Beilage zum Katholikentag: Halleluja, Leipzig! 4 Extra-Seiten über Schwule in der Kirche, eine Jugend in Bayern und Deutschlands schönsten Friedhof AUSGABE BERLIN | NR. 11026 | 21. WOCHE | 38. JAHRGANG MITTWOCH, 25. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND BUNDESLIGA Hol’s der Geier: Freude und Leid nach dem verdienten Sieg von Eintracht Frank furt in der Relegation ▶ SEITE 6, 19, 20 BUNDESPRÄSIDENT Van der Bellen, die FPÖ und was deutsche Grüne von Österreich lernen können ▶ SEITE 4, 12 BERLIN Neue Bau ordnung mit neuen Barrieren ▶ SEITE 21 Fotos: Berk Oskan/ap, Yannis Kolesidis/reuters H EUTE I N DER TAZ Nothilfe: Theorie und Praxis HUMANITÄT Große Versprechungen für Unterstützung von Kriegsopfern und Verfolgten beim Weltgipfel ▶ SEITE 3 Räumung des Flüchtlingslagers Idomeni ▶ SEITE 2, 12 Bilder von der Grenze zwischen den USA und Mexiko ▶ SEITE 13 Fotos: Archiv, Eisele (oben) VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Aua! Aua! Das tut so weh! Aua! Aua! Hilfe! Wäh! Kann nicht mehr schreiben, weil’s so weh tut! Aua! Aua! Hilfe! Wäh! Das war ein Foul! Und tut soo weh! Aua! Aua! Hilfe! Wäh! Aua! Aua! Das tut so weh! Aua! Aua! Hilfe! Wäh! Aua! Aua! Das tut so weh! Aua! Aua! Hilfe! Wäh! Aua! Aua! Das tut so weh! Aua! Aua! Hilfe! Wäh! Aua! Aua! Das tut so weh! aua! Aua! Hilfe! Wäh! Aua! Hilfe! Wäh! Aua! Aua! Das tut so weh! Aua! Aua! Hilfe! Wäh!Wäh! Aua! Hilfe! Wäh! Aua! Aua! Das tut so weh! Aua! Aua! Hilfe! Wäh! Darf verboten jetzt auch in der Bundesliga bleiben? Oben und unten: Während die StaatenlenkerInnen beim humanitären Weltgipfel in Istanbul tagen, werden Flüchtlinge im griechischen Grenzort Idomeni aus ihrem Camp getrieben TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.889 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Monatelang durften Tausende Herumirrende und Verzweifelte dort im Dreck hocken, zwischen Schlamm, Regen und Tränengas, mit Blick auf mazedonischen Stacheldraht, ohne Aussicht auf Weiterreise. Nachdem Europa gemerkt hat, dass diese Menschen sich nicht freiwillig in Luft auflösen, soll dieses Schandmal einer gescheiterten Politik nun verschwinden, damit die Züge von Griechenland nach Mazedonien wieder fahren können, in die diese Flüchtlinge aber selbstverständlich nicht einsteigen dürfen. Denn sie sollen in Griechenland bleiben, das sie aber am liebsten in die Türkei zurückschicken würde, deren Regierung gerade mehr internationale Unterstützung bei der Flüchtlingshilfe angemahnt hat. Eine griechische Tragödie? Sophokles hätte es nicht besser erfinden können. Wer ein kleines Problem nicht lösen kann, sollte von großen Problemen die Finger lassen. Wer an 10.000 Flüchtlingen scheitert, hat keine Lektionen über den Umgang mit 10 Millionen zu erteilen. Wer über Flüchtlingsleichen geht, um bei Wahlen gegen Rechtspopulisten zu bestehen, ist selber einer. Die nächsten Dramen bahnen sich bereits an – im Mittelmeer vor Libyen oder auf noch unbekannten Schleuserrouten Richtung Mitteleuropa. Es gibt nicht den Hauch einer Idee auf europäischer Ebene dazu. Außer noch mehr Stacheldraht an den Außengrenzen und noch mehr Hilfe für Diktatoren in Herkunftsländern. Die allermeisten Flüchtlinge und Notleidenden der Welt befinden sich nicht Wer ein kleines Problem nicht lösen kann, sollte von großen die Finger lassen in Europa und werden auch niemals in die Nähe Europas gelangen. Daher können die Bedürfnisse europäischer Politiker nach Abschottung nicht der Maßstab globaler Politik sein. Es ist nur zu hoffen, dass die vielen sinnvollen Diskussionen über eine besser koordinierte und vernetzte humanitäre Arbeit auf dem Istanbuler Weltgipfel in Europa trotzdem zur Kenntnis genommen und umgesetzt werden. Dazu gehört auch, sich ins UN-Hilfssystem einzufügen, dieses Hand in Hand mit anderen auszubauen – und sowohl nationale Egoismen als auch europäisches Auftrumpfen hinter sich zu lassen. Idomeni ist nichts, worauf Europa stolz sein kann. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN TÜRKEI SUDAN DI E TAZ I M N ETZ Umbau zum Präsidialstaat beginnt sofort China baut erstes Atomkraftwerk taz.de/twitter PEKING | China baut das erste taz.de/facebook ANKARA | Die neue türkische Re- Ist jetzt Gastprofessorin: Angelina Jolie Foto: reuters Hollywoodstar im Hörsaal W enn sie in Flüchtlingslager nach Tansania oder Pakistan reist, folgen ihr die Kameras – obwohl das Elend der Menschen in den Zeltstädten sonst weniger interessiert. Schauspielerin Angelina Jolie, die als leichtbekleidete, aber schwerbewaffnete Lara Croft im Film „Tomb Raider“ den weltweiten Durchbruch schaffte, engagiert sich seit fast 15 Jahren für Kriegsopfer und Geflüchtete. So lange ist Jolie schon Sonderbotschafterin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Nun wechselt der Hollywoodstar in den Hörsaal. Die renommierte London School of Economics (LSE) hat Jolie eine Gastprofessur im neuen Master-Programm „Frauen, Frieden und Sicherheit“ angeboten – ihr Kernthema: Mit dem ehemaligen britischen Außenminister William Hague gründete sie 2010 die Initiative Schutz vor sexueller Gewalt in Konflikten. In ihrem Regiedebüt „In the Land of Blood and Honey“ von 2011 thematisierte sie Vergewaltigungen und Folter bosnischer Frauen während der Jugosla wienkriege. „Die Straffreiheit von Verbrechen, von denen vor allem Frauen in Konflikten betroffen sind, wie sexuelle Gewalt, muss enden“, sagt Jolie. Wenn die Schauspielerin so etwas sagt, erreicht sie damit mehr Menschen als viele Politiker. Und mehr noch, sie kann ein Vorbild sein, auch mit ihrem neuen Job. Denn selbst hat Jolie nicht an einer Uni studiert und doziert nun trotzdem. Als Kind zweier Schauspieler stand sie bereits mit fünf Jahren vor der Kamera, nahm neben der Schule Schauspielunterricht und arbeitete mit mäßigem Erfolg als Model. Die sechsfache Mutter ist mit ihrem Schauspielerkollegen Brad Pitt verheiratet – obwohl Boulevardmedien seit dem JaWort im Sommer 2014 prophezeien, dass „Brangelina“ ganz sicher vor der Scheidung steht. Über ihr Privatleben spricht die US-Amerikanerin meist nur dann, wenn sie eine politische Botschaft hat: 2013 erklärt sie im Artikel „My Medical Choice“ in der New York Times, dass sie sich aus Angst vor Brustkrebs vorsorglich die Brüste entfernen ließ. Jolies Mutter starb an Krebs. Nach dem Artikel ließen weltweit mehr Frauen testen, ob sie eine Veranlagung für Brustkrebs haben: der Jolie-Effekt. ANDREA SCHARPEN Schwerpunkt M IT TWOCH, 25. MAI 2016 gierung will den von Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdoğan geforderten Umbau des Landes zu einer Präsidialrepublik unverzüglich einleiten. Die Verfassung müsse widerspiegeln, dass der Präsident vom Volk gewählt werde, erklärte Ministerpräsident Binali Yildirim am Dienstag im Parlament bei der Vorstellung seines ersten Kabinetts. In ihrer jetzigen Form entspreche die Verfassung nicht den Bedürfnissen der Türkei. Yildirim wies Vorwürfe zurück, Erdoğan mische sich in die Regierungsgeschäfte ein. Etwa die Hälfte der Minister behielten ihre Posten, darunter Außenminister Mevlüt Cavusoğlu, Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi und Finanzminister Naci Agbal. Den Posten des Europaministers erhält der Exsprecher der regierenden AKPartei, Ömer Celik. Erdoğan fordert seit Längerem den Umbau der Türkei in ein Präsidialsystem. Bislang fehlte ihm die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit. Das kann sich nun ändern, da das Parlament die Immunität zahlreicher Abgeordneter aufgehoben hat, was Strafverfahren gegen sie möglich macht. (rtr) Atomkraftwerk des Sudan. Ein Rahmenabkommen dafür wurde am Montag unterzeichnet, berichtete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. Welcher Reaktortyp zum Einsatz kommen soll, wurde nicht mitgeteilt. China versucht derzeit, seine Eigenentwicklung Hualong 1 zu verkaufen. Über das Volumen des Auftrags wurde nichts bekannt. China hat unter anderen schon mit Rumänien, Saudi-Arabien, Argentinien und Kenia Verträge zum AKW-Bau unterzeichnet. (rtr) taz intern taz am Feiertag Morgen, am 26. Mai, gibt es wegen des katholischen Feiertags Fronleichnam in weiten Teilen West- und Südwestdeutschlands keine taz in Ihrem Briefkasten (und auch nicht am Kiosk). Da unsere Druckerei wegen des Feiertages nicht arbeitet, kann auch nicht nachgeliefert werden. Die taz können Sie trotzdem lesen: Die digitale Ausgabe steht als ePaper heute ab 21 Uhr unter taz.de/feiertag zum Download bereit. Selbstverständlich kostenlos. Falls Ihnen das papierfreie Lesen gefällt: Sie können kostenlos und unverbindlich das taz-ePaper für 14 Tage ausprobieren. taz.de/vimeo Folgen Liken Klicken www.taz.de Aufgescheucht und weggebracht VERTREIBUNG Mehr als 8.000 Flüchtlinge haben monatelang in Idomeni ausgeharrt. Jetzt wird das Camp geräumt. Viele Migranten verstecken sich aus Angst, denn keiner weiß, was als nächstes kommt VON THEODORA MAVROPOULOS Schwer gerüstete Einsatzkommandos der griechischen Polizei streifen durch das Camp in Idomeni, kurz vor der mazedonischen Grenze, in dem seit Monaten Tausende Flüchtlinge ausharren. Hubschrauber kreisten in den frühen Morgenstunden über der Zeltstadt, in der zuletzt rund 8.400 Menschen hausten. „Von den Hubschraubern bin ich aufgewacht“, berichtet die freiwillige Helferin Florentine Kwast. „Als ich aus dem Zelt stieg, sah ich Polizisten, die eine Kette bildeten“, so Kwast. Die Anfang 20-Jährige aus Berlin hilft seit zwei Monaten hier aus und übernachtete in einem der Zelte im Camp. Sie steht in engem Kontakt zu den Flüchtlingen. Die Gerüchte, dass das Camp geräumt werden sollte, kursierten schon lange, berichtet sie. „Aber dass das so drastisch über die Bühne geht, hätte keiner von uns erwartet“, sagt sie leise. Nein, die Polizei habe keine Gewalt angewendet. Dennoch wurde den freiwilligen HelferInnen ein Ultimatum gestellt, innerhalb von 10 Minuten ihre Sachen aus den Zelten zu holen und das Gelände zu verlassen. Gut 20 Einheiten der Bereitschaftspolizei – knapp 400 Beamte – sind bei der Evakuierung des Camps im Einsatz. Der griechische Fernsehsender Alpha zeigte mehrere Gruppen von Migranten, die in den umliegenden Feldern verschwanden. Auf der anderen Seite standen etwa 20 Busse, die Flüchtlinge in staatliche Lager brachte. Die meisten von ihnen sollen aus Syrien stammen. Zu Gewalt kam es bisher nicht. Die Menschen ließen sich widerstandslos ab- transportieren. „Die Situation fühlte sich trotzdem sehr bedrohlich an“, sagt Kwast. Viele der Flüchtlinge hätten geweint. Auch Didac Quillamet, ein weiterer freiwilliger Helfer, berichtet von Verzweiflung bei den Die Situation fühlte sich bedrohlich an. Viele Flüchtlinge haben geweint FLORENTINE KWAST, HELFERIN Keiner soll entkommen: 400 Polizisten sind bei der Räumung des Camps im Einsatz Foto: Yannis Kolesidis/dpa Mittelmeerroute mäßig befahren FLUCHT Menschen. Er konnte sich trotz des Verbots der Polizei ins Camp einschleusen und die Lage beobachten. „Die meisten der Flüchtlinge, die jetzt in offizielle Camps gebracht werden sollen, haben keine Ahnung, was sie dort erwartet“, so Quillamet. Zwar hatte die Regierung angekündigt, die Menschen in Idomeni zu informieren. Doch Quillamet lacht auf. Nein, kaum einer von ihnen wisse, was mit ihm geschehe. Aus Angst hätten sich viele im Umland versteckt, einige versuchten nun, doch mit Schleusern über die mazedonische Grenze zu gelangen. „Viele haben es schon bis zu sechs Mal versucht“, sagt der Ende 30-Jährige. „Die meisten von ihnen kamen mit starken Blutergüssen und Prellungen zurück – sie wurden von der mazedonischen Grenzpolizei oder dem Militär zur Abschreckung zusammengeschlagen.“ Versuchen würden sie es trotzdem wieder, sagt Quillamet. Auch Ärzte ohne Grenzen (MSF) sind die Verletzungen bekannt. Die Organisation ist seit Monaten mit über hundert MitarbeiterInnen vor Ort. „Seit dem Start der Evakuierung des Lagers darf nur noch das medizinische Notversorgungsteam – acht unserer Mitarbeiter – ins Flüchtlingslager“, sagt Katy Athersuch, Sprecherin von MSF in Idomeni. „Es ist unglaublich, dass die EU immer noch auf temporäre Unterbringungsmöglichkeiten ausweicht, anstatt die Menschen endlich in ein sicheres Drittland zu bringen“, sagt sie. THEMA DES TAGES Meinung + Diskussion SEITE 12 Auch nach der Rettung von rund 2.600 Migranten aus Libyen liegen die Flüchtlingszahlen in Italien unter denen von 2015 ROM taz | Sie waren mit 14 Schlauchbooten und einem Holzkahn in See gestochen. Am Montag waren die rund 2.600 Flüchtlinge und Migranten von Schiffen der italienischen und der irischen Marine sowie der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien gerettet worden. Doch auch wenn sich in den letzten Wochen Nachrichten von solchen Rettungsaktionen in großem Stil häuften, war im Jahr 2016 auch nach Schließung der Balkanroute im März bisher keine Zunahme von Überfahr- ten auf der Route Libyen–Italien zu verzeichnen. Während die Zahlen im laufenden Jahr, die am Montag Geretteten einbezogen, noch unter 40.000 liegen, trafen im Vergleichszeitraum des letzten Jahres 48.000 Menschen ein. Bisher hat sich damit die Prognose nicht bestätigt, die Flüchtlingsströme würden sich vom Ost- zum zentralen Mittelmeer verlagern. Dies zeigt sich auch an den Herkunftsnationen derer, die nach Italien kommen: Vorn liegen Senegal, Nigeria, Gambia und es folgen weitere Länder, vor allem des subsaha- rischen Afrika, während Syrer, Afghanen und Iraker kaum vertreten sind. Noch im Jahr 2014 hatten Syrer und Eritreer dagegen gut die Hälfte der damals in Italien eingetroffenen 170.000 Flüchtlinge ausgemacht; im Jahr 2015 jedoch kamen, bei leicht sinkenden Flüchtlingszahlen, kaum noch Syrer, von den Eritreern waren es immerhin noch etwa 40.000. Ein Jahr später nun sank auch der Anteil der Eritreer gegen null. Unklar sind die Zukunftsszenarien. Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass in Libyen etwa 700.000 bis eine Million Menschen zur Überfahrt nach Italien bereit sind, viele von ihnen Schwarzafrikaner, die ursprünglich als Arbeiter auf dem Bau oder in der Landwirtschaft nach Libyen gegangen sind. Und Ita liens Innenministerium warnte noch vor wenigen Wochen, 2016 könnten etwa 300.000 Flüchtlinge und Migranten in Italien eintreffen, womit sich deren Zahl gegenüber dem Vorjahr verdoppeln würde. Auch ohne eine solche Steigerung gehört Italien zu den Hauptankunftsländern, bisher aber nicht zu den Hauptaufnahmestaaten Europas. 2014 zum Beispiel stellten nur 64.000 Menschen in Italien einen Asylantrag, 2015 dann 83.000, und in staatlichen Einrichtungen sind gegenwärtig etwa 110.000 Antragsteller beherbergt. Auch deshalb spielen Flucht und Migration in Italien eine weit geringere Rolle im politischen Diskurs als in Deutschland, Österreich oder Schweden. Dies könnte sich allerdings dann ändern, wenn Österreich mit der Drohung Ernst macht, seine Grenze auch zu Italien abzuriegeln. MICHAEL BRAUN Schwerpunkt Welthilfegipfel M IT TWOCH, 25. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 In Istanbul verhandeln Vertreter aus 177 Staaten, um Hilfe zu koordinieren. Wichtige Akteure sind erst gar nicht gekommen „Irgendwie“ doch mehr als Blabla GIPFEL Die Erwartungen an den humanitären Weltgipfel in Istanbul waren gering. Nun sind viele Teilnehmer positiv überrascht AUS ISTANBUL JASPER MORTIMER Auf einer Terrasse mit Blick auf den Bosporus nippen drei junge Frauen unter weißen Sonnensegeln an Kaltgetränken. Es sind Syrerinnen, die sich auf dem humanitären Weltgipfel in Istanbul für die 2,7 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei einsetzen. Wie die meisten Delegierten auf dem Mammutgipfel, der Vertreter von 177 Staaten und rund 600 NGOs zusammengeführt hat, kamen sie mit geringen Erwartungen. Dann wurden sie positiv überrascht. „Wir finden, dass die Leute für die syrische Sache sehr aufgeschlossen sind“, sagt Lina Sergie Attar, deren „KaramStiftung“ sogenannte innovative Bildung für Flüchtlinge zur Verfügung stellt. Sie ist begeistert über den neuen globalen Bildungsfonds „Education Cannot Wait“, der Bildung für die weltweit 37 Millionen Kinder ermöglichen will, die kriegs- und krisenbedingt nicht zur Schule gehen. Großbritanniens Expremierminister Gordon Brown hat den Fonds soeben auf dem Gipfel lanciert, mit einer Anschubfinanzierung der britischen Regierung von 30 Millionen Pfund sowie 100 Millionen Dollar privaten Spendengeldern. Für 200.000 syrische Flüchtlingskinder in der Türkei, Libanon und Jordanien soll es nun Schulunterricht für zwölf Monate geben. „Wenn die Zusagen eingehalten werden und wirklich der Schulbildung von Kindern auf der ganzen Welt dienen, wäre das eine gigantische Leistung“, lobt Attar. „Wenn aus Worten Taten werden, ist dieser Gipfel ein großer Erfolg.“ „Wenn“ – das ist das Schlüsselwort. Eines der bekanntesten Hilfswerke der Welt, Ärzte ohne Grenzen (MSF), boykottiert den Gipfel. Der, begründet das die britische MSF-Direktorin Vickie Hawkins, würde zwar „viele gute Vorsätze, aber auch leere Rhetorik“ bringen. Auch Mark Goldring, britischer Direktor von Oxfam, zeigte sich skeptisch und warnte vor „teurem Blabla“. Wie findet Goldring den Gipfel jetzt? Doch mehr als Blabla? „Irgendwie schon“, konzediert der Brite. „Aber er ist kein großer Durchbruch. Wir sehen nicht, dass die Großmächte etwas tun, um die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts Wirklichkeit werden zu lassen.“ Ein wichtiges Thema nämlich ist neben neuen ganzheitlichen Förderinstrumenten die Problematik der Angriffe auf Helfer. Immer mehr humanitäre Hilfe findet in Kriegsgebieten statt, das ist eine neue Herausforderung. 1,5 Milliarden Menschen leben in Krisengebieten, 92 Prozent von Kriegsopfern sind Zivilisten, erklärt Gipfelsprecher Hervé Verhoosel. „Wir müssen das Verhalten der Kriegführenden verändern“, sagt Peter Maurer, Leiter des In- Flüchtlingsschicksale, groß inszeniert: Schauspieler bei der Eröffnungsfeier des Weltgipfels am Montagabend in Istanbul Foto: Benoit Doppagne Belga/afp UN-Hilfsappelle 2016 3,8 Mrd. $ (18 %) 20,8 Mrd. $ UN-Bedarf für humanitäre Hilfe weltweit, für 91 Mio. Menschen in 40 Ländern Syrien regional 4,6 Mrd. $ Umfang der UN-Hilfsappelle für 2016 bisher finanziert Syrien national 3,2 Mrd. $ Jemen 1,8 Mrd. $ Äthiopien 1,5 Mrd. $ 23 % 14 % 16 % 42 % Südsudan national 1,3 Mrd. $ Somalia 885 Mio. $ Irak 860 Mio. $ DR Kongo 690 Mio. $ 29 % 20 % 24 % 12 % Südsudan regional 637 Mio. $ Palästina 571 Mio. $ Tschad 567 Mio. $ Zentralafr. Republik 531 Mio. $ 8% 25 % 9% 2% Weltweite humanitäre Hilfe 8,0 Mrd. $ 3,8 Mrd. $ im UN-Rahmen Quelle: OCHA, Stand: 16.5.2016 4,2 Mrd. $ außerhalb des UN-Rahmens taz.Grafik: infotext-berlin.de ternationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Leider gebe es dafür keine Zwangsmittel. „Es gibt nur Druck.“ Niemand weiß so gut wie die diskreten Diplomaten des IKRK, wie man sich auch mit Kriegsverbrechern arrangiert. In Afghanistan haben die Rotkreuzler Zugang zu Gegenden, die anderen verschlossen bleiben. Sie führen in Konfliktgebieten sogar Impfprogramme durch. „Das bedeutet nicht, dass es keine Übergriffe gibt. Aber wir sehen konkrete Verbesserungen.“ Denn auch die bestkonzipierte humanitäre Hilfe bringt nichts, wenn sie nicht ankommt. „Millionen von Menschen erreichen wir nicht“, sagt Jan Egeland, der ehemalige UN-Untergeneralsekretär, der jetzt den Norwegischen Flüchtlingsrat NRC leitet. Dessen Mitarbeiter befinden sich in der Nähe der vom „Islamischen Staat“ (IS) kontrollierten irakischen Stadt Falludscha, kommen aber ebenso wenig an die 50.000 Menschen dort heran wie andere Hilfswerke. Verhandlungen mit dem IS über einen Zugang seien gescheitert, so Egeland. Aber das Prinzip sei richtig: „Wir müssen auch dort sein, wo sogenannte Terrorgruppen die Kontrolle haben.“ Um humanitäre Hilfe in Kriegsgebieten zu verbessern, wünscht sich der Norweger Strafverfahren gegen Länder, die Kriegsparteien unterstützen, die die Genfer Konventio nen verletzen. „Es ist keine Kunst, herauszufinden, wer ein Krankenhaus bombardiert hat. Und wenn man das herausfindet, setzt man die Sponsoren der Täter auf eine schwarze Liste.“ Aber daraus wird in Istanbul nichts, denn die relevanten Entscheidungsträger sind nicht da. Keine einzige Vetomacht des UN-Sicherheitsrats ist hochrangig vertreten. Höchste US-Vertreterin ist die Chefin der Hilfs- „Wir müssen das Verhalten der Kriegführenden ändern“ PETER MAURER, LEITER DES INTERNATIO NALEN KOMITEES VOM ROTEN KREUZ behörde USAID, Gayle Smith. Höchstrangiger Russe ist der Vizeminister für Katastrophen, Wladimir Artamonow. „Dass die Staatschefs nicht kommen, zeigt, wie unwichtig diese Länder humanitäre Belange finden“, kommentiert İlnur Çevik in der regierungstreuen türkischen Zeitung Sabah. Aber viele Gipfelteilnehmer sehen das anders. Es sei sehr anregend, sagt Shipra Narang Suri, ein Stadtplaner aus Indien. Zwar gebe es zu viele vorbereitete Reden und zu wenig spontane Interaktion. Aber: „Man kann viel lernen und viele neue Leute treffen. Es ist spannend.“ Ein vernachlässigtes Hilfsinstrument, neu entdeckt UNO Der nach dem Tsunami von 2004 gegründete UN-Nothilfefonds fristet bisher ein Schattendasein. Er steht nun Modell für bessere Koordination BERLIN taz | Im Mittelpunkt der Debatten auf dem Istanbuler Gipfel steht der Zentrale Nothilfefonds der Vereinten Nationen (Cerf), das wichtigste Instrument der UNO, um Hilfsgelder auf Vorrat einzusammeln und so ausgeben zu können, wie es Notlagen gerade erfordern. Von bisher rund 450 Millionen USDollar jährlich soll der Fonds nach Willen vieler Gipfelteilnehmer auf eine Milliarde aufgestockt werden. Den Cerf hatte die UN-Generalversammlung Ende 2005 in Reaktion auf den Hilfswirrwarr nach der Tsunami-Katastrophe Deutschland steht an siebter Stelle der Geber des Hilfsfonds Cerf, zwischen Spanien und Irland ein Jahr zuvor ins Leben gerufen. In den ersten zehn Jahren seines Bestehens hat er nach eigenen Angaben 4,1 Milliarden US-Dollar in 94 Ländern ausgegeben. Gemessen am gesamten Hilfsbedarf der UNO – im laufenden Jahr über 20 Milliarden Dollar – ist das ein Tropfen auf dem hei- ßen Stein: Nur 2 Prozent der gesamten humanitären Hilfe der UNO im Jahr 2014 kamen aus dem Zentralen Hilfsfonds. Eine Verdoppelung des Fonds ändert daran kurzfristig wenig, kann aber Reformen befördern, über die in Istanbul Konsens besteht: mehr Vernetzung, mehr Flexibilität und mehr Verzahnung zwischen den Erfordernissen der Nothilfe, den Selbstverpflichtungen der globalen Entwicklungspolitik und den Zielen der globalen Klimapolitik. Mit Abstand größter Einzahler des Cerf bisher ist Großbritannien mit 855 Millionen Dol- lar seit seiner Gründung, gefolgt von Schweden, Norwegen und den Niederlanden. Deutschland steht an siebter Stelle der Geber, zwischen Spanien und Irland. Größter Empfänger von CerfGeldern mit über 1,3 Milliarden Dollar in zehn Jahren ist das UNWelternährungsprogramm WFP gewesen. Vier Dauerkrisengebiete stehen an der Spitze der Länder, in denen Cerf-Gelder zum Einsatz kommen: Sudan (280 Millionen US-Dollar in zehn Jahren), die Demokratische Republik Kongo (260 Millionen), Äthiopien (230 Millionen) und Somalia (225 Millionen). Die al- lerneueste Cerf-Zusage von diesem Dienstag beläuft sich auf 541.991 US-Dollar für die Weltgesundheitsorganisation in Ecuador – Hilfe nach dem Erdbeben. Es gibt auch politisch heikle Ansätze. So werden neun UNMenschenrechtsbeobachter, die seit dem 1. April in Burundi tätig sind, aus Cerf-Mitteln finanziert. Der Fonds gewährte dafür 499.960 US-Dollar, einen Tag nachdem der UN-Sonderberichterstatter zu extralegalen Hinrichtungen von 500 Tötungen, 1.700 „wahllosen“ Verhaftungen und 20 Fällen von Verschwindenlassen in Burundi gesprochen hatte. Das Beobachterteam hat seit seiner Entsendung dutzende neue Fälle von Folter aufgedeckt. Staatliche Verfolgung hat Hunderttausende aus Burundi in die Flucht getrieben und damit eine humanitäre Krise hervorgerufen, die wiederum Hilfe in Millionenhöhe erzwingt. Dieses Übel an der Wurzel zu packen, indem der zentrale UNHilfsfonds sich mit Menschenrechten befasst, ist ein Beispiel eines integrierten Ansatzes humanitärer Hilfe. Das soll Schule machen – das ist die Botschaft von Istanbul. DOMINIC JOHNSON
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