Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„Gut gebrüllt, Löwe!“ –
William Shakespeare zum 400. Todestag
William Shakespeare und seine Zeit (1)
Von Jasmin Bachmann
Sendung:
Montag, 23. Mai 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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SWR2 Musikstunde mit Jasmin Bachmann
„Gut gebrüllt, Löwe!“ – William Shakespeare zum 400. Todestag
William Shakespeare und seine Zeit (1)
Jingle
Mit Jasmin Bachmann, einen wunderschönen guten Morgen!
„Alles hat heutzutage etwas mit Shakespeare zu tun: die Schwierigkeit besteht
darin, herauszufinden, was nicht.“ so George Hardinge.
Die SWR2 Musikstunde begibt sich diese Woche auf Spurensuche rund um das
Faszinosum Shakespeare. Wir stöbern in der Sozialgeschichte des späten 16.
Jahrhunderts und wollen einmal schau‘n, was so einen Shakespeare-Klassiker wie
den „Sommernachtstraum“ ausmacht und warum die Mehrheit dem Barden
gegenüber zum einstimmigen Ergebnis kommt: „Gut gebrüllt, Löwe!"
Musik-Intro
Im April 1616 starb der englische Dramatiker, Lyriker und Schauspieler William
Shakespeare. Genauer gesagt am 23. April, wie Miguel de Cervantes – und das
ist auch der Grund, warum der 23.4. in den 90er Jahren zum „Welttag des
Buches“ erkoren wurde.
Auch 400 Jahre nach seinem Wirken ist die Begeisterung für William Shakespeare
und seine Werke ungebrochen. Seine Sonette gelten als unvergleichliche
Schmuckstücke. Seine Stücke werden weltweit gespielt und gelesen - sogar an
Bord des Raumschiffs „Enterprise“ gehört eine Shakespeare-Gesamtausgabe zum
Inventar und viele der Shakespeare-Klassiker gibt es mittlerweile auch auf
Klingonisch. Wir zitieren und kommentieren ihn häufiger als die Bibel, ja wir alle
reden „Shakespearisch“, meist ohne zu wissen, wenn wir „Aus der Not eine
Tugend machen“, von den Untiefen stiller Wasser sprechen, nicht alles für Gold
halten, was glänzt und uns am Ende darauf berufen, dass der Rest Schweigen ist.
„Die ganze Welt ist eine Bühne“ (Wie es euch gefällt), „Der Stoff, aus dem die
Träume sind“ (Der Sturm). Und wir gehen soweit, dass wir seine Verse in die
Neuzeit übersetzen, dass aus Nachtigall und Lerche, der letzte Nachtbus und die
erste Straßenbahn werden. Täglich entstehen 15 wissenschaftliche
Abhandlungen und ein Buch, ergibt im Jahr zusammen 5475 wissenschaftliche
Studien und 365 Bücher, plus eine Musikstundenwoche. Keine Sorgen, wir leiden
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nicht an Selbstüberschätzung und versuchen Ihnen in 4 Sendungen alles über
diesen Mann, seine 36 Dramen, 2 Versepen und 154 Sonette zu verklickern, oder
die ambivalenten Motivpaare in seinen Werken wie Schein-Sein, OrdnungAutorität, Vernunft-Leidenschaft vollständig zu analysieren - wir wollen seinen 400.
Todestag zum Anlass nehmen, uns das Phänomen William Shakespeare noch
einmal näher zu betrachten und Zutaten seines Erfolgsrezeptes aufzuspüren.
Philipp Mohler
Shakespeare-Suite für Streicher, Holzbläser und Cembalo
2. Satz / Anonymus: Morisco
Südwestdeutsche Kammerorchester Pforzheim
Dirigent: Räto Tschupp
M0037811 / 001 (daraus 3:19‘-5:21‘ = 2:02‘)
Der deutsche Komponist Philipp Mohler hat Tanzsätze von ShakespearesZeitgenossen wie Dowland oder Byrd zu einer Shakespeare-Suite
zusammengeführt. Daraus spielte das Südwestdeutsche Kammerorchester
Pforzheim den 2. Satz „Morisco“, Komponist unbekannt. Die Leitung hatte Räto
Tschupp.
Warum haben wir gerade diese Woche ausgewählt und nicht die Tage rund um
den 23. April? Weil Sie diese Woche die Möglichkeit haben, einen von
Shakespeares Klassikern live und aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Am
kommenden Mittwoch wird das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR den
„Sommernachtstraum“ im Theaterhaus Stuttgart präsentieren. Mit dabei ein
moderner Sprachpoet als kommentierender Erzähler und als Relikt aus alten
Tagen, der Kobold Puck. Auf beide werden wir auch hier in der SWR2
Musikstunde stoßen. Zunächst wollen wir uns aber allgemein mit William
Shakespeare und seiner Zeit befassen.
Doch halt, bevor wir das ganze „Geboren – Aufgewachsen und Gestorben“
abklappern, was ist mit den Stimmen die behaupten: William Shakespeare sei
nicht der Autor der berühmten Werke? Schließlich war noch 1715 im Deutschen
Gelehrtenlexikon zu lesen:
„Shakespeare Will, ein englischer Dramaticus, geb. zu Startford 1564, ward
schlecht auferzogen und verstand kein Latein, jedoch brachte er es in der
Poesie sehr hoch. Er hatte ein scherzhaftes Gemüthe, kunte aber auch sehr
ernsthaft sein und excellierte in Tragödien.“
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Ein Lümmel vom Dorf also, ohne Bildung soll über Sein oder Nichtsein philosophiert
haben? Vermutlich handelte es sich eher um eine Gemeinschaftsproduktion der
Schauspielertruppe, für die William den Namen hinhielt. Hierzu die Antwort von
Bertolt Brecht:
„ich selber neige zu shakespeare als chef der dramaturgie. Das benutzen
alter stücke, die notwendigkeit, repertoire zu schaffen, das rollen-auf-denleib schreiben, […] der umstand, dass sowohl lyrik als reflexion ganz und gar
bühnenmäßig und unselbstständig erscheinen, all das spricht für die
autorenschaft eines schauspielers oder theaterleiters.“
Mh, dann vielleicht doch lieber die Theorie über den literarisch begabten,
Italienischen Flüchtling John Florio, der seinen ursprünglichen Namen Crollalanza
in Shakespeare umgeändert haben soll. Oder die Geschichte von Amelia
Bassano, Tochter eines italienischen Musikers am elisabethanischen Hofe. Auf der
Liste der möglichen Shakespeare-Autoren finden sich noch eine zum Christentum
übergetretene Jüdin, Königin Elisabeth I höchst persönlich (was die Theorie:
Königin Elisabeth sei gar keine Frau gewesen bestärken würde), dann der
Schriftsteller Ben Jonson, der Philosoph Francis Bacon (wobei wir hier dem
Shakespeare-Forscher William Kittredge rechtgeben müssen, der fragt: „Wenn
Bacon Shakespeare geschrieben hat, wer schrieb Bacon?“), hoch im Kurs immer
noch der Dr. Faustus, Christopher Marlow, der nach seinem inszenierten Tod in
Italien weitergeschrieben haben soll und Shakespeare lediglich dafür bezahlt
wurde, dass die Werke Marlows incognito unter seinem Namen herausgegeben
wurden. Was dagegen spricht: Marlow und Shakespeare gleichen sich ungefähr
so wie Schiller und Goethe, Mozart und Beethoven. Bleibt also nur Edward de
Vere, der 17. Earl of Oxford. Ein Aristokrat konnte schließlich kein Künstler sein. Und
so macht auch diese Version Shakespeare lediglich zum offiziellen Gesicht der
Werke, spricht ihm aber den Autor ab.
Wie kam und kommt es zu solch skurrilen Theorien? Nun gut, wir müssen zugeben,
die Sachlage ist nicht üppig. Mark Twain hatte schon recht, wenn er das
Schreiben einer Shakespeare-Biografie mit der Rekonstruktion eines
Brontosaurierskeletts verglich: erstellt „aus 9 Knochen und 600 Fässern Gips“.
Man weiß nicht viel über Master William Shakespeare. Es lässt sich nicht einmal
ein authentisches Portrait nachweisen. Dann sind da vor allem die verlorenen
Jahre zwischen 1585-92, wo wir nicht wissen, wer, wie, wo, was wann. Es liegen
keine Publikationen von ihm persönlich vor. Es gibt 83 Arten Shakespeare zu
schreiben. Handelt es sich da auch immer um ein und dieselbe Person? Vielleicht
ist uns die wahre Lebensgeschichte dieses Mannes einfach zu unspektakulär? Er
war Geschäftsmann, kein Abenteurer, war Autor und keine exzentrische
Künstlerfigur; wurde nicht wie Marlow vom Geheimdienst ermordet, wie Thomas
Kyd zu Tode gefoltert oder wie Ben Jonson beinahe an den Galgen gebracht.
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Das Stückeschreiben lief bei Shakespeare wie zur damaligen Zeit üblich ab: es
war ein Handwerk, keine Methode der Selbstverwirklichung.
Die Frage nach der Echtheit, dem wirklichen Verfasser begann übrigens erst mit
der Erfindung des Kriminalromans alla Edgar Allen Poe um 1850.
André Caplet
Le masque de la mort rouge
Marie-Pierre Langlamet, Harfe
Leipziger Streichquartett
M0071504 / 005 (5‘40)
Ein rauschendes Fest auf der Burg des Prinzen Prospero, doch vor den Toren
lauert der rote Tod. Schauerromantik in Egar Allen Poes Gothic Novell „Die Maske
des roten Todes“. Wir brachten einen Ausschnitt aus der gleichnamigen
Vertonung von André Caplet mit Marie-Pierre Langlamet, Harfe und dem
Leipziger Streichquartett.
„Die Zeit ist aus den Fugen“, treffender könnte Prinz Hamlet die politisch-soziale
Lage nicht beschreiben, in die William Shakespeare hineingeboren wurde. Die
alte Welt war am schwinden, aber das Individuum der Renaissance hatte sich
noch nicht gefestigt. Vom goldenen Zeitalter war noch lange nicht die Rede. Im
Gegenteil, bei Elisabeths Regierungsantritt 1558, 6 Jahre vor Shakespeares
Geburt, beschrieb ein Geheimer Staatsrat Englands Situation so:
„Die Königin arm, das Reich erschöpft, der Adel verarmt und
heruntergekommen. Das Volk zügellos. Recht wird nicht mehr gesprochen.
Große Teuerung. Innerer Zwist im Land. Der französische König, mit einem
Fuß in Calais und mit dem anderen in Schottland, nimmt das Reich
zwischen die Schenkel. Unerschütterliche Feindschaften, aber keine
unerschütterlichen Freundschaften im Ausland.“
Und dann hatte das Land auch noch den dritten Religionswechsel in 12 Jahren
zu stemmen: zuerst legte sich Heinrich VIII aufgrund seiner Ehe- bzw.
Scheidungsprobleme mit dem Papst an, das Land folgte Luthers Vorbild und
trennte sich von der römisch-katholischen Kirche. Dann bestieg, als erste Frau
überhaupt, die Katholikin Maria I den Thron und machte sich als Bloody Mary,
durch ihre inquisitorische Haltung den Protestanten gegenüber, einen Namen. Als
nun aber ihre Halbschwester Elisabeth I an die Macht kam, wurden alle
religionspolitischen Maßnahmen wieder rückgängig gemacht; was aber nicht
bedeutete, dass es nun glaubenstechnisch friedlich zuging. Der Protestantismus
wurde Staatsreligion, alles Katholische auf Strafe verboten.
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Thomas Morley
Nolo mortem peccatoris, Anthem zu 4 Stimmen
Monteverdi Choir
Dirigent: John Eliot Gardiner
M0383790 / 010 (2:44‘)
Das war der Monteverdi Chor unter John Eliot Gardiner mit dem Anthem „Nolo
mortem peccatoris“ („Ich möchte nicht den Tod des Sünders“) von Thomas
Morley. Ein Titel der auf der CD „Polyphonie in gefährlichen Zeiten“.
Begeben wir uns nun in die idyllische Marktstadt Stratford-upon-Avon im
südlichen Warwickshire, 160 Kilometer nordwestlich von London,
Verkehrsknotenpunkt auf der Handelsstraße nach Birmingham. Der Name
bedeutet übersetzt „Straßenfurt“, da hier zu Römerzeiten eine Straße den Fluss
Avon überquerte. Das optische Wahrzeichen der Kleinstadt mit rund 2.000
Einwohnern war die prächtige Holy Trinity Church aus dem 14. Jahrhundert, die
heute meistbesuchte Pfarrkirche in England. Das Landleben hier draußen
bedeutete harte Arbeit, aber auch feiern und Freizeitunterhaltung durch Sport,
wie Bogenschießen, Hahnenkämpfe oder Fußball - gespielt wurde mit
aufgepumpten Schweineblasen. In Stratford-upon-Avon wurde am 26.April 1564
ein gewisser William Shakespeare getauft. Wann genau er geboren wurde,
wissen wir nicht. Da man aber die Neugeborenen wegen der hohen
Kindersterblich - 9% aller Neugeborener starben innerhalb einer Woche, weiter
11% während des ersten Monats – da man die Neugeborenen üblicherweise drei
Tage nach der Geburt taufen ließ, geht man bei Shakespeare vom Geburtstag
am 23. April 1564 aus.
Williams Mutter, Mary Arden, entstammte einer wohlhabenden Landadelsfamilie,
deren Stammbaum bis in die Zeit der Normannischen Eroberungen hineinreichte.
Sein Vater, John Shakespeare, kann ebenfalls auf eine ansehnliche
Familiengeschichte zurückblicken: eine Großtante war Äbtissin, ein Großonkel
Gerichtsvollzieher und es gab eine eigene Familienkirche. John wollte in die neue
Mittelklasse aufsteigen, zog daher mit seiner Frau Mary Arden in die Stadt und
wurde Handschuhmacher; zur damaligen Zeit also ein Produzent luxuriöser
Modeaccessoires für die Schönen und Reichen.
John Shakespeare und Mary Arden zogen also in die Stadt, kauften sich ein Haus
und richteten es nach der neusten Mode ein; eines ihrer Luxusgüter: eine
Bettüberdecke aus feinstem Stoff. Ihr familiäres Glück wurde der kleine William,
denn eines ihrer Kinder, ein Mädchen, war bereits mit einem Jahr gestorben und
Willams jüngste Schwester sollte nur 10 Jahre alt werden. Später folgten noch 5
weitere Geschwister, von denen nur eine Schwester William überleben sollte. Und
auch das Überleben von William wurde auf die Probe gestellt. Als das Kind
gerade drei Monate alt war, brach in Straftord, nur 300 Meter vom Haus der
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Shakespeares entfernt, mitten in der Stadt die Beulenpest aus; die Pest, die nur
ein Jahr zuvor Londons Einwohnerzahl von 100.000 auf 20.000 reduzierte.
Jaako Mäntyjärvi
4 Shakespeare songs, Für gemischten Chor a cappella
Nr. 1, Come away, death
Tapiola Chamber Choir
Dirigent: Hannu Norjanen
M0330913 / 002 (2:56’)
„Komm herbei, Tod! Und versenk in Zypressen den Leib.“ Diese melancholischen
Verse singt der Narr auf Wunsch des Herzogs in „Was ihr wollt“. Der Tapiola
Kammerchor sang das Erste der vier Shakespeare-Lieder des finnischen
Komponisten Jaako Mäntyjärvi. Die Leitung hatte Hannu Norjanen.
Die Shakespeares überlebten die Pest. John stieg zum Stadtrat und damit auch
zum Friedensrichter auf, später wurde er „High Bailiff“, sowas wie Bürgermeister.
Und der kleine William? Der ging vermutlich wie alle anderen zur Schule.
„Die Schüler von heute sind unsere Garanten für die Zukunft.“ Dieser Leitsatz
scheint zeitlos, doch würden wir ihn heute ohne Magenschmerzen
unterschreiben? Zu William Shakespeares Schulzeit galt er als Maxime und durch
eine Bildungsrevolution gelang es dem Staat tatsächlich, die belesenste
Generation hervorzubringen, die bis dahin in England aufgewachsen war.
Wie sah nun ein solches, anscheinend effektives Bildungssystem aus: Es war auf
jeden Fall kostenlos, doch viele Kinder der ärmeren Schichten konnten sich
trotzdem keinen Schulbesuch leisten, da sie als Arbeitskräfte zu Hause mit
anpacken mussten. Die Vorschule begann für alle Kinder ab vier Jahren, für
Jungs und Mädchen. Mit Sechs verließen die Mädchen die Schule und wurden zu
Hause privat unterrichtet, wenn man es sich leisten konnte. Für die Jungs sah der
Schulalltag in den oberen Klassen folgendermaßen aus: Unterricht von 6-17.30
Uhr an 6 Tagen die Woche mit einer Pause zum Mittagessen; am Samstagmittag
hatte man frei und am Sonntag stand der Gottesdienstbesuch mit der
stundenlangen Predigt an, über die am Montag erst einmal abgefragt wurde.
Das Pädagogisches Prinzip: Auswendiglernen und Repetieren, Rohrstock und
Rute, das Wissen wurde förmlich einprügelt.
William Shakespeare besuchte eine sogenannte Grammar School, vergleichbar
dem heutigen Gymnasium; eine Schule, bei der humanistisches Denken im
Mittelpunkt stand. Grammatik ging über alles. Naturwissenschaften waren kaum
vorhanden. Das Kernfach war Latein, die Sprache der Hochkultur. Ein Absolvent
der Grammar School beherrschte damals mehr Latein als ein Student der
Altphilologie heute. Latein war die gesprochene Sprache. In den oberen Klassen
gab‘s Prügel, wenn jemandem im Unterricht ein englisches Wort entglitt. Zur
Schullektüre gehörten die Klassiker von Vergil, Horaz, Quintilian, Caesar, Cicero,
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Seneca, die Fabeln von Äsop und besonders beliebt war auch das Training im
Synonym-finden. Das Lieblingsbuch der Jugend im 16. Jahrhundert waren Ovids
„Methamorphosen“. Der seit dem Mittelalter als bedenklicher, erotischer,
oberflächlicher und schlüpfriger Skandalautor titulierte Ovid wurde von den
Jugendlichen gleich einem Harry Potter Band verschlungen. Sie kannten wohl
alle 15 Bände im Original. Ein Altphilologie Student muss heute nur eines kennen.
Ergänzt wurden die Lernfächer durch öffentliche Schauspiele. Besonders beliebt
war hier die mittelalterliche Form der Mysterienspiele. Das Renaissance-Theater
übernahm aus der einstigen Darstellung von Bibelszenen den Sinn für’s große
Drama, für moralische Aussagen, lebhafte Massenszenen. Rohe Kraft, deftiger
Humor, tiefe Gefühlen waren die Markenzeichen der Mysterienspiele.
Dmitrij Schostakowitsch
Bearbeitung: Elizabeth Wilson
Theater-Suite, zusammengestellt von Elizabeth Wilson für 2 Violinen, Viola,
Violoncello und Klavier
Nr. 6, Pantomime, aus: Hamlet, op. 32
Anatol Ugorski, Klavier
delian quartett
M0425587 / 014 (1:38‘)
Das war die Pantomime aus Dmitrij Schostakowitschs Hamlet op.32, hier in der
Kammermusikbearbeitung von Elizabeth Wilson mit dem Pianisten Anatol Ugorski
und dem delian quartett.
Mit 14 Jahren musste William Shakespeare die Schule vorzeitig verlassen. Der
Grund war sein Vater. John war zwar Bürgermeister, besaß aber mehr Geld, als
ein Handwerker üblicherweise hatte. Er wurde angeschwärzt und es stellte sich
heraus: John Shakespeare verkaufte Wolle auf dem Schwarzmarkt, denn
Wollhandel war ein staatliches Monopol. Er flog aus dem Stadtrat, musste den
Familienbesitz verkaufen und schließlich stand er sogar vor Gericht: eine
Befragung aus Gründen der nationalen Sicherheit, denn es waren Jesuiten,
Missionare heimlich im Lande gelandet. Und irgendwie vermutete man, dass
John Shakespeare etwas darüber wisse. Tatsächlich fand man viele Jahre später
auf dem Dachboden der Shakespeares, versteckt zwischen den Dachbalken
und der Wandverkleidung, ein handgeschriebenes, katholisches
Glaubensbekenntnis mit Johns Namen darin.
Vier Jahre später stand ein weiteres, einschneidendes Ereignis im Leben des
mittlerweile 18jährigen William Shakespeare an: er heiratet, und zwar die acht
Jahre ältere Anne Hathaway. Das allgemeine heiratsfähige Alter lag für
Mädchen bei 12, für Jungen bei 14 Jahren, wobei die meisten aber, vor allem die
Männer, erst mit Mitte 20 vor den Altar traten. Schließlich setzte die Pubertät
damals gute drei bis vier Jahre später als heute ein. William und Anne holten sich
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am 27.November 1582 in einem Nachbarort die Heiratserlaubnis. Der alt
katholisch gediente Pfarrer dort hatte den Ruf eines Heilers und führte Trauungen
auch ohne drittes Aufgebot durch. An ihn wandte sich, wer es eilig hatte. Und
die beiden hatten es eilig. Ann war im zweiten oder dritten Monat schwanger
und zur Tudor Zeit war in den sechs Wochen nach dem 1.Advent keine Heirat
möglich. Also entweder mit Bauch im Frühjahr heiraten, oder das Aufgebot noch
schnell bis Ende November unter Dach und Fach bringen.
Wills Hochzeitsgeschenk an seine Frau Anne war ein Gedicht, übersät mit
Wortspielereien um ihren Namen, den man auch Hate-away aussprechen
konnte.
William Shakespeare
Sonett 145, "Those lips that Love's own hand did make"
John Hurt, Sprecher
CD 3487339 / 015 (0:46’)
Caroll Vanwelden
Those Lips (Sonnet 145)
Caroll Vanwelden, Gesang und Klavier
Thomas Siffling, Trompete
Mini Schulz, Kontrabass
Rodrigo Villalón, Percussion
M0378480 / 010 (3:29‘)
William Shakespeares Sonett 145 im Original, gesprochen von John Hurt und in
der Jazz-Version von und mit Caroll Vanwelden und Band.
Im Mai 1583 wurde im Hause Shakespeare Töchterchen Susanna geboren, zwei
Jahre später folgten die Zwillinge Hamnet und Judith. Dann schien William
Shakespeare plötzlich verschwunden. Erst 7 Jahre später wurde seine
Anwesenheit wieder dokumentarisch erfasst und zwar von dem Schriftsteller
Robert Greene. Dieser spottete über einen Nicht-Akademiker, einen
Emporkömmling,
„...eine emporgekommene Krähe, die sich mit unseren federn schmückt, ihr
Tigerherz (Anspielung auf Shakespeares Heinrich VI) in einer Komödiantenhaut
verbirgt und von sich denkt, sie könne Blankverse dichten wie die Besten von
euch; als Hansdampf in allen Gassen bildet sie sich ein, der einzige Szenen-Shaker
in einem Land zu sein.“
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William Shakespeare also ein ungebildeter Bauerntölpel und ein Plagiator, der
keine eigenen Werke erfindet, sondern nur nacherzählt?
Die Frage, die uns aber zuvor brennend interessiert, ist: Wie, warum und als was
kam Shakespeare nach London? Warum ließ er seine Familie in Stratford zurück?
Was war zwischen 1585-92 geschehen? Ehrlich gesagt, man weiß es nicht.
Die Renaissance war Ende des 16. Jahrhunderts in England in vollem Gange: Aus
der Agrargesellschaft wurde eine moderne Handelsnation. Mit dem Sieg über die
spanische Armada erkämpfte sich die kleine Inselnation die Vormachtstellung
auf den Weltmeeren. Die Erforschung fremder Länder samt Kolonialisierung und
die Wiederentdeckung der Antike prägten das Weltbild und führten zu einer
Blütezeit von Philosophie und Kunst. Doch Kunst galt nicht als
Entfaltungsmöglichkeit des Individuums. Sie war Unterhaltung und wurde gerne
auch zu Propagandazwecken eingesetzt. So wurden Theatergruppen quer durch
das Land geschickt. Ein boomendes Geschäft, mit dem schnell Geld zu machen
war. 1587 gastierte eine der berühmtesten Schauspielergruppen in Startford: die
Queen’s Men mit ihrem Frontmann Richard Burbidge. Tage zuvor war ein Mitglied
der Wandertruppe ermordet worden: es war also eine Stelle als
vagabundierender Schauspieler frei. Möglich, dass Williams Shakespeare diese
Chance nutzte. Schließlich war er zu Schulzeiten schon als Schauspieler aktiv
gewesen und aufgrund des wirtschaftlichen Booms samt Inflation und
Bevölkerungsexplosion, sah der Arbeitsmarkt auf dem Lande nicht gerade rosig
aus. Und eine Universitätsausbildung konnte sich Shakespeare nun mal nicht
leisten, was ihn aber noch lange nicht zu einem Bauerntölpel machte.
Wie auch immer: 1592 war in London die Rede von einem erfolgreichen
Schauspieler und Schriftsteller namens William Shakespeare, der eine Marktlücke
im theatralen Konkurrenzkampf entdeckt hatte: er spezialisierte sich auf Historien,
schrieb unverblümt über die englische Geschichte und die Entstehung
Britanniens. Der Krieg mit aktuellen Bezügen war das Thema der frühen Stücke.
William Walton
Bearbeiter: Muir Mathieson
Suite from Henry V für Orchester
Nr. 1: Overture - The Globe Playhouse / 011 (2:20‘)
Bournemouth Symphony Orchestra
Dirigent: Andrew Litton
M0377651 011, 2‘20
Ausschnitt aus der Filmmusik von William Walton zu Laurence Oliviers "Henry V" mit
dem Bournemouth Symphony Orchestra unter Andrew Litton.
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Shakespeare in London, in der mit 200.000 Einwohnern drittgrößten Stadt Europas
nach Paris und Neapel, ca. 3-4 Tagesreisen zu Pferde entfernt von Stratford
gelegen.
London beeindruckte durch seinen Ruf als pulsierende Kulturmetropole und
durch sein faszinierendes Stadtbild. Voran die London Bridge, über die die
Landarbeiter, Händler, Kaufleute oder Adligen die Stadt betraten. Sie sei die
„Schönste Brücke der Welt“, so ein französischer Reisender und er hatte Recht:
wie in Florenz existierte auf der Eingangsseite der London Bridge eine eigene
Luxuswelt mit Wohnhäusern, Geschäften, Werkstätten und guter Luft. Doch direkt
anschließend gelangte der Fremde auf den Brückenteil, auf dem die Köpfe von
Hingerichteten zur Abschreckung aufgespießt wurden. „Es war eine Stadt des
Grauens und der Verzweiflung,“ so ein Historiker, „von deren Toren herab die
Köpfe und Glieder von Verrätern unheilvoll warnten; zwanzig Galgen erinnerten
noch an die kürzlich stattgefundene Schlächterei.“
Sadistische Grausamkeiten gehörten in London zum alltäglichen Leben dazu.
Man endete sehr schnell am Galgen, was noch eine gnädige Todesform war. Die
Folter in all ihrer Vielfalt galt als legitimes Mittel, um die gewünschten
Geständnisse zu bekommen. Ca. 300 Todesurteile wurden jährlich in London
vollstreckt; aufgrund der hohen Zahl nicht nur von Henkern, sondern auch durch
angeheuerte Metzger. An Tagen ohne öffentliches Folterspektakel ging man
dann begeistert in eine der Tierhatzarenen, um sich Bären und Hunde
zerfleischen zu sehen. Kein Wunder, dass Shakespeares Werke voll von Intrigen,
Grausamkeiten, Ermordungen und Gemetzel sind: Coriolanus wird zerstückelt,
Rosenkranz und Güldenstern enthauptet, Portia isst heiße Kohlen, Aaron wird Kopf
abwärts lebendig begraben, Desdemona mit einem Kissen erstickt, allein bei
Hamlet werden im Showdown 4 Personen vergiftet, abgesehen von all den
anderen Erstochenen und Selbstmördern. Die berühmten Drei, Hamlet King Lear
und Macbeth, mit jeweils 9-10 und 11 Toten werden aber noch getoppt durch
eine frühe Tragödie Shakespeares: Titus Andronicus. Laut des Schriftstellers Ben
Jonson musste es ein unglaublicher Bühnenhit gewesen sein, der über 25 Jahre
gespielt wurde; zu vergleichen mit dem Erfolg von Agatha Christies „Mausefalle“.
Ansonsten hat es aber auch rein gar nichts mit Agatha Christies humorvollen
Kriminalfällen zu tun. Es ist ein Splatter-Stück, eine Blutorgie nach Motiven von
Ovid. Zwei Kinder werden ermordet, zu einer Pastete gebacken und so der
Mutter serviert. Eine Frau wird auf dem Leichnam ihres zuvor umgebrachten
Mannes vergewaltigt, anschließend werden ihr die Hände abgehackt und die
Zunge herausgeschnitten. Dazu gibt es die hohe Kunst des Blankverses:
„Ach weh, ein Purpurstrom aus warmem Blut
Entspringt und sinkt, gleich der Fontäne, die
Der Wind bewegt, von deinen Rosenlippen,
Und kommt und geht mit deinem Honighauch.“
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Ja, auch das ist Shakespeare.
Sergej Prokofjew
Romeo und Julia. Ballett in 3 Akten (9 Bildern) und einem Epilog, op. 64
Nr. 35: Romeo beschließt, Mercutio's Tod zu rächen
Nr. 36: Finale (Tybalts Tod)
Royal Philharmonic Orchestra London
Dirigent: Vladimir Ashkenazy
M0274790 / 035 (2:10‘) und 036 (2:15‘) / (4:22‘)
Romeos Kampf mit Tybalt, der mit dem Tod des Gegners und einer
Trauerprozession endet. Ein Auszug aus der Ballettmusik von Serge Prokofjew zu
„Romeo und Julia“. Valdimir Ashkenazy stand am Pult des Royal Philharmonic
Orchestra London.
Der Tod war ein ständiger Begleiter in London zu dem sich noch der
Lärm in den engen Gassen gesellte:
„Karren und Kutschen verursachen einen solchen Radau, als hätte man die
Welt auf Räder gestellt. An jeder Ecke ballen sich Männer, Frauen, Kinder in
solchen Horden, dass bereits Pfosten aufgestellt werden, um die Häuser zu
stärken. Dazu hört man hier Hammerschläge, dort das Gelärme der
Fassbinder, an dritter Stelle das Geklirr von Töpfen und an vierter kippen
Wasserkanister.“
So der Dramatiker Thomas Dekkar.
Das dritte Charakteristikum Londons war der Geruch bzw. Gestank. Abgesehen
von den Ausdünstungen abgetrennter Körperteile, die in der Sonne vor sich hin
faulten, waren die Straßen das ganze Jahr über mit menschlichen und tierischen
Fäkalien verdreckt. Das Gefäß für die häusliche Verrichtung wurde mit dem
Warnruf „Gardyloo!“ aus dem Fester auf die Straße gekippt. War man unterwegs
und musste mal, war die nächste Hauswand gut genug; der beliebteste Platz
hierzu war die St.-Pauls-Kirche. Die Reichen hatten ein Plumpsklo mit gemütlichem
Doppelsitz zum Plaudern, aber die Entsorgung lief über die Hauswand ebenfalls
auf die Straße. Auch alle weiteren Abfälle wurden einfach auf die Straße
geworfen, oder in die Kanäle geschüttet, was bei der Masse an Menschen
logischerweise zu Verstopfungen der Kanäle führte. Ein Nährboden für die
sommerlichen Ungezieferplagen, die von professionellen Rattenfängern
bekämpft wurden. Nur die wohlhabenden Häuser hatten einen Wasseranschluss.
Alle anderen bedienten sich des Themsewassers, in das alle Abwässer der Stadt
mündeten.
Warum London trotz dieser Widrigkeiten als Kulturmetropole galt, in der
Shakespeare 1595 seinen „Sommernachtstraum“ schrieb, das hören Sie morgen
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in der SWR2 Musikstunde, wenn wir das Theater betreten werden: Ein Zauber vor
den Kulissen, der die Menschen aller Stände aus ihrem Alltag entführte und ein
Zauber hinter den Kulissen, wenn Feen, Hexen und Geister für die nötige
Gänsehaut sorgten.
„Die ganze Welt ist eine Bühne.“, so Jacques in „Wie es auch gefällt“. In diesem
Sinne: „Musik her!“ Aus der Bühnenmusik zu „Macbeth“ von Giuseppe Verdi
spielen Mitglieder des Württembergischen Staatsorchesters Stuttgart einen
Allegro-Satz. Die Leitung hat Gabriele Ferro.
Giuseppe Verdi
Bearbeitung: Frank Greiner
Ballettmusik, 3. Akt bearbeitet für Blasorchester, aus: Macbeth. Melodramma in 4
Akten
(1) Allegro vivacissimo / 004 (2:30‘)
Württembergisches Staatsorchester Stuttgart, Mitglieder
Dirigentin: Gabriele Ferro
M0344099 004, 2‘30