SEITE 21 Fotos: dpa VERBOTEN Geh, bitte, meine gnädigen Damen und verehrten Herren! Uroarg, da ist es sich ums Oaschlecken noch mal aus gangen. Da dachte schon die hoibate Wöt, dei hohe Zeit wär lang vorüber, liebes Aus tria. Aber der greane Xandi hat den Hofer Norbi erfolgreich abbeidelt. Gscheit eine ange taucht hat er ihm, abgfotzt, den oiden Deppen. Da wird er gachzornig werden, der Un gustl, der dalkerte. Ein Wapler sondergleichen. Oder? Wo er doch so dermaßen reüssiert hat beim sogenannten anfa chen Volk. Da wird er jetzt aber dasig sein. Dös gschieht ihm gescheit recht! Und wenn ihr woits, sagts ganz allaa I am from Austria. Ein Murmeltier in den österreichischen Alpen grüßt den Sonnenaufgang Foto: Blickwinkel/picture alliance TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.889 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Groß war die Sorge vor einem Rechtspopulisten in der Wiener Hofburg. Hofer hatte im Wahlkampf angedeutet, dass er als Präsident das Parlament auflösen würde, sofern es seiner Partei, der FPÖ, nützen würde. Die punktet seit Jah- Europa atmet auf ren als vermeintliche Stimme des „kleinen Mannes“ mit Ausländerfeindlichkeit. Besonders in den Vorstädten und ländlichen Regionen verfangen die Botschaften der Rechtspopulisten. Deren Feindbild ist in Österreich nicht nur die Europäische Union. In unverschämter Weise provozieren FPÖ-Politiker immer wieder mit Anleihen beim historischen Nazismus. Ein FPÖ-Präsident in der Hofburg hätte sich weiterhin als Opposition zum „System“ und der Europäischen Union verstanden. Die spannende Frage in Österreich bleibt nun, wie die früheren Staatsparteien, also die sozialdemokratische SPÖ und die christlich-konservative ÖVP, auf ihre jüngsten Niederlagen reagieren. Der Grüne Van der Bellen lag jetzt in fast allen Städten vorn, aber nur in einem einzigen Flächenbundesland, in Vorarlberg. Dort regiert eine Koalition aus ÖVP und Grünen. Bei Schwarz-Grün in Vorarlberg und Rot-Grün in der Wiener Landesregierung lassen sich Modelle für eine erfolgreiche Modernisierung der ehemaligen Großparteien SPÖ und ÖVP finden. Demokraten müssen näher ran an die Ängstlichen und schlecht Gelaunten Die Schwäche von Christ- und Sozialdemokraten bildet den Ausgangspunkt für den Höhenflug der FPÖ. Wenn sich das Beinahewahldesaster nicht wiederholen soll, dann müssen die österreichischen Demokraten näher an die Bevölkerung heran. Sie müssen die Ängstlichen und die schlecht Gelaunten in der wohlhabenden Alpenrepublik dabei an ihre Eigenverantwortung erinnern und zur Teilhabe an den gesellschaftlichen Vorgängen ermuntern. Ein Einknicken vor Sozialdarwinisten und den Feinden einer offenen Gesellschaft wird dabei nicht helfen. Kämpfen lohnt sich – wie der Wahlsieg Van der Bellens zeigt. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN ERBSCHAFTSTEUER WOH NUNGSEI N BRÜCH E Schäuble hofft noch auf Koalitionseinigung Versicherer fordern Bauvorschriften BERLIN | Bundesfinanzminister Muna Duzdar, österreichische Staatssekretärin der SPÖ F.: reuters Fachfrau für Integration N orbert Hofer, wäre er Präsident geworden, hätte sie nicht vereidigt, wenn sie mit Kopftuch erschienen wäre. Muna Duzdar, neue Staatssekretärin der SPÖ im Bundeskanzleramt, war die meistdiskutierte Personalentscheidung des SPÖBundeskanzlers Christian Kern. „Religion ist Privatsache“, versicherte die 1978 in Wien geborene Tochter palästinensischer Einwanderer in einem Interview. „Mir wäre gar nicht in den Sinn gekommen, ein Kopftuch zu tragen. Dass er überhaupt auf so eine Idee kommt, ist merkwürdig“. Arabisch spricht Duzdar genauso fließend wie Wienerisch, ihre Heimatstadt lobt sie als die schönste Stadt der Welt. Dass die studierte Juristin und erfolgreiche Anwältin sich auch für Integration einsetzen will, ergibt sich schon aus ihrem Lebenslauf. Ohne Deutschförderkurs in der Volksschule und Förderung im Gymnasium hätte sie es nicht geschafft, ist Duzdar überzeugt. In der ÖVP sehen das manche als Kampfansage an Außenminister Sebastian Kurz, der auch für Integration zuständig ist. Auch was die Kenntnis des arabischen Raums betrifft, dürfte sie dem Minister, der sein Studium nicht abgeschlossen hat, einiges voraushaben. An der Pariser Sorbonne hat sie ein Masterstudium, Internationales Recht, absolviert. Sie muss sich verteidigen Duzdar hat sich schon verteidigen müssen: gegen den Vorwurf, zu links zu sein, unterschwellig gegen ihre Religionszugehörigkeit und für ihre Position als Vorsitzende der PalästinensischÖsterreichischen Gesellschaft. So wird ihr immer wieder ein Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel abverlangt. „Meine Vorgängerin hat sicher nie zu Israel Stellung nehmen müssen“, beschied sie dem Kurier. Ihr Engagement für Friedenscamps mit israelischen und palästinensischen Jugendlichen ist aber unbestritten. In der FPÖ wollte man die junge Staatssekretärin für die Einladung der einstigen Aktivistin der palästinensischen Gruppe Abu Nidal, Leila Khaled, zu einem Vortrag in Wien verantwortlich machen. Die Frau, die nach einer Flugzeugentführung die Hälfte ihres Lebens im Gefängnis verbracht hat, war im April in Wien – auf Einladung des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums. RALF LEONHARD Der Tag DI ENSTAG, 24. MAI 2016 Wolfgang Schäuble (CDU) hat vor einem Scheitern der Erbschaftsteuer-Reform gewarnt. Es wäre kein Ruhmesblatt, sollte die Besteuerung von Firmenerben nicht, wie vom Bundesverfassungsgericht verlangt, bis zum 30. Juni neu geregelt sein. „Ich hoffe immer noch, dass der Gesetzgeber dazu in der Lage ist“, sagte Schäuble am Montag . Das Bundesverfassungsgericht hatte der Politik eineinhalb Jahre Zeit gegeben, um die bisherige Begünstigung von Firmenerben bei der Erbschaftund Schenkungsteuer bis Ende Juni 2016 neu zu regeln. Es hatte einige Privilegien für Firmenerben gekippt. Ihn ärgere, dass die Novelle in der großzügig bemessenen Zeit noch nicht beschlossen sei: „Eigentlich sind die Arbeiten fertig. Jetzt müssten sich nur noch die Parteivorsitzenden irgendwie einigen“, so Schäuble. CDU, CSU und SPD im Bundestag hatten sich im Februar auf ein Modell für die künftige steuerliche Behandlung von Firmenerben verständigt. Bayern und die CSU pochen aber auf weitergehendere Begünstigungen und Korrekturen zugunsten der Wirtschaft. (dpa) BERLIN | Wegen der Zunahme von Wohnungseinbrüchen hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) neue Bauvorschriften gefordert. Diese sollten die Mindestanforderungen für neu eingebaute Fenster und Türen festsetzen, um bundesweit einen besseren Schutz gegen Einbruch zu schaffen, sagte der Vorsitzende der GDV-Geschäftsführung, Jörg von Fürstenwerth, der Neuen Osnabrücker Zeitung gestern. Nach Ansicht des Verbandes sollte der Staat diese Maßnahmen fördern. (epd) TH EM EN-SCHWERPU N KTE Nachrichten ändern sich jeden Tag, einige Themen bleiben. Die taz bleibt dran, und auf taz.de finden Sie in unseren dossierartigen Schwerpunkten alle Texte zu einem Thema gesammelt, übersichtlich und ausführlich. Nachrichten Analysen Übersicht www.taz.de NATIONALSPI ELER I N MEKKA Özil veröffentlicht Pilgerfoto | Fußball-Nationalspieler Mesut Özil (27) hat sich in Pilgerkleidung vor dem islamischen Heiligtum in Mekka ablichten lassen und das Foto online veröffentlicht. Nur 15 Stunden nachdem das Bild auf Facebook online gegangen war, hatten es bereits 1,5 Millionen Nutzer mit „Gefällt mir“ markiert. Das Foto zeigt Özil ganz in Weiß gekleidet vor der Kaaba im Zentrum der Großen Moschee in Mekka. Viele Nutzer sahen darin einen Aufruf zur Toleranz, wie sich in den Kommentaren widerspiegelte. (dpa) LONDON Die schier unglaubliche Aufholjagd ÖSTERREICH Nach einem Schulterschluss gegen rechts in letzter Minute gewinnt Alexander Van der Bellen hauchdünn die Wahl zum Bundespräsidenten. Entscheidend sind dabei die Briefwahlstimmen AUS WIEN RALF LEONHARD Der von den Grünen unterstützte Alexander Van der Bellen hat mit 50,3 Prozent der Stimmen das Kopf-an-Kopf-Rennen um die österreichische Bundespräsidentschaft gewonnen. Gegenkandidat Norbert Hofer von der rechtsnationalen FPÖ erkannte am späten Montagnachmittag seine Niederlage an, noch bevor die offiziellen Zahlen des Innenministeriums als vorläufiges Endergebnis verkündet wurden. Nach der Auszählung der Briefwahlstimmen liegt Van der Bellen um 31.026 Stimmen vorn. Gäbe es diese Stimmen nicht, hätte Hofer mit 51,9 Prozent klar gewonnen. Christoph Hofinger vom Umfrageinstitut Sora erklärt den Vorteil für den ehemaligen Grünen-Chef damit, dass Briefwähler eher urban, mobil und überdurchschnittlich gebildet sind. Hofers Parteichef HeinzChristian Strache misstraut den Briefwählern und sagte, er wolle die Wahl anfechten. Robert Stein, der Leiter der Wahlbehörde im Innenministerium, versicherte aber, ihm seien „keine Rechtswidrigkeiten“ bei Stimmabgabe oder Auszählung zu Ohren gekommen. Schon am Sonntagabend bei seiner Wahlfeier im Wiener Prater hatte Hofer seine Fans auf eine Niederlage eingestimmt. „Wir haben heute Geschichte geschrieben“, verkündete er mehreren Hundert Fans. Schließlich habe jeder zweite Bürger die FPÖ gewählt. Entweder er sei am Montag Bundespräsident, oder „in zwei Jahren ist HeinzChristian Strache Bundeskanzler und vier Jahre später bin ich noch dazu Staatsoberhaupt.“ Van der Bellen will sich bemühen, die Gräben, die während des langen und oft zermürbenden Wahlkampfs aufgerissen wurden, wieder zuzuschütten. Die Bruchlinien im Land verlaufen entlang der Stadt-Land-Grenzen. Was Hofer in den kleinen Gemeinden an Vorsprung aufbauen konnte, machte der Grüne in den Städten und deren Umland wieder wett. Die Wahlentscheidung ist aber genauso eine Frage des Bildungsniveaus. Die unglaubliche Aufholjagd Van der Bellens, der nach Hofers deutlichem Sieg in der ersten Runde als Außenseiter in die Stichwahl ging, ist einem Schulterschluss gegen rechts zu verdanken. Seine Strategie, die Wähler der ausgeschiedenen Kandidaten ins Boot zu ho- len, ist voll aufgegangen. Wählerstromanalysen zeigen, dass der Wirtschaftsprofessor zwei Drittel der Anhängerschaft einer unabhängigen Richterin und drei Viertel der SPÖ-Wähler aus dem ersten Durchgang für sich gewinnen konnte. Die prominentesten Sozialdemokraten legten ihre Stimme offen, allen voran der neue Bundeskanzler Christian Kern und Wiens Bürgermeister Michael Häupl. In Wien mobilisierte die SPÖ sogar ihr Fußvolk und stellte ihre Plakatflächen zur Verfügung. So konnte Alexander Van der Bellen in der Bundeshauptstadt den entscheidenden Vorsprung holen und sogar FPÖ-Hochburgen wie den 10. Bezirk, den Arbeiterbezirk „Favoriten“, gewinnen. Von den ÖVP-Wählern entschied sich eine knappe Mehrheit für den Grünen, obwohl offene Unterstützung vor allem von nicht mehr aktiven Politikern kam. Viele folgten der Empfehlung von Exwirtschaftsminister Martin Bartenstein, weiß, also ungültig zu wählen. Auch bei den Nichtwählern hatte Ho- Letzten Endes verdankt Van der Bellen sein Ergebnis den jungen Frauen fer das Nachsehen. Van der Bellen konnte 50 Prozent mehr von ihnen mobilisieren. Van der Bellen hat seinen Sieg vielleicht auch einem durchgeknallten Neonazi zu verdanken, der in der Nacht auf Sonntag beim Fest eines Motorradclubs in Vorarlberg in die Menge schoss und zwei Männer tötete, bevor er sich selbst eine Kugel in den Kopf jagte. „Man stelle sich vor, das wäre ein traumatisierter Flüchtling gewesen“, seufzte ein Grünen-Aktivist im Palais Auersperg. Ein paar Tausend Stimmen wären leicht auf die andere Seite gewandert. Vorarlberg ist heute neben Wien das einzige mehrheitlich grüne Bundesland (siehe Seite 3). Letzten Endes verdankt der 72-jährige Professor sein Ergebnis den jungen Frauen. Frauen unter 30 haben zu 67 Prozent Van der Bellen gewählt. Und ihre Wahlbeteiligung lag mit 80 Prozent deutlich über dem Durchschnitt von 72 Prozent. Nur die Wählergruppe mit Hochschul- Heul doch: Norbert Hofer ist nicht Bundespräsident geworden Foto: Hetfleisch/getty abschluss war mit 81 Prozent noch aktiver. Auch Angestellte, öffentlich Bedienstete und Selbstständige votierten deutlich für ihn. Dass Hofer bei Arbeitern unglaubliche 86 Prozent erzielte, zeigt, dass die Klassenfrage wieder im politischen Diskurs angekommen ist. Pensionisten, die letzte solide Bastion von SPÖ und ÖVP, konnte er immerhin zu 53 Prozent überzeugen. Frauen über 60 finden sich aber zu 56 Prozent bei Van der Bellen. Schwerpunkt Österreich DI ENSTAG, 24. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Es gibt nichts daran zu deuteln: Die Hälfte der Österreicher haben einen Mann gewählt, der rechtsextreme Ideen pflegt Jubeln? Das lässt sich nicht mehr schönreden ESSAY Die österreichische Fahndungslisten stehen. Aber mal ehrlich, wer einen Rechtspopulisten wählt, der mehrmals gesagt hat, dass er gegen den EUBeitritt stimmen würde, jemanden, der die Bevölkerung „gegen die neue Völkerwanderung verteidigen“ will und im Parlament gemeinsam mit seiner Fraktion mit einer Kornblume im Knopfloch auftaucht, die als ein Ersatzzeichen für verbotene Symbole und Zeichen der NSDAP gilt, nein, der ist vielleicht nicht automatisch ein Nazi. Aber er ist schon mal eindeutig nicht links und hat auch mit der Mitte nicht mehr viel zu tun. Rund 50 Prozent der Wahlberechtigten haben sich geweigert, einen ehemaligen Grünen zu wählen, einen Hochschulprofessor mit wirtschaftlichem Know-how, einen Vertreter, der die Republik internatio- taz-Redakteurin Saskia Hödl läuft durch das sonnenbeschienene Wien – und graust sich darüber, was diese Wahltage über ihre Heimat verraten AUS WIEN SASKIA HÖDL Nach sieben Wochen Wahlkampf, zwei Wahlgängen und zwei „Tagen der großen Entscheidung“ hat Österreich am Montag, dem dritten „Tag der großen Entscheidung“, einen Wahlkater. Im Fernsehen spricht man nach der Stichwahl von einem „Wahlthriller“ und dem „längsten Wahlsonntag aller Zeiten“. Ich habe mich aber eher gefühlt, als hätte meine Lieblingsfußballmannschaft kurz vor dem Finale entschieden, unter die Synchronschwimmer zu gehen. Ich war perplex und fassungslos über den Stimmverlust an die Rechten. Es war einfach zu viel. In den Wochen zuvor wurden im ganzen Land Großeltern bekehrt, Freunde in die Wüste geschickt und um die Ungültigwähler aus der ersten Runde des Präsidentschaftswahlkampfes am 24. April gebuhlt. Im realen Leben und in den sozialen Medien wütete ein zermürbender Lagerwahlkampf. Da hat es kurz, aber laut in der Seele geschnalzt Am Sonntagabend, nach mehreren Stunden des Abwartens und Mitfieberns mit rund Tausend Unterstützern auf dem Wahlfest der Grünen in Wien, mit strapazierten Mobilfunknetzen und Menschen, die letztendlich ein Ergebnis bejubeln, das einem die Zehennägel aufrollen lässt, wollte ich mich schlicht nur noch verstecken. Schließlich war klar, dass das Ergebnis erst Montagabend kommen würde; dass das ganze Land noch einen weiteren Tag darauf warten musste, endlich zu erfahren, ob es jetzt denn, verdammt noch einmal, einen ehemaligen Grünen und Volkswirtschaftsprofessor oder einen Rechtspopulisten aus der FPÖ als Besetzung für das höchste Amt in der geschichtsschwangeren Hofburg auserkoren hat. Noch während ich diese Information für mich verarbeitete, hat es irgendwo in meiner Seele kurz, aber laut geschnalzt, als wäre eine Sehne gerissen. Etwas später, auf dem Heimweg, fragte ich mich, ob meine Verstimmung nun Politikverdrossenheit oder Nationalismus sei. Ich musste mir irgendwo Patriotismus eingefangen haben. Der deutsche Satiriker Jan Böhmermann stellte unterdessen auf Twitter die Frage, ob Österreich nun halb voll oder halb leer sei und die österreichische Twitteria antwortete beinahe geschlossen, man werde sich nun erst einmal gepflegt betrinken. Ich musterte die sonnengeküssten Frauen und Männer mit ihren Skateboards und Kinderwagen in der U-Bahn, und mir wurde klar, dass die Hälfte dieser Menschen einen Rechten gewählt hat. Ja, ich weiß, es waren natürlich nicht diese Menschen. Und es waren nicht alle Österreicher: Von 8,7 Millionen Einwohnern waren nur 6,3 Millionen wahlberechtigt, die Wahlbeteiligung lag wohl irgendwo zwischen 60 und 70 Prozent. Und ja, Wien ist sowieso immer weniger rechts. Aber genau das ist ja das Problem: Es geht nur noch darum, wer weniger rechts ist. Österreich kann sich dieses Wahlergebnis diesmal leider nicht schönreden. Denn auch wenn der Stimmenanteil für Van der Bellen im eigenen Wahlbezirk hoch war, ist es anderswo genau umgekehrt, sonst ergäbe sich ja nicht diese Pattsituation, sonst hätte man nicht so einen Wahlkater. In fünf Gemeinden gab es übrigens wohl tatsächlich eine exakte 50-zu-50-Situation. Das knappe Ergebnis bedeutet seit Sonntag für die ganze Welt, dass man sich in Österreich offenbar irgendwo auf die Straße setzen kann, einen Stein werfen und mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit einen Rechten treffen kann. Jetzt ist das, was man schon befürchtet hatte, offiziell. Und natürlich sind nicht alle Wähler von Norbert Hofer automatisch Stiernackennazis, wie sie auf Ich musste mir irgendwo Patriotismus eingefangen haben nal repräsentieren könnte. Laut Wählermotivbefragung, weil Norbert Hofer die Sorgen der Menschen verstehe und sympathisch sei. Das Land ist polarisiert – und auch wenn mir gleich alle mit dem Phrasenschwein hinterherlaufen werden, es ist gespalten: Frauen gegen Männer, alt gegen jung, Stadt gegen Land, links gegen rechts und international gegen national. Nun geht der FPÖ-Chef Strache als Underdog in die Nationalratswahl Österreichs künftiger Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Ein knapper Sieg Foto: Lisi Niesner/dpa Diese Gräben zu überwinden wird nun die Aufgabe aller Österreicher und ihrer neuen Regierung sein. Vonseiten der FPÖ ist schon seit Sonntag präventiv von falscher Stimmenauszählung die Rede. Kein unkluger Schachzug, denn FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache geht so als verhinderter Underdog in die Nationalratswahl 2018. Er will Bundeskanzler werden. Das knappe Wahlergebnis, das Van der Bellen schließlich gerade noch so zum österreichischen Präsidenten macht, hat Strache nur weiter bestätigt. Käse, Festspiele – und ein liberaler Trend VORARLBERG Das Bundesland am Bodensee ist eine Ausnahme: Anders als alle anderen ländlichen Regionen Österreichs stimmte es für Van der Bellen WIEN taz | Fast 57 Prozent der Vorarlberger haben Alexander Van der Bellen ihre Stimme gegeben. Nur im Kaunertal in Tirol, der Heimat des grünen Präsidentschaftskandidaten, und in der grünen Hochburg Wien waren die Zahlen besser. Das Vorarlberger Ergebnis hat viele überrascht. Das 2.600 Quadratkilometer kleine Bundesland jenseits des Arlbergs ist bekannt für seine Wintersportparadiese und den Käse aus dem Bregenzer Wald. Feinspitze waren vielleicht schon einmal bei den Bregenzer Festspielen auf der Bodenseebühne. Aber darüber hinaus wird das „Ländle“ auch im Osten Österreichs kaum Das Leben zwischen zwei oder drei Staaten ist in dieser offenen Region viel selbstverständlicher wahrgenommen. Für die Einheimischen ist das Wahlergebnis aber nicht so erstaunlich. „Vorarlberg ist deutlich urbaner und liberaler, als es im Osten wahrgenommen wird“, sagt Harald Walser, Bildungssprecher und Abgeordneter der Grünen zum Nationalrat: „Die Wahlergebnisse der letzten Jahre waren immer sehr ähnlich wie in Wien.“ Vorarlberg „ist wie eine Stadt“, sagt der Kleinunternehmer Andreas Teltschner: „Das Rheintal von Bregenz bis Feldkirch, ein Drittel der Landesfläche, wo zwei Drittel der Bevölkerung leben, ist wie ein großes bewohntes Gebiet.“ Der Anteil der gut ausgebildeten Facharbeiter ist hoch. Viele arbeiten in Deutschland oder der Schweiz. Das Leben zwischen zwei oder drei Staaten ist in dieser offenen Region viel selbstverständlicher. „Es ist das Normalste, hier zu leben und woanders zu arbeiten“, sagt Teltschner. Gegen Restösterreich ist Vorarlberg durch ein über 2.500 Meter hohes Bergmassiv abgeriegelt. Zur Schweiz und nach Deutschland ist das Bundesland offen. Vor der Eröffnung des 14 Kilometer langen Arlbergtunnels im Jahre 1978 führte der schnellste Weg ins benachbarte Tirol über Deutschland. Im Rheintal sind große Firmen angesiedelt, die auf gut ausgebildete Fachkräfte Wert legen. Kaum jemand kommt auf die Idee, die EU infrage zu stellen, wie es die FPÖ tut. Van der Bellens klares Bekenntnis zu einer starken EU kam also gut an. Vorarlberg hat nach Wien auch den höchsten Zuwandereranteil. Der Islam ist die zweitstärkste Religionsgemeinschaft und die jüdische Gemeinde von Hohen ems ist eine der größten im alpinen Gebiet. Mit dem Biobauern Kaspanaze Simma zog 1984 der erste Grüne in einen österreichischen Landtag ein. Er kam, wie viele Grüne, aus der konservativen ÖVP und findet seine ehemalige Partei auch heute noch zu links. Seit der jüngsten Landtagswahl im Vorjahr sitzen die Grünen auch mit der ÖVP in der Landesregierung. Die Konservativen haben ihre Berührungsängste abgelegt. „Wenn es um rassistische Äußerungen oder EU-feindliche Politik geht, dann machen die nicht mit“, sagt Harald Walser. Die Vorarlberger Grünen seien eher konservativ und die ÖVP sei eher aufgeschlossen, meint der Kleinunternehmer Teltschner. Deswegen funktioniere die Zusammenarbeit. Nicht zufällig will die Vorarlberger ÖVP gegen die Parteilinie die Ganztagsschule flächendeckend einführen. Denn solide Ausbildung sei besonders wichtig. Der grüne Bildungssprecher Walser bestätigt, dass die ÖVP im Ländle „etwas offener, weniger dogmatisch“ sei. Die Vorarlberger sind sogar die einzige Parteifraktion, die die Gleichstellung Homosexueller ins Regierungsprogramm hineinverhandeln konnte. RALF LEONHARD
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