Morgenfeier in hr 2-kultur am 22.05.2016 Dr. Wolfgang Hartmann, Fulda „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ – Gott ist begegnendes Du. Der Autor verdeutlicht mit dem Blick auf die Philoxenia-Ikone von Rubljev, dass Gott in sich begegnendes Du ist. Der dreifaltige Gott ist ein Gegenbild zur Zerrissenheit des modernen Menschen. In der Begegnung mit ihm ist erfülltes Leben möglich. 26 Jahre liegt mein Abitur nun zurück. Vieles habe ich natürlich vergessen. An die Vorbereitung für die Deutschprüfung kann ich mich aber noch gut erinnern. Es ging damals um das Leben und Werk des Dichters Hermann Hesse. Ich habe eine ganze Reihe seiner Romane gelesen. Einer von ihnen, der Steppenwolf, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Hermann Hesse erzählt darin die Geschichte von Harry Haller, der zu einer Symbolfigur für den modernen Menschen wurde. Dieser Harry Haller leidet unter der Zerrissenheit seiner Zeit, auf der Krieg, Umbruch und Orientierungslosigkeit lasten. Es heißt in dem Roman: „Harry besteht nicht nur aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus tausend“. Diese innere Zerrissenheit macht ihn zu einem unglücklichen Menschen. Die vielen Sehnsüchte und Begabungen, die er in sich spürt, kann er nicht zuordnen. Es gibt für ihn keine schützende Gemeinschaft. Und die Freiheit, die er dabei erfährt, könnte das Leben doch eigentlich besonders attraktiv erscheinen lassen. Wer sehnt sich nicht nach Zwanglosigkeit und möglichst vielen Lebensentwürfen. Für Harry Haller jedoch bedeuten Freiheit und Unabhängigkeit eine starke Vereinsamung. Er wird immer mehr zum Einzelgänger. Harry erkennt sich nicht mehr. Er ist heute dies und morgen das. Das Leben wird zu einem unendlichen Spiel mit vielen Abweichungen. Dieser Roman ist deshalb so aktuell, weil nicht wenige Menschen in einer immer anonymer werdenden Massengesellschaft oft verzweifelt nach Sinn suchen. Zu viele Lebensentwürfe können den Alltag erschweren. Beliebigkeit kann zur Leere führen. Jeden Tag stehen wir vor der Frage: Welche Rolle sollen wir heute spielen? Das Leben ist aber kein bloßes Spiel. Es geht nicht nur um uns selbst. Dies wird uns oft erst in Grenzsituationen bewusst, in denen wir eine besondere Verantwortung für andere übernehmen. Dabei wird deutlich: Nur wenn wir beginnen von uns selbst wegzusehen, werden wir den eigentlichen Sinn des Lebens entdecken. Das heißt: nicht Rückzug, sondern Begegnung. Begegnung mit dem Du. Musik 1 J.S. Bach, Preludio für Laute solo, BWV 997, CD Bach 2000), Track 9, Dauer: 3´14´´ „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, so sagt es der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber. Wir selbst, unser Ich, wie Buber es nennt, entfalten uns nur in der Begegnung mit einem Du. Auch ich kenne solche Augenblicke: Da treffe ich einen Menschen, der mir zugetan ist. Und plötzlich ist es ganz leicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich kann von mir erzählen und spüre Lebendigkeit und Wärme. Wir suchen die Begegnung mit Menschen, die uns verstehen. Wo Güte, Vertrauen und Wertschätzung zum Greifen nahe sind. Da entdecken wir sie, die Schönheit des Lebens. Der Satz von Martin Buber rührt mich an: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. Ist nicht der Glaube der Christen von dieser Überzeugung getragen? Nicht nur die Begegnung mit einem Menschen, sondern die Begegnung mit Gott gibt meinem Leben Erfüllung und Sinn. Für Christen ist er nichts Abstraktes und Jenseitiges. Im Gegenteil: Für sie ist Gott eine Person, ein Gegenüber. Ich kann zu ihm Du sagen. In Jesus Christus bekommt Gott ein Gesicht. In ihm ist er mir ganz nahe. Seine Liebe erfüllt mein Leben. Und mein Weg zum Du ist wirklich ganz leicht. Es gibt aber auch Momente, in denen Gott weit weg zu sein scheint. Ich kann ihn nicht wahrnehmen. Die Last des Alltags und viele Sorgen stürzen auf mich ein. Und wenn ich Menschen treffe, die das noch viel stärker erfahren, fällt es mir besonders schwer, von Gott zu sprechen. Und doch bin ich davon überzeugt, dass der Satz von Martin Buber richtig ist. Ich glaube, dass die Begegnung mit Gott dem Leben Sinn gibt. Musik 2 J.S. Bach, aus der Triosonate G-Dur für zwei Flöten und Basso continuo, BWV 1039 , Presto, CD Bach 2000, Track 13, Dauer: 3´06´´ Auch die Bibel erzählt im Buch Genesis von einer solchen Begegnung mit Gott. Da heißt es: „In jenen Tagen erschien der Herr Abraham bei den Eichen von Mamre. Abraham saß zur Zeit der Mittagshitze am Zelteingang. Er blickte auf und sah vor sich drei Männer stehen. Als er sie sah, lief er ihnen vom Zelteingang aus entgegen, warf sich zur Erde nieder und sagte: Mein Herr, wenn ich dein Wohlwollen gefunden habe, geh doch an deinem Knecht nicht vorbei! Man wird etwas Wasser holen; dann könnt ihr euch die Füße waschen und euch unter dem Baum ausruhen. Ich will einen Bissen Brot holen, und ihr könnt dann nach einer kleinen Stärkung weitergehen; denn deshalb seid ihr doch bei eurem Knecht vorbeigekommen. Sie erwiderten: Tu, wie du gesagt hast“ (Gen 18,1-5). In dieser Erzählung trifft Abraham also drei Männer, die von ihm als Gäste aufgenommen werden. Er bewirtet sie und sorgt sich um ihr Wohl. Im weiteren Verlauf verheißen die drei Männer Abraham, dass seine Frau Sara ein Kind bekommen wird. Schon in der frühen Kirche spricht man der Begegnung zwischen Abraham und den drei Männern eine besondere Bedeutung zu. Es ist Gott, der zu Abraham kommt. Nicht nur Abraham nimmt die drei Männer als Gäste auf. In einer tieferen Bedeutung ist es Gott, der bei den Menschen einkehrt. Besser noch: Er ist es selbst, der den Menschen Gastfreundschaft schenkt. Er ist es, der sich um das Wohl der Menschen sorgt. Er kennt ihre Sehnsucht. Und: Er kann sie erfüllen. Mich berührt der Gedanke, dass Gott den Menschen sucht. Wenn er mir auch manchmal fern erscheint, ist er mir doch ganz nahe. Ihn so zu spüren, ist wirkliches Leben. Musik 3 F. Mendelssohn-Bartholdy, aus: Hymne/Drei geistliche Lieder und Fuge op. 96: "Deines Kind´s Gebet erhöre", CD Mendelsohn, Track 2, Dauer: 1´48´´ Von einer solchen Begegnung erzählt auch eine Ikone der byzantinischen Kunst. Es ist die weithin bekannte Philoxenia-Ikone von Andrej Rubljev. Sie wurde um 1410 für das Dreifaltigkeitskloster in Sérgijev-Possad gemalt. Diese Ikone zeigt drei Männer, die als Engel dargestellt sind. In der byzantinischen Tradition wird diese Darstellung als Dreifaltigkeit gedeutet. Also: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die drei Gestalten scheinen dabei miteinander im Gespräch zu sein. Sie sitzen um einen Tisch. Die rechte und die mittlere neigen sich zu jener auf der linken Seite hin, die als Gott-Vater gedeutet wird. Und der wiederum blickt auf den Sohn zu seiner Rechten. Diese Ikone fasziniert mich. Bei welcher Figur ich auch beim Betrachten ansetze: Immer werde ich in eine Kreisbewegung geleitet, die auf eine der anderen verweist. So bringt die Ikone eine Bewegung zum Ausdruck, die es in Gott selber gibt. Als Betrachter bin ich eingeladen, an dem Gespräch teilzunehmen und erlebe, wie das Schauen zum Gebet, also zu einer Begegnung mit Gott wird. Die griechische Bezeichnung dieser Ikone ist: Philoxenia, das heißt Gastfreundschaft. Gott ist es, der mir seine Gastfreundschaft anbietet. Ich darf bei ihm ausruhen. Noch einmal denke ich an Abraham und Sara und die drei Männer von Mamre. Auch Abraham und Sarah haben die Erfahrung gemacht, Aufnahme bei Gott zu finden, indem er ihnen die Geburt ihres Sohnes Isaak verheißt. Das Leben ist gesichert. Beim Betrachten dieser Ikone erfahre ich, dass Gott mein Leben berührt. Darin liegt Sicherheit. Wir feiern heute das Fest der Dreifaltigkeit. Wir feiern den Gott der Begegnung. Dieser Gott ist nicht nur auf sich selbst fixiert, sondern sucht immer das Du. Der christliche Gott lebt in drei Personen. In der Betrachtung der Ikone von Rubljev wird mir diese Einheit ganz besonders bewusst. Auch wenn ich in meinem Alltag oft das Dilemma von Zerrissenheit erlebe und glaube, mich zu verlieren, der Blick auf die Ikone hilft. Hier erfahre ich sie, die Einheit. Ich muss nicht länger ein Opfer von Angst, Hass und Gewalt sein. Die mich bisweilen bedrängenden Lebensabläufe müssen mich nicht mehr erschrecken. Und die Erwartungen, die an mich herangetragen werden, überfordern mich nicht, sondern werden milder. Ich weiß mich in Sicherheit. Ein (letzter) Gedanke aber geht mir noch nach: Rubljevs Dreifaltigkeitsikone wird Gastfreundschaftsikone genannt. Je tiefer wir in das Geheimnis der Gastfreundschaft Gottes eintreten, umso mehr wird uns das prägen. Ich stelle mir vor, wo und wie mir in den kommenden Tagen Gastfreundschaft leben können. Da gibt es die Menschen meiner unmittelbaren Umgebung: Familie, Arbeitskollegen und Freunde, aber auch jene, denen wir täglich in der Stadt begegnen, die vielen Migranten und Asylsuchenden, die in unser Land kommen. In nächster Zeit werden wir immer wieder solche Menschen treffen. Mein Wunsch für alles ist, dass gemeinsames Leben möglich ist. Wirkliches Leben. Für das Du. Für Gott. Musik 4 F. Mendelssohn, aus demselben Zyklus: "Herr, wir trau´n auf deine Güte", Track 3, Dauer: 3´44´´ Musikalische Gestaltung: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb
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