Türkei: Erdoğan gestört, Sorgerecht verloren Warum die Journalistin Arzu Yıldız mit Haft und Kindesentzug bestraft wurde ▶ Seite 18 AUSGABE BERLIN | NR. 11027 | 21. WOCHE | 38. JAHRGANG DONNERSTAG, 26. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Urlaubsgeld gehört zum Mindestlohn It’s hard to say I’m sorry H EUTE I N DER TAZ Arbeitgeber dürfen Sonderzahlung anteilig anrechnen URTEIL ERFURT afp | Arbeitgeber dür- fen einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zufolge bei der Berechnung des gesetzlichen Mindestlohns Urlaubs- und Weihnachtsgeld anteilig anrechnen. Vereinbarungen, wonach das Urlaubsgeld in Raten monatlich ausbezahlt und somit die Mindestschwelle von 8,50 Euro pro Stunde erreicht wird, seien unter Umständen zulässig, erklärte das Gericht am Mittwoch. Die Voraussetzung ist, dass solch eine entsprechende Vereinbarung vorab mit dem Betriebsrat geschlossen wurde. Das Bundesgericht bestätigte das Urteil der Vorinstanzen. Damit scheiterte die Klage einer Frau aus Brandenburg endgültig: Sie habe auf Grundlage des Mindestlohngesetzes keinen Anspruch auf ein erhöhtes Monatsgehalt, erhöhte Jahressonderzahlungen sowie erhöhte Lohnzuschläge, heißt es im Urteil. ▶ Der Tag SEITE 2 SÜSS Kinderfotos von Jérôme Boateng und anderen deutschen Nationalspielern auf Schokoladen sorgen für Aufregung ▶ SEITE 14 SAUER Nichts wie raus aus der unsozialen EU: Warum ein nordirischer Sozialist für den „Brexit“ plädiert ▶ SEITE 12 LUSTIG Michael Müller mit Helm – und neuem Programm ▶ SEITE 23 Fotos: imago, privat (oben) VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Große Freude bei den Grünen über das österreichische Wahlergebnis. Jürgen Trittin in der Berliner Zeitung: „Es zeigt, dass man gegen den Rechtspopulismus gewinnen kann, wenn man die Auseinandersetzung offensiv annimmt. Klare Kante für die Demokratie zeigen bringt Erfolg.“ Reinhard Bütikofer, in der taz: „Van der Bellen ist kompromisslos für fundamentale Werte eingetreten.“ Äh. So wie in den „Tagesthemen“? Da sprach Van der Bellen mit klarer Kante von „pragmatischem Humanismus“ und beim Thema Asyl offensiv und kompromisslos von Regierung fühlt sich integriert HIROSHIMA Barack Obama besucht als erster USPräsident den Ort des ersten Atombomben abwurfs – und wird für diese Geste in der Heimat kritisiert. Warum die USA eine Entschuldigung ablehnen und wie Japan damit umgeht ▶ SEITE 3 BERLIN epd/taz | „Meilenstein“, „Kapazitätsgrenzen“. 6. August 1945: Atombombenexplosion über Hiroshima. 80.000 Menschen starben sofort, mindestens ebenso viele an Spätfolgen Foto: picture alliance „Paradigmenwechsel“, „entscheidende Zäsur“: Nach dem Kabinettsbeschluss zum Integrationsgesetz verfiel die Bundesregierung am Mittwoch in Superlative. Es soll das Prinzip „Fördern und Fordern“ gelten. Flüchtlinge müssen auch Integrationspflichten erfüllen. Kritik gab es von der Opposition: Die Linke warf der Koalition vor, Flüchtlingen zu unterstellen, sich nicht integrieren zu wollen. Begrüßt wurde das Gesetz dagegen vom Deutschen Städtetag, der sich von der Wohnsitzzuweisung eine Entlastung bestimmter Städte verspricht. ▶ Inland SEITE 6 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.889 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 40621 4 190254 801600 KOMMENTAR VON BERND PICKERT ÜBER OBAMAS BESUCH IN HIROSHIMA B Ein Amerikaner entschuldigt sich nicht arack Obama will einen Platz in der Geschichte. Der soll nicht nur darin bestehen, erster schwarzer Präsident der USA gewesen zu sein, sondern am besten auch noch nachträglich den Friedensnobelpreis rechtfertigen. Und all das in den letzten zwei Jahren seiner Amtszeit. Also hat Obama die Öffnung zu Kuba eingeleitet, den Nukleardeal mit dem Iran unter Dach und Fach gebracht, das Waffenembargo gegen Vietnam aufgehoben. An diesem Freitag wird er der erste US-Präsident sein, der im japanischen Hiroshima einen Kranz an der Gedenkstätte für die Opfer des US-Atombombenabwurfs am 6. August 1945 niederlegt. Der Gang nach Hiroshima fällt dabei aus der Reihe, weil dieses Mal so wenig praktische Konsequenzen zu erwarten sind. Japan ist – anders als Vietnam, Kuba und Iran – schon ewig kein Gegner mehr, sondern enger Verbündeter. Seinem in der Prager Rede 2009 formulierten Ziel einer atomwaffenfreien Welt ist Obama dagegen kein Stück nähergekommen. Er wird in seiner Rede darauf zurückkommen – Konsequenzen hat das nicht. Neu wäre, wenn Obama sich entschuldigen würde. Doch das wird nicht passieren. Nicht nur, weil sich die USA ohnehin nur selten für irgendetwas entschuldigen. Ausgestattet mit dem Bewusstsein der Einzigartigkeit, gibt es nach Ansicht vieler US-Amerikaner keinen Grund, irgendjemanden um Verzeihung zu bitten. Erst recht nicht den Angreifer von Pearl Harbor. Vor allem aber würde eine Entschuldigung die in der US-amerikanischen und der internationalen Öffentlichkeit verinnerlichte Geschichtsschreibung auf den Kopf stellen. Oder genauer gesagt: vom Kopf auf die Füße. Denn die Behauptung, Obama will Geschichte schreiben, ohne sie umzuscheiben dass die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki notwendig waren, um den Krieg zu verkürzen und Millionen Menschenleben zu retten, US-amerikanische wie japanische, stimmt ziemlich sicher nicht. Die Bomben waren mehr ein Test für die Wirkung von Atombomben über Städten und gleichzeitig der Auftakt des Konfliktes mit der Sowjetunion. Die meisten damaligen US-Militärstrategen hielten eine japanische Kapitulation auch ohne Atombombe für unmittelbar bevorstehend. Aber dann wäre der Bombenabwurf ein Kriegsverbrechen. Dieses Fass will Obama nicht aufmachen. Er will ja Geschichte schreiben, nicht umschreiben. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN DATENTRANSFERS I N DI E USA KOALITIONSEI N IGUNG Neuer Ärger für Facebook und Co Nicht mehr Armee im Inland BERLIN/DUBLIN | Nach der ge- Geistlicher: Maulawi Haibatullah Achundzada Foto: reuters Der neue Taliban-Chef N ach den zwei Feldkommandeuren Muhammad Omar und Achtar Muhammad Mansur führt nun erstmals ein islamischer Geistlicher Führer die religiös inspirierte Taliban-Aufstandsbewegung in Afghanistan: Maulawi Haibatullah Achundzada. Zwar schmückten sich seine Vorgänger mit dem Titel „Mullah“, doch besaßen sie nur eine rudimentäre religiöse Ausbildung. Haibatullahs Titel Maulawi deutet höhere religiöse Bildung an. Das qualifiziert ihn, islamische Rechtsgutachten (Fatwas) zu erlassen, und gibt ihm den Titel Mufti. Auch wird er als „Scheich“ bezeichnet. Mullah Omar soll ihn, den Älteren, seinen „Lehrer“ genannt haben. Haibatullah (was so viel wie „Fürchtegott“ bedeutet; die Afghanen sprechen sich oft mit dem ersten Namen an) trägt nun auch den Titel Amir ul-Momenin (Anführer der Gläubigen) und des Islamischen Emirates Afghanistan, wie sich die Taliban offiziell nennen. Er soll etwa 56 Jahre alt und in der südafghanischen Provinz Kandahar geboren worden sein. Er gehört zum Paschtunen-Stamm der Nursai. Nach außen war Haibatullah zuvor kaum bekannt, in der Taliban-Bewegung aber prominent. Er gehört zur Gründergeneration und stand von Anfang an Mullah Omar nahe. Er arbeitete während der Taliban-Herrschaft in Kabul (1996–2001) im Justizapparat, wahrscheinlich zeitweise als Militärstaatsanwalt, was im Felde neben seiner religiösen Autorität auch Ansehen unter Kommandeuren eingebracht haben dürfte. Haibatullah gehörte schon lang zum Taliban-Führungsrat, der sogenannten QuettaSchura (benannt nach dessen früherem Hauptdomizil in der gleichnamigen pakistanischen Großstadt) sowie zum einflussreichen Rat der Islamgelehrten. Der soll Beschlüsse des Führungsrates religiös legitimieren. Bis 2015 soll er an einer Koranschule in Quetta studiert und zugleich selbst eine solche Schule in der afghanischen Flüchtlingssiedlung Kuchlak nahe Quetta geleitet haben. Dafür wird er jetzt keine Zeit mehr haben, denn die Regierung in Kabul hat ihm schon das gleiche Schicksal angedroht wie Mansur, sollte er nicht zu Friedensgesprächen bereit sein. THOMAS RUTTIG Ausland SEITE 10 Der Tag DON N ERSTAG, 26. MAI 2016 kippten Safe-Harbor-Vereinbarung droht Unternehmen, die Nutzerdaten in die USA übermitteln, neues Ungemach. Denn die irische Datenschutzbehörde will auch gegen eine beliebte SafeHarbor-Alternative vorgehen: die sogenannten Standardvertragsklauseln. Die verwenden aktuell viele Unternehmen als Rechtsgrundlage, um persönliche Daten europäischer Nutzer in die USA zu übermitteln. Kippt der Europäische Gerichtshof – wie bereits Safe-Harbor – die Klauseln, wird es für Unternehmen schwierig. Dass die irischen Datenschützer überhaupt gegen die Klauseln vorgehen wollen, teilten sie Max Schrems mit – der hatte sich einst gegen die Datenübermittlung von Facebook beschwert und damit letztlich die Safe-Harbor-Vereinbarung zu Fall gebracht. Schrems geht nun davon aus, dass das Gericht auch die Standardvertragsklauseln kippt. Der Jurist hatte bei seinem Vorgehen gegen Facebook argumentiert, dass die Daten europäischer Nutzer in den USA nicht vor ausufernden Überwachungsmaßnahmen geschützt seien. (taz, dpa) BERLIN | Die Koalition hat ihren Streit über den Bundeswehreinsatz im Inland beigelegt. Eine Grundgesetzänderung, um den Einsatz der Armee im Innern zu erleichtern, ist vorerst vom Tisch. Das bestätigte das Verteidigungsministerium gestern. Mit dem Auswärtiges Amt habe man sich auf eine Kompromissformulierung für das neue Bundeswehr-Weißbuch geeinigt. Dort sollen nun die bestehenden Optionen betont werden, Streitkräfte an Polizeieinsätzen zu beteiligen, etwa „bei terroristischen Großlagen“. (dpa) GROSSES KI NO ISRAEL Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscar-Kandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: Alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de Rechtsruck in der Regierung JERUSALEM | Die israelische Re- gierung rückt so weit nach rechts wie noch nie: Die ultranationalistische Partei Israel Beitenu (Unser Haus Israel) trat der Regierungskoalition von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei, ihr Parteichef Avigdor Lieberman wurde gestern zudem zum Verteidigungsminister ernannt. Die Ernennung des 57-jährigen Hardliners Lieberman löste bei der Opposition und auch bei Teilen der konservativen Likud-Partei die Sorge vor einer weiteren Verhärtung im Nahostkonflikt aus. (afp) Der Trick mit den 12 Monaten URTEIL Der Mindestlohn darf unter 8,50 Euro pro Stunde liegen, wenn Urlaubs- und Weihnachtsgeld monatlich ausgezahlt werden. Das Vorgehen knauseriger Arbeitgeber wird vom Bundesarbeitsgericht abgesegnet AUS ERFURT CHRISTIAN RATH Urlaubs- und Weihnachtsgeld sind auf den gesetzlichen Mindestlohn anrechenbar. Das entschied jetzt das Bundesarbeitsgericht im ersten Grundsatzurteil zum seit 2015 geltenden Mindestlohngesetz. Der Anwalt der Klägerin zeigte sich nach dem Urteil „erschüttert“. Geklagt hatte eine 52-jährige Frau, die seit 1992 in der Cafeteria des Klinikums Brandenburg/ Havel arbeitet. Die Cafeteria wird von einer nicht tarifgebundenen Tochtergesellschaft geführt. Diese Klinik Service Center GmbH (KSC) hat insgesamt 355 Beschäftigte. Die 52-Jährige arbeitet Vollzeit und bekommt dafür 1.391 Euro im Monat, was einem Stundenlohn von rund 8 Euro entspricht. Sie freute sich über die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro. Denn dann würde sie 1.473 Euro erhalten, dachte sie, also 81 Euro mehr. Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Viele Unternehmen werden nun Urlaubsund Weihnachtsgeld in Raten zahlen Kurz bevor im Januar 2015 das Mindestlohngesetz in Kraft trat, schloss die Geschäftsleitung von KSC mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung, wonach künftig das Urlaubs- und das Weihnachtsgeld nicht mehr im Mai und November ausgezahlt werden, sondern monatlich in je zwölf Teilen. So bekam Frau L. knapp 116 Euro mehr pro Monat, was einen Verdienst von 1.507 Euro ergab. KSC betonte, dass man damit das Mindestlohngesetz eingehalten habe, obwohl kein Cent mehr bezahlt wurde. Die Frau aus der Cafeteria wollte sich das nicht bieten las- sen und klagte. „Im Arbeitsvertrag steht, dass das Urlaubsgeld ‚zusätzlich‘ gezahlt wird“, betonte ihr Anwalt Simon Daniel Schmedes vor dem Bundesarbeitsgericht. Das Urlaubsgeld decke den erhöhten finanziellen Bedarf im Sommer ab und das Weihnachtsgeld belohne die Tariftreue. Die Betriebsvereinbarung sei nichtig, weil sie dazu diene, das Mindestlohngesetz zu unterlaufen. Der KSC-Anwalt entgegnete: „Es kommt nicht nur auf den Grundlohn an. Entscheidend ist, dass das Gesamteinkommen dem Mindestlohngesetz entspricht.“ Das Urlaubs- und Das ganze Jahr Weihnachten? Nur wenn es sich für Arbeitgeber von Kantinenmitarbeiterinnen rechnet Foto: Bernd Arnold Wie läuft’s beim Mindestlohn? CASH das Weihnachtsgeld seien weitere Formen der Bezahlung der Arbeitsleistung. Das Urlaubsgeld werde auch den Beschäftigten bezahlt, die nicht in den Urlaub fahren. Und Weihnachtsgeld erhalte jeder Mitarbeiter, nicht nur besonders treue Beschäftigte. Das Bundesarbeitsgericht billigte jetzt das Vorgehen des Klinikunternehmens. Der Arbeitnehmer habe zwar Anspruch auf den Mindestlohn, dieser könne aber auch durch Sonderzahlungen wie das Urlaubs- und Weihnachtsgeld „erfüllt“ werden, wenn diese „vorbehaltlos“ in jedem Monat bezahlt werden, erklärte der Vorsitzende Richter Rudi Müller-Glöge. Dem KSC-Beispiel werden nun wohl viele Unternehmen folgen und ebenfalls das Urlaubs- und Weihnachtsgeld in 12 Raten aufteilen. Voraussetzung ist aber, dass sie überhaupt solche Sonderleistungen zahlen. Nach einer Umfrage des WSITarifarchivs zahlen nur 43 Prozent der deutschen Unternehmen Urlaubs- und 54 Prozent Weihnachtsgeld. Zudem muss der Betriebsrat der Zwölftelung zustimmen oder der Arbeitnehmer einer Änderung des Arbeitsvertrags. Nicht verrechenbar sind Zuschläge für Nachtarbeit, erwähnte Richter Müller-Glöge in seiner mageren Begründung. Was für Feiertagszuschläge gilt, ließ er offen. Am 29. Juni steht am Bundesarbeitsgericht das nächste Grundsatzurteil zum Mindestlohn an. Dann wird entschieden, ob das Mindestlohngesetz auch für Bereitschaftszeiten von Rettungssanitätern gilt. Az.: 5 AZR 135/16 THEMA DES TAGES Über vier Millionen Menschen haben dank Mindestlohn mehr Geld. Und der Wirtschaft tat es gar nicht weh. BERLIN taz | Für diesen Text ist kein Mindestlohn angefallen. Denn dieses 80-Zeilen-Beistück ist das Werk eines Volontärs. Das ist quasi ein journalistischer Auszubildender. Also bekommt er auch noch kein volles Gehalt. Ähnlich wie 1,5 Millionen andere Menschen in Deutschland, die nicht den Mindestlohn von 8,50 Euro bekommen. Darunter sind Lehrlinge, Minderjährige und PraktikantInnen, die im Rahmen ihrer Ausbildung oder ihres Studiums hospitie- ren. Außerdem dürfen Arbeitgeber an zuvor Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten weniger Geld zahlen. Und dann gibt es in einigen Branchen noch Übergangsregelungen, die tariflich geregelt sind. Dennoch hat der Großteil der GeringverdienerInnen von der gesetzlichen Regelung profitiert. Vier Millionen Menschen bekommen seit Einführung des Mindestlohns am 1. Januar 2015 mehr Geld. Das ergibt sich aus einer, Achtung Beamtenwort, Verdienststrukturerhebung des Sta- tistischen Bundesamts aus dem Jahr 2014. Demnach müsste jedEr zehnte ArbeitnehmerIn vom Mindestlohn profitiert haben. In Geld: 431 Millionen Euro Mehrverdienst pro Monat. Bekommen haben die Kohle Menschen in zuvor gering bezahlten Jobs. Das betraf im April 2014 zu 58 Prozent Frauen. In Ostdeutschland fiel fast jeder fünften Job darunter, im Westen nur 9 Prozent. Die meisten sind in Branchen, die nicht tarifgebunden sind: etwa im Einzelhandel und der Gastronomie. Dort betrifft das jeweils circa eine halbe Million Beschäftigte. Verstöße gegen das Gesetz gibt es eher wenige, heißt es beim Zoll, der zuständig ist für die Überprüfung. „Es gibt insgesamt wenige Tricksereien oder systematischen Betrug“, sagt Zoll-Sprecher Klaus Salzsieder. Zwar komme es vor, dass MiniJobber unbezahlt Überstunden machen oder Scheinselbstständigkeit die Regelung untergraben, aber das sei insgesamt eher die Ausnahme, so Salzsieder. Ein Jobkiller, wie die Wirt- schaftswissenschaftler des ifoInstituts, viele Unternehmer und die CDU geunkt hatten, ist der Mindestlohn nicht: Laut Bundesagentur für Arbeit und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit gab es keine Arbeitsplatzverluste infolge der Einführung. Ab 1. Januar 2017 können Geringverdiener mit einer Lohnerhöhung um 30 Cent auf dann 8,80 Euro pro Stunde rechnen. Die Mindestlohnkommission orientiert sich hierzu an den GARETH JOSWIG Tariflöhnen. Schwerpunkt Hiroshima DON N ERSTAG, 26. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Heute beginnt der G-7-Gipfel in Japan. Als erster amtierender US-Präsident reist Obama anschließend auch nach Hiroshima AUS HIROSHIMA FELIX LEE „Hören Sie die Spatzen zwitschern?“, fragt Okihiro Terao und zeigt auf die Vögel, die um den Springbrunnen herumfliegen. Für ihn klinge das wie peace, peace, peace. „Hiroshima lebt ein ruhiges Leben“, sagt der 75-Jährige und blickt auf den sanft fließenden Motoyasu-Fluss vor dem Gembaku Dome, der Atombombenkuppel, wie die Menschen von Hiroshima die Ruine nennen. Der Dome ist als einziges Gebäude in einem Radius von zwei Kilometern am 6. August 1945 nicht komplett pulverisiert worden, nachdem die US-Luftwaffe die Atombombe abgeworfen hatte. „Die Kinder sind gesund und wohlbehütet, die Spatzen zwitschern“, sagt Terao. Er sei dankbar dafür, dass in Japan seit 70 Jahren Frieden herrsche und der Schrecken des Krieges für die meisten Japaner inzwischen eine ferne Erinnerung sei. „Das ist gut“, sagt Terao. Aber die Ereignisse dürften nicht in Vergessenheit geraten. Und deswegen sei er froh, dass Barack Obama als erster amtierender US-Präsident an diesem Freitag Hiroshima besuchen und vor dem Friedensdenkmal einen Kranz niederlegen wird. „Ich halte viel von Obama“, sagt Terao. Er meine es Ernst mit der nuklearen Abrüstung. „Er macht die Welt ein kleines bisschen besser.“ Okihiro Terao war damals fünf, als er die Atombombe von Hiroshima überlebte. Er ist ein Hibakusha, wie die Überlebenden in Japan bis heute genannt werden. Fast jeden Tag kommt er an den Springbrunnen im Friedenspark, klappt einen Tisch auf, stellt darauf seine zwei selbst angefertigten Modelle aus buntem Glas. Das eine Modell zeigt die Ruine, das andere das Gebäude, als es noch der Prunkbau der Industrie- und Handelskammer war. Letzteres hat Terao auf einem Foto in die heutige Silhouette der Innenstadt montiert. „So würde Hiroshima aussehen, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte.“ Hiroshima war zu Kriegszeiten Hauptquartier von mehreren Einheiten. Über die ganze Stadt verteilt gab es Dutzende an Kasernen. Nach dem Tod des Vaters im Sommer 1945 beschloss die Mutter wegen der ständigen Bombardierungen durch die Amerikaner mit ihren drei Söhnen zu ihrer Schwester aufs Land zu ziehen, rund vier Kilo- Okihiro Terao war fünf Jahre alt, als US-Flieger die Atombombe über Hiroshima abwarfen. Vor der Atombombenkuppel zeigt er seine Modelle des Gebäudes Foto: Kyodo News/imago „Zorn bringt uns nicht weiter“ ZEITZEUGE Okihiro Terao hat den Atombombenabwurf über Hiroshima überlebt. Das Stigma des verstrahlten Opfers haftete ihm noch lange Jahre an. Jetzt ist er froh darüber, dass Obama seine Stadt besuchen will meter vom Stadtzentrum entfernt. Zwei Wochen später brach seine Mutter frühmorgens zum Einkaufen in die Innenstadt auf. Terao und seine beiden Brüder spielten draußen im Garten, als sie plötzlich einen grellen Blitz sahen. Einige Sekunden später riss eine gewaltige Druckwelle sie zu Boden. Niemand wusste, was passiert war. „Wir hatten noch nie etwas von einer Atombombe gehört.“ Terao, seine Brüder und seine Tante machten sich auf die Suche nach der Mutter. Was sie in den nächsten Stunden sehen mussten, weiß Terao auch 71 Jahre später kaum in Worte zu fassen. Zeitungsbilder von damals zeigen eine komplett ausgelöschte Innenstadt. Überall lagen verkohlte Leichen, erzählt er. Schwerverletzte mit tiefen Brandwunden flohen aus der Stadt. „Das sind nur Geister“, versuchte die Tante zu beschwichtigen. Sie weinte. „Ich glaubte das damals“, sagt Terao. Dann fanden sie seine Mutter. Sie hatte überlebt. Wären sie nicht aus der Stadt gezogen, sagt Terao, wären auch sie „wie 80.000 andere binnen weniger Sekunden pulverisiert worden“. Die Nachkriegsjahre verbrachte Terao mit seiner Familie in einem anderen Teil von Japan. Willkommen waren sie nicht. „Die Leute vermieden es, uns zu berühren“, erinnert sich Terao, aus Angst, dass Strahlung ansteckend sein könnte. In der Schule wollte niemand mit ihm spielen. Einmal kam er weinend nach Hause und sagte zu seiner Mutter: „Ich wünschte, der Feuerball hätte auch mich verschluckt.“ Sie weinte. Tags darauf schwor Widerstreitende Gefühle JAPAN Opfergruppen debattieren: Müssen die USA sich entschuldigen? TOKIO taz | In Japan hat der Oba ma-Besuch in Hiroshima eine Debatte über die Notwendigkeit einer Entschuldigung ausgelöst. Die noch lebenden Atombombenopfer fühlen sich hin und her gerissen. Einerseits gibt es einer Umfrage zufolge bei mehr als der Hälfte der Hibakusha („von den Explosionen Betroffenen“) das Verlangen nach einer Entschuldigung. „Viele wünschen sich eine Entschuldigung an die Opfer und Angehörigen, nicht unbedingt eine generelle Entschuldigung“, sagte Terumi Tanaka, Generalsekretär vom Verband der Atombomben- und Wasserstoffbombenopfer. Obama müsse klarstellen, dass das Abwerfen von Atombomben „inhuman“ und eine „Verletzung des Völkerrechts“ sei. Tanaka hatte als 13-Jähriger die nukleare Explosion in Nagasaki miterlebt. Andererseits sehen die Opfergruppen die Ächtung von Atomwaffen als vorrangiges Ziel. „Die Forderung nach einer Entschuldigung darf nicht zu einer Hürde für die Abschaffung der Nuklearwaffen werden“, sagte Tanaka. Allerdings kritisierte der Hiroshima-Überlebende Toshiki Fujimori vom gleichen Verband die japanische Regierung: Es sei peinlich, keine Entschuldigung von Obama zu erwarteten, sagte Fujimori. Nach seinen Angaben wurde hinter den Kulissen Druck ausgeübt, keine Entschuldigung zu fordern. Das überrascht nur auf den ersten Blick. Die Regierung benutzt die US-Atombomben seit Jahrzehnten, um die Rolle von Japan als Kriegsopfer zu betonen. Das Establishment versuche so, die eigene Rolle als Aggressor unter den Teppich kehren, sagen politische Beobachter. Eine Entschuldigung der USA würde diese Strategie nur stören, weil sie auch Japan zur Entschuldigung für eigene Kriegsverbrechen gegenüber den überfallenden Ländern zwingen würde. MARTIN FRITZ sie ihre Söhne darauf ein, niemandem ein Sterbenswort über ihre Herkunft zu sagen. „Niemand will ein Atomopfer zum Mann“, warnte sie. „Wir dachten „Das sind nur Geister“, versuchte die Tante die Kinder zu beschwichtigen. Sie weinte ns gar keine komplizierte Legende aus, sondern sprachen gar nicht mehr darüber“, sagt Terao. Für das Schweigen musste die Mutter zwanzig Jahre später einen hohen Preis bezahlen. 1969 erkrankte sie an Krebs. Die Ärzte operierten sie zweimal. Als anerkannte Atombombenopfer hätte die Familie kostenlose medizinische Versorgung erhalten. Aber weil sie schwieg, blieb die staatliche Unterstützung für sie aus. Die Mutter starb. Erst Jahre nach ihrem Tod setzten sich die Brüder zusammen und beschlossen, sich als Hiroshima-Opfer anerkennen zu lassen. Teraos älterer Bruder starb ebenfalls an Krebs, der Jüngere musste sich mehrfach an der Schilddrüse operieren lassen. Terao zeigt auf eine lange Narbe, die sich vom Hinterkopf bis zu seiner Schulter zieht. 2001 erhielt er die Diagnose, dass sich Bindegewebe in Nacken und Schultern zu Knochen verwandelt haben. Acht Stunden lang schnitten Chirurgen an ihm, um die knöchernen Wucherungen zu entfernen. Heilbar ist die Krankheit nicht. Auch heute tun sich viele japanischen Funktionsträger schwer im Umgang mit Überlebenden. Zu Obamas Besuch am Freitag haben die Stadtoberen Terao nicht eingeladen. Im Gegenteil: Er muss seinen Stand abbauen. Ob er Groll auf die Amerikaner hege? „Die Waffe war unmenschlich und grausam“, antwortet Terao. „Doch Zorn bringt uns nicht weiter.“ Er erwartet nicht einmal eine Entschuldigung. „Präsident Obama stammt aus Hawaii, dort liegt auch Pearl Harbour. Nicht ein politischer Repräsentant aus Japan hat es jemals nach Hawaii geschafft, um sich für den Angriff zu entschuldigen“, kritisiert er die Funktionsträger seines Landes. „Schon der Besuch eines US-Präsidenten bedeutet für uns Überlebende sehr viel.“ Heikle Reise für Obama USA Eine Mehrheit findet den Bombenabwurf noch heute gerechtfertigt WASHINGTON taz | Bis zu seinem Tod im Oktober 2007 hat Paul Tibbets nie ein öffentliches Wort des Bedauerns für die Tragödie von Hiroshima gefunden. „Es gibt keine Moral in der Kriegsführung, Krieg an sich ist unmoralisch“, sagte er einmal in einem Interview. Tibbets saß am 6. August 1945 am Steuer jenes Kampffliegers, von der die Bombe über Hiroshima abgeworfen wurde. Umfragen zufolge halten 56 Prozent der Amerikaner den Einsatz der Bombe auch heute noch für gerechtfertigt. 34 Prozent widersprechen, der Rest möchte sich nicht festlegen. US-Präsident Harry Truman begrün- dete seine Entscheidung zum Abwurf so: „Wir haben uns der Bombe bedient, um die Qualen des Krieges zu verkürzen, um das Leben Tausender und Abertausender Amerikaner zu retten.“ Barack Obama, das hat das Weiße Haus bereits klargestellt, wird sich nicht von Truman distanzieren, nicht um Verzeihung bitten. Manche Republikaner – und manche Militärs – sehen allein schon im Faktum des Besuchs einen unangemessenen Kniefall vor Japan. Die Reise könnte als De-facto-Entschuldigung angesehen werden – ein schwerer Affront gegenüber den Soldaten, die dreieinhalb Jahre ge- kämpft hätten, um Asien zu befreien, schreibt der pensionierte Konteradmiral Lloyd R. Vasey in einem Beitrag für das Center for Strategic and International Studies in Washington. Dagegen argumentiert der Politökonom Gar Alperovitz, Autor zweier Bücher über die Geschichte der Atomwaffe, die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki seien nicht nötig gewesen, um den Zweiten Weltkrieg rasch zu beenden. Vielmehr sei es um eine Demonstration militärischer Macht gegangen, um ein Signal, das man „in der Morgendämmerung des Kalten Krieges“ nach Moskau senden wollte. FRANK HERRMANN
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