Ulrike Bajohr Dossier Klein Jasedow Leben vor

DEUTSCHLANDFUNK
Redaktion Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Redaktion: Ulrike Bajohr
Dossier
Klein Jasedow
Leben vor dem Kollaps
Von Alexa Hennings
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- Unkorrigiertes Manuskript -
Sendung: 27. Mai 2016
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Atmo Gong
O-Ton Andiel
Angela Merkel hat mal gesagt, Lassan hat den sogenannten Endpunktnachteil. Vielleicht
ist dieser Nachteil sozusagen auch ein Vorteil? Es ist ä bissel `ne ruhige Ecke hier, aber
es ist nicht so ruhig, als dass hier nix los wär’.
Atmo Gong
O-Ton Heimrath
Wenn wir es so definieren, dass eine Idee zugrunde liegt, dann hab ich die Idee, ob es
möglich ist - das ist eine fragende Idee: Ist es möglich, so zu leben, dass man dem Fluss
der Dinge nicht im Weg steht? So gesehen würde ich dann Idealist für mich schon gelten
lassen.
Atmo Gong
O-Ton Heimrath
Den Komparativ mag ich sowieso nicht, also, ich arbeite nicht für eine schönere und
bessere Welt, sondern ich arbeite für eine schöne und gute Welt. Und die muss ich hier
realisieren, die ist nicht morgen und nicht irgendwo oder irgendwann, sondern das passiert
genau hier. Genau jetzt.
Atmo Gong
Musik
Ansage:
Klein Jasedow. Leben vor dem Kollaps
Eine Sendung von Alexa Hennings
Sprecherin
Johannes Heimrath hat ein Buch geschrieben: „Die Post-Kollaps-Gesellschaft. Wie
wir mit viel weniger viel besser leben werden - und wie wir uns heute schon darauf
vorbereiten können“. In dem Bandwurm-Titel liegt das ganze Programm: Weniger
haben, besser leben.
Musik
Zitator
Was, wenn es keinen Kollaps gibt? Jenseits aller Krisen und Kollapse: ist es nicht
höchst sinnvoll, gut zu sein und dazu beizutragen, daß sich das Gute in anderen
Menschen entfaltet, jetzt und nicht erst morgen, wenn die Messen gesungen sind?
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(Die Post-Kollaps-Gesellschaft, S. 233)
Sprecherin
„Enkeltauglich“ nennt Heimrath seinen Gesellschaftsentwurf. Und wartet nicht, bis
die Welt vollends aus den Fugen gerät. Er probiert es aus, dieses Leben: in Klein
Jasedow nahe dem Städtchen Lassan, Vorpommern. Dort kann man überprüfen,
was schon da ist von der Utopie, die sich so anhört wie ein Programm, aber keines
sein soll. Statuten gibt es nicht in Klein Jasedow, wohl aber eine Verständigung auf
gemeinsame Werte:
Zitator / mit Sprecherin im Wechsel
Ordnung ohne Machtgefälle. Ausgleich der Kräfte. Kollektive Intelligenz. Autonomie
bei der Gestaltung. Einverständnis, den angestrebten Lebensweg gemeinsam
zurückzulegen. Ständige Bereitschaft, sich zu erneuern. Konzertierte Aktion beim
Bewältigen komplexer Aufgaben. Schlagartige Mobilisierung aller Kraftreserven
beim Schultern einer schweren Last. Schönheit als Ergebnis des freien Ausdrucks
der Lebensfreude. Unmittelbares Handeln. Empathie.
(Die Post-Kollaps-Gesellschaft, S.235)
Sprecherin
Gründungsmythen der Gemeinschaft Klein Jasedow gibt es einige. Einer davon hat
etwas mit Musik zu tun und mit Tolstoi, ein anderer mit unverhoffter Lektüre auf
dem Klo.
Sprecher
Vorspiel: Ein anderes Leben wird beschlossen
Atmo Heimrath liest
…Ein Schuster wohnte mit Frau und Kindern bei einem Bauern zur Miete. Er besaß weder
ein eigenes Haus noch ein Stück Land, und ernährte sich und die seinen durch seine
Schusterarbeit. Das Brot war teuer und die Arbeit billig. Alles, was er verdiente, wurde
sofort verzehrt. Der Schuster und seine Frau hatten zusammen nur einen Pelz, und dieser
war schon arg zerfetzt.
O-Ton Seemann
Als wir angefangen haben zu improvisieren und unsere eigene Musik zu machen,
Sprecherin
Beata Seemann, Cembalistin, Mitbegründerin der Gemeinschaft.
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O-Ton Seemann
…da haben wir einen Auftrag bekommen, ein Konzert zu gestalten, Musik zu machen zu
einer Geschichte von Tolstoi. Und die Geschichte hieß: Wovon die Menschen leben.
Sprecherin
Es gibt noch eine alte Kassette, darauf Aufnahmen des Konzerts mit Johannes
Heimrath als Vorleser.
Atmo Heimrath liest
Auch ohne Pelz ist mir warm! Das Gläschen, das ich getrunken, brennt mir in allen Adern.
Ich brauch’ überhaupt keinen Pelz. Meinen Kummer habe ich schon vergessen. So ein
Mensch bin ich. Was brauche ich denn überhaupt?
O-Ton Seemann
Die hat diese Themen so auf den Punkt gebracht und es hat mich auch nie wieder
verlassen, das war für mich so ein Geländer, an dem ich immer nachgegangen bin. Der
alte Tolstoi hatte ja vor vielen, vielen Jahren ein ganz ähnliches Anliegen: Er war auch ja
sehr revolutionär, er hat seine Leibeigenen in die Freiheit entlassen und was nicht alles.
Und die Leute haben ihm den Vogel gezeigt. Und jetzt ist es ganz selbstverständlich.
Musik
Sprecherin/Zitator
Tolstoi stellt mit dieser Geschichte drei Fragen: Was ist den Menschen gegeben?
Antwort: Die Liebe. Was ist den Menschen nicht gegeben? - Antwort: Sie wissen
nicht, was geschehen wird. Und: Wovon leben die Menschen? Antwort wiederum:
von der Liebe.
Sprecherin
Vier studierte Musiker - zunächst bilden sie ein Ensemble für Alte Musik, dann eines
für Improvisation - arbeiten und leben seit Mitte der 70er Jahre zusammen. Zuerst in
Bayern, dort fallen sie durch einen Schulverweigerungs-Prozess für eines ihrer
Kinder auf: Der erste und bisher einzige Fall von Schulverweigerung, der vor einem
deutschen Gericht mit einem Freispruch endete. Andere Formen der Erziehung, der
Ernährung, des Zusammenlebens: Groß- statt Kleinfamilie, Bio-Kost für alle, Kultur
für alle. Ein Leben, das nicht vom Geld diktiert wird. Der Traum: Ein Klanghaus, ein
kulturelles Zentrum der Dorfgemeinschaft.
O-Ton Seemann
Wir wollten immer ein Zentrum haben, in dem Kunst und Soziales nicht getrennt sind. Der
Ursprung war, dass Soziales und Musik etwas Verknüpftes ist. Und diese Trennung
aufzulösen: Der Künstler und der „normale“ Mensch oder so.
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Musik
Sprecherin
Anfang der 90er-Jahre lebte die Wahlfamilie - zwei Männer, zwei Frauen, drei Kinder
und einige Freunde - in der Schweiz. Die Legende besagt, dass Johannes Heimrath
auf dem Klo den „Spiegel“ lesend an der Überschrift „Irgendwie der Arsch der Welt“
hängenblieb. Das markige Zitat stammte vom damaligen Bürgermeister der
Gemeinde Pulow, zu der auch das Dorf Klein Jasedow beim Städtchen Lassan im
östlichen Vorpommern gehört.
O-Ton Andiel
Also, die Leute sind natürlich schon zu DDR-Zeiten weggezogen.
Diese Planwirtschaft hat natürlich das Schleifen von kleinen und unwirtschaftlichen oder
aufwendigen Dorfinfrastrukturen im verstreuten ländlichen Raum - das war natürlich nicht
effizient. Das Nachbardorf war schon frei gezogen in den 75er-Jahren. Auch der Ort Pulow
ist im Grunde genommen nicht mehr sehr attraktiv gewesen, es waren noch einzelne
ältere Familien da. Aber die Kinder aus dem Ort waren auch alle schon weg. Und der
nächste Schub war dann nach der Wende gewesen.
Sprecherin
Hier kann man Raumpionier sein. Dieses Gefühl hatte Matthias Andiel schon Mitte
der 80er-Jahre. Der Maler aus dem Vogtland, einem Landstrich in Sachsen, zog
damals gemeinsam mit anderen Künstlern und Lebenskünstlern nach Pulow ins
verfallene Gutshaus. Bei den ersten freien Wahlen, als keiner mehr die alten Kader
wollte, wurde er zum Bürgermeister gewählt. Fünf Jahre später war ihm klar, dass
der Aufschwung Ost an seiner Gemeinde gründlich vorbeigegangen ist. Immer noch
zogen die Leute weg, die Dörfer verfielen vollends. In dieser Situation erschien der
Artikel im Spiegel.
O-Ton Andiel
Am Arsch der Welt - da war natürlich nicht ersichtlich, wie der ausgeht. Aber ich hatte die
stille Hoffnung, dass den jemand liest im Außenfeld, der daran interessiert ist an solchen
Reizen, die solche Freiräume oder ländlichen Räume auch mit sich bringen, sich da zu
engagieren. Und das traf dann halt auch ein. Ich hatte verschiedenste Zuschriften, war viel
Interessantes dabei. Und neben den Empfehlungen, wie man Schnaps von Polen billig
irgendwohin exportiert, war auch die vernünftige Anfrage von Johannes Heimrath und
seiner Großfamilie, die sich dann interessierten und die ich dann gerne eingeladen habe,
hierher zu kommen, sich die Sache vor Ort genau anzuschauen.
O-Ton Seemann
Das war eine Reise, eigentlich eine Konzertreise von uns als Ensemble nach Lübeck, da
haben wir in der Petrikirche eine Klangnacht gehabt. Und da haben wir gedacht: Ach,
dann fahren wir doch diesen kleinen Weg von Lübeck noch hier rüber. Da gab es noch
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keine Autobahn. Sechs Stunden. Unglaubliche Pisten - ich hatte meine wertvollen
Instrumente… dies und dies hatte ich im Auto. Und dann kamen wir hier an, an einem 2.
November, einen nebligen Tag. Alles düster, der Verputz fiel von den Häusern, die Dächer
hatten Löcher. Es war einfach unglaublich. Und dann haben wir gemerkt, dass Johann
sich für diesen Ort entzündet hat. Und ich habe gedacht: Oh Gott, bloß nicht hierhin! Und
Johann hat gesagt: Das ist super, das ist unser Ort! Ich konnte mir nicht vorstellen…
meine Phantasie hat nicht gereicht, mir vorzustellen, was hier entstehen könnte. Gott sei
Dank hat Johann es gesehen.
Musik
Sprecherin
Die Musiker, ihre Kinder und Freunde, insgesamt 16 Menschen, packten in den
Alpen ihre Sachen und kamen ins Flachland, wo es am flachsten ist: nach
Vorpommern. Im Osten die polnische Grenze, im Norden der Peenestrom, der die
Touristeninsel Usedom verlässlich vom Hinterland abschneidet. Pommerland, fast
abgebrannt. Damals.
O-Ton Andiel
Ängste hatte ich natürlich auch. Wen holt man sich hier ins Nest? Und ich hab mich dann
entschieden: Pass auf Matthias, das riskierst du einfach. Das sind soziokulturell
engagierte Menschen, das ist ja mit der Musik und all diesen Dingen belegt. Und ich hab
mir gesagt: Als frischen Impuls ist der Impuls wichtiger als die Gefahren, die vielleicht
damit verknüpft sind.
Sprecherin
Der Bürgermeister musste den Gemeinderat und die Treuhand überzeugen, den
Zugereisten den verfallenen Schweinestall und mehrere marode Gebäude günstig
zu überlassen. Die Treuhand hatte das Ziel, aus allem möglichst viel
herauszuschlagen, doch es waren keine West-Millionäre, die da kamen, das Dorf zu
retten.
Musik
Sprecher
1. Satz: 16 Commonisten in der Schnitterkaserne
Atmo Rundgang, Johannes
In diesem Haus hat sich unser gesamtes Leben abgespielt.
Sprecherin
Johannes Heimrath, Lautist, Percussionist, Mitbegründer der Gemeinschaft
Atmo Rundgang, Johannes
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Das ist unglaublich, ich kann das gar nicht verstehen, wie das alles ging. Die 16
Quadratmeter waren unser Lebensmittelpunkt. Da war der Esstisch, Speisekammer,
Küche. Mehr feste Räume hatten wir ja nicht, als wir ankamen hier.
Sprecherin
Es ist die ehemalige Schnitterkaserne, in der Johannes Heimrath steht. Eher
Baracke als Haus, früher waren hier die Landarbeiter untergebracht. Er muss den
Kopf einziehen, wenn er durch die Tür tritt. Mit 16 Menschen auf 16 Quadratmetern!
Abends wurde alles mit Matratzen ausgelegt. Im Sommer schlief man draußen. Nach
vier Jahren war man so weit, dass eines der umliegenden Häuser bewohnbar war.
Kein Millionär, nirgends. Handarbeit, Stein auf Stein. Inzwischen sind fast alle
Gebäude saniert, zwei der alten Häuser durch einen Anbau miteinander verbunden,
Platz für viele Leute zum gemeinsamen Kochen, Essen, Reden. Da müssen die
Wohnungen nicht groß sein, nur kleine Refugien zum Zurückziehen. Was braucht
der Mensch?
Atmo Rundgang, Johannes
Der Stall ist sozusagen geteilt worden und nochmal geteilt worden, dahinter sieht man das
Dach von den Nachbarn, das steht auch noch auf dem alten Fundament. Und das, was
übrig geblieben ist, ist jetzt das Klanghaus. Und jetzt gehen wir gerade durch unseren
kleinen Allmende-Versuchsgarten. Einfach durch die Themen, die wir jetzt schon lange
Jahre für uns selber erarbeiten und die wir auch in der Oya publizieren Sprecherin
„Oya, anders denken, anders leben“. Zeitschrift, herausgegeben in Klein Jasedow.
Atmo Rundgang, Johannes
Das soll nicht Theorie sein, wir wollen das auch in der Praxis erproben. Wir machen einen
kleinen Acker und schauen, was passiert, wenn Menschen hier einfach aus Freude
Gemüse anbauen und das gut organisiert ist. Und am Ende nimmt jeder von den Früchten
so viel wie er oder sie braucht.
Musik
Zitator
Wem gehört was? Was ist meines, was ist deines? Ich selbst „habe“ nur das, was
ich für mein unmittelbares Wohlsein und meine persönliche Produktivität benötige.
Alles andere, Immobilien, Werkzeuge, Maschinen, die Lebensquellen, die uns der
fruchtbare Boden schenkt, habe ich zusammen mit meinen
Großfamilienangehörigen vergemeinschaftet.
(Die Post-Kollaps-Gesellschaft, S.234)
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Atmo Rundgang, Johannes
So ein Garten ist ein tolles Lehrstück. Es funktioniert wunderbar. Wir werden demnächst
anfangen, selbst Land zu bebauen, das hatten wir bis jetzt nicht. Das haben wir pachten
und kaufen können. Und da stelle ich mir vor, dieses Allmende-Prinzip weiter auszubauen,
Selbstversorgung von vielleicht 50 bis 100 Menschen. Und wie das organisiert werden
kann und was dazu notwendig ist auch an innerem Lernen, da haben wir jetzt sehr gute
Voraussetzungen, dass man das hinbekommt. Weil man weiß, wo die Fallen sind, die
menschlichen Fallen: Der Vergleich, dass man sich mit anderen vergleicht, dass man sich
einen Wert beimisst und sagt: Meine Arbeit ist mehr wert als deine. Oder, dass man Neid
hat und sagt: Du hast am wenigsten getan, du nimmst jetzt auch!
Sprecherin
In seinem Buch „Die Post-Kollaps-Gesellschaft“ entwirft Johannes Heimrath die
Vision einer „Commonie“ - einer Lebens-und Wirtschaftsgemeinschaft auf dem
Land oder in der Stadt. Eine Utopie, nur zu verwirklichen in kleinsten Strukturen wie eben Klein Jasedow.
Zitator
In der Commonie gehört primär alles sich selbst. Das, was im Kapitalismus als
Eigentum galt, ist in der Commonie mit einem umgekehrten Vektor versehen: Nicht
ich mache etwas zu meinem Besitz, sondern ich gehöre mit allem dem Leben als
Ganzem, der menschlichen und nichtmenschlichen Welt als Eigentum an. Ich eigne
mir nichts an, sondern ich eigne mich allem zu. (Die Post-Kollaps-Gesellschaft S. 234)
Atmo Rundgang, Johannes
Zum Beispiel auch mit dem Land. Wir wollen sicherstellen, dass dieses Land nicht
Gegenstand von Spekulation oder Besitzansprüchen wird. Deswegen haben wir jetzt alles
umgewandelt in eine Stiftung, der alle Immobilien gehören. Die Idee ist tatsächlich, alle
Flächen, die wir haben, enkeltauglich zu halten. Das geht nur, wenn man sie aus dem
Privatbesitz rausnimmt. Das Eigene ist was Inneres, das ist was auch Einzigartiges. Das
Eigene, das ist in mir oder das ist, wenn sich eine Gemeinschaft bildet, ist es in dieser
Gemeinschaft.
Sprecherin
Die Gründer der Lebensgemeinschaft gaben ihr elterliches Erbe in die Stiftung und
vergemeinschafteten es. Fast alle Eltern haben ihre letzten Lebensjahre in Klein
Jasedow verbracht und wurden gemeinsam betreut und gepflegt. Johannes
Heimraths 96-jährige Mutter lebt noch heute in dem Mehrgenerationenhaus, das auf
dem Gelände entstand.
Atmo Rundgang, Johannes
Insofern ist eine Stiftung was Tolles, weil alles gehört sich selbst. Alle Menschen, die hier
leben und diese Allmende nutzen und pflegen, haben natürlich das Recht, mit diesen
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Ressourcen so umzugehen, wie es jeweils sinnvoll ist. Aber sie können sie nicht
veräußern oder sie können sie nicht einfach mit irgendwas belegen, was nicht dem Sinn
der Stiftung entspricht. Und da fühle ich mich sehr wohl, weil ich habe das Gefühl: Okay,
es hängt auch nicht mehr von uns Gründern ab. Oft ist es auch so, dass dann Differenzen
auftreten zwischen den Leuten, die es angefangen haben und dann hängt ihr Herz an
dem, was sie gemacht haben und dann ist es noch untersetzt mit irgendeinem
Eigentumsanspruch. Und dann kommt die Gemeinschaft so in Schieflage, dass das
Gemeinsame aufhört. Und das wollten wir um jeden Preis vermeiden. Deswegen haben
wir uns von allem entledigt, was da psychisch im Weg stehen könnte.
Sprecherin
Die von den Jasedowern gegründeten Firmen sind meist Genossenschaften:
Medienproduktion, Tonstudio, ein Buch- und ein Zeitschriftenverlag, Gongwerkstatt,
Klanghaus. Der Überschuss fließt zum Großteil in gemeinnützige Projekte der
Gemeinschaft wie beispielsweise in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus
der Umgebung. Also: Firmen, die Geld bringen, finanzieren das, was kein Geld
bringt. Die Vision: Weg von einer globalen kapitalistischen Geldwirtschaft und hin
zu einer regional organisierten Tausch- und Schenkökonomie. Vieles wurde
angeschoben und existiert jetzt als eigenes Unternehmen: So zum Beispiel die
Genossenschaft „Kräutergarten Pommerland“. Begonnen hatte alles mit einem
„Duft- und Tastgarten“, den die Gemeinde schon Anfang der 90er-Jahre angelegt
und einem Verein übertragen hatte.
O-Ton Andiel
Dort ging es darum, aus diesem Kräutergarten einen Moment zu entwickeln, der sich als
Kontrapunkt - von der Artenvielfalt her - zur umgebenden, großflächigen Agrarindustrie
darstellt. Und es ist einfach so, 1995/96 war die Kraft aus diesem kleinen Garten einfach
raus. Und dann kam neue Kraft, weil Mitglieder aus der Gruppe Jasedow dort wieder Hand
angelegt haben und das aufgegriffen haben. Und dann über lange Zeit sozusagen eine
Durststrecke gerettet haben. Und dann kam ja die günstige Situation, es standen ja die
Bundestagswahlen vor der Tür und dann bekam die Gemeinde einen Schub von 25 ABMKräften und mit diesen Kräften konnte man also dann dieses Projekt Duft- und Tastgarten
nochmal richtig stabilisieren. Und aus diesen Energien, aus diesen Konstrukten heraus, ist
parallel ja auch das Unternehmen Kräutergarten Pommerland erwachsen.
Atmo Besucher Kräutergarten Pommerland
…wartet ihr auf uns?…
Sprecherin
15 Jahre später am ehemaligen Schweinestall in Pulow, dem Nachbarort von Klein
Jasedow. Immer wieder kommen Neugierige, die sehen möchten, woher die
Teepackung kommt, die sie in ihrem Bioladen gekauft haben. Aufdruck:
Kräutergarten Pommerland. 30.000 Tüten im Jahr, Handarbeit, zehn Arbeitsplätze.
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Atmo Kräutergarten Pommerland
…Johannes: Gehen wir mal rein…
Sprecherin
Nach Stall sieht es immer noch aus. Eine gemeinnützige Bank wollte das Vorhaben
unterstützen, doch der zweite Partner, die Bürgschaftsbank von MecklenburgVorpommern, konnte sich partout nicht vorstellen, dass hier eine Bio-KräuterProduktion entstehen könnte.
Atmo Johannes, Besucher Kräutergarten Pommerland
Da waren hier die Tränen in die Augen. Dann sag ich zu ihr ‚und jetzt fährst du zur Bank
und muss man gucken: Kriegen wir das irgendwie noch hin?‘ Dann saßen sie da und
haben überlegt: ‚Braucht ihr `ne Tür?‘ ‚Ja, brauchen wir.‘ ‚Fenster?‘ ‚Ja, paar Fenster
sollten schon sein.‘ ‚Braucht ihr Verputz?‘ ‚Nee, Verputz nicht.‘ Also alles weggestrichen,
was nicht absolut notwendig war. Solche Probleme haben wir hier -zigfach erlebt.
Schwächere Naturen würden da schon aufgegeben haben an manchen Stellen.
Musik
Sprecher
Intermezzo: Extemporieren gegen Sektenverdacht
Sprecherin
2001 gab es einen Herbizid-Unfall der Ex-DDR-Großagrarier, die die umliegenden
Felder bewirtschaften. Dabei wurden die Ernte der neuen KräutergartenGenossenschaft und die in Privatgärten vernichtet. Die Gemeinschaft in Klein
Jasedow brachte den Vorfall an die Presse.
O-Ton Holsten
Und die Agrarindustrie hat gemeint, wir wollen, dadurch dass wir so großes
Öffentlichkeitsecho bekommen haben, wir wollen also wirklich ihnen an die Existenz.
Sprecherin
Klaus Holsten, Flötist. Mitbegründer der Gemeinschaft.
O-Ton Holsten
Das lag uns völlig fern, als kleine Davids an diesem Goliath irgendwie kratzen wollen zu
können überhaupt. Das war uns klar, das geht gar nicht, und war auch gar nicht in unserer
Absicht. Und da sind wir in eine Lage gekommen, dass wir vom Landkreis zur Persona
non grata gestempelt worden sind. Und wir hatten eine zu 99-prozentige Zusage einer
europäischen Förderung für die Europäische Akademie der Heilenden Künste zur Ausbau
des Klanghauses, aus Inter-Reg-Mitteln, so hieß die damalige Abkürzung. Die wurde vom
eigenen Landkreis wieder mit einem Veto vom Tisch gekickt. So, der Umgang mit dem
Unvorhergesehenen: Packen wir jetzt die Koffer oder wie gehen wir weiter? Dann haben
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wir uns gegenseitig gestärkt mit Kopf hoch und kommt, wir bleiben hier, und können doch
und es könnte irgendwie anders gehen. Und dann hat sich eine ganz neue Form der
finanziellen Basis für dieses Haus entwickelt, die dem Haus viel mehr entspricht, als es so
eine Komplettförderung getan hat.
Sprecherin
Zwei Jahre lang wurde geschrieben, gemailt und telefoniert, bis eine Finanzierung
über Stiftungen und Privatpersonen zusammenkam. Es wurden
Schenkgemeinschaften etabliert: Viele Menschen bezahlen in kleinen
Einzelbeträgen zum Beispiel den Kredit für das Dach ab.
O-Ton Seemann
Wir waren so verzweifelt, wie wir gemerkt haben, was uns die antun. Und so im Rückblick
muss ich sagen: Diese Qualität, die durch diese Schenkgemeinschaften ins Haus
reingetragen worden ist, wenn es die nicht gegeben hätte, das wäre ganz schade
gewesen. Es sind Leute eingetreten in diese Schenkgemeinschaften, die einmal von uns
ein Konzert gehört hatten, Jahre zuvor. Und die gesagt haben, ja, wir haben das noch in
Erinnerung, ich glaube, es ist was Tolles, was ihr macht, und wir gehen da mit rein.
Atmo Gong
Sprecherin
Das Klanghaus in Klein Jasedow, entstanden aus einem Teil des Schweinestalls, am
See gelegen, ist vieles in einem: Hier trifft man sich jede Woche zur Gongmeditation
- viele Gongs stammen aus der eigenen Werkstatt, die die hanggeschmiedeten
Instrumente in die ganze Welt exportiert. Eintritt frei für alle. Es gibt Tanzkurse,
Konzerte und Workshops, hier werden Hochzeiten gefeiert und Tagungen
veranstaltet, es gibt einen Chor mit Sängern aus den umliegenden Dörfern und das
Kaffeekränzchen der Dorffrauen. Das Klanghaus ist Sitz der „Europäischen
Akademie der Heilenden Künste“: Hier werden in Zusammenarbeit mit der
Musikhochschule Hamburg und der Herbert-von-Karajan-Stiftung Köln mehrjährige
Fernstudiengänge angeboten in den Fächern „Gemeinschaftsbildende
Musiktherapie“ und „Musikalische Prozessbegleitung“. Beata Seemann und
Christine Simon, Mitbegründerinnen der Gemeinschaft, haben dazu extra
promoviert. 100 Absolventen gibt es seit dem Beginn im Jahre 2008.
O-Ton Holsten
Die Kunst zu improvisieren, die wir uns erlernt und erarbeitet haben, die arbeitet mit zwei
sehr schönen Begriffen. Einmal das Wort „improvisus“, heißt lateinisch übersetzt: Der
Umgang mit dem Unvorhergesehenen. Und dann gibt es ein zweites Wort, was auch die
Improvisation beschreibt, das heißt „extempori“. Wenn jemand etwas extemporieren kann,
das ist vielleicht umgangssprachlich noch mal ne Wendung, die hin und wieder nochmal
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vorkommt, dann kann er etwas aus dem Augenblick heraus schaffen, weil er nämlich auf
den Augenblick hört.
Musik
O-Ton Holsten. Seemann
Wir haben kurz diese Geschichte umrissen und dann darüber gesprochen, was wir gelernt
haben beim Aufbau des Klanghauses. Und jetz ist mir eingefallen, dass wir beim Umgang
mit diesem Konflikt nach dem Herbizidunfall gelernt haben, nicht zu streiten. Nicht auf eine
gewöhnliche Art und Weise zu streiten. Schon streitbar zu sein, aber nicht den lauten
Widerstand zu leisten, indem wir gesagt haben: Wir gehen auf das, was wir zu tun haben
und lassen uns das eigentlich nicht anfechten und gehen nicht auf Konfrontation. Seemann: Was eine ganz große Herausforderung war, war das Gefühl von
Ungerechtigkeit und Unfairness. Was in mir so eine große Empörung ausgelöst hat, wo ich
mir gedacht habe: Wie kann man einem Menschen, den man nie gesehen hat, so was
anhängen?
Sprecherin
Es war nicht nur der Vorwurf, die ansässige Landwirtschaft zerstören zu wollen.
Spinner wurden sie genannt, Fördergeld-Abzocker. Sekte!
O-Ton Heimrath
Über eine Zeit lang ist das ganz stark vorgetragen worden, nicht nur von der
Evangelischen Kirche, vom Sektenbeauftragten, sondern hier auch von der Agrarindustrie,
die uns als Feind identifiziert hatte. Das hat bis dahin geführt, dass ein hoher Funktionär
hier bei uns auf dem Sofa saß und sagte: ‚Sie sind uns deswegen verdächtig, weil Sie
nicht sagen, welche Weltanschauung Sie haben.‘ Und da haben wir gesagt, das
betrachten wir als einen großen Vorteil von uns! Dass wir nicht einheitlich irgendein
Bekenntnis ablegen, sondern dass wir uns in dem Punkt auch widersprechen dürfen, dass
wir auch offen sind für alles Mögliche. Wir haben keine festen Glaubenssätze oder so was.
Wenn wir irgendetwas Festes haben, dann ist es unsere Bereitschaft, im Flow zu sein.
Und dann hat der arme Mensch dann gesagt: ‚Ja, wissen Sie, wenn Sie uns nichts sagen,
dann können wir Sie nicht einordnen. Deswegen sind Sie so gefährlich.‘ Wörtlich. Aber die
Zeit ist einfach vorbei.
O-Ton Anwohnerin
Aussteigerszene, so wurden sie in Lassan benannt.
Auch ich habe gehört, das ist ein Sektenbetrieb. So wurde gemauschelt. Dass es da auch
einen Guru gibt - lacht - Die Lassaner oder eben auch die Einheimischen sind da nicht
hingegangen. Genauso wenig, wie sie in den Duft- und Tastgarten gegangen sind. Alle
Projekte, die von den Westlern, ins Leben gerufen wurden, wurden einfach nicht besucht.
Viele kommen ja jetzt schon seit einigen Jahren, und kommen auch gerne, die Lassaner,
der Bürgermeister. Und wenn der Bürgermeister da hingeht, zieht er ja meistens auch die
Einheimischen nach.
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Sprecherin
Längst sitzt Johannes Heimrath im Stadtrat von Lassan. Für das Projekt
„Renaissance einer Region“ bekamen die Jasedower einen Preis bei der Aktion
„Bürger initiieren Nachhaltigkeit“, eine Auszeichnung der Bundesregierung. Man ist
mittlerweile nicht nur bekannt, sondern auch anerkannt. Jährlich im Juni kommen
mehr als tausend Gäste zum Holundermarkt nach Klein Jasedow, Hunderte
besuchen die Bioland-Partie, die Workshops und die sogenannten Lernortfeste,
Kinder verbringen hier ihre Ferien im Zirkus- oder Theater-Camp.
O-Ton Anwohnerin
Ich war natürlich auch neugierig und wollte das mal sehen und kennenlernen. Und war
natürlich überrascht, was da für Riesen-Gongs hingen in dem großen Raum. Man konnte,
glaube ich, Klavierspielen üben, therapiemäßig. Was ich so mitgekriegt hab. Ich hab’s
natürlich nicht getan. Ich fand es anfangs sehr überschaulich. Wenn man sich überlegt,
was da öfter so für viele Menschen kommen, viele junge Menschen von irgendwelchen
Universitäten, die noch mal irgendwas besuchen wollen. Mensch, wie drücken die sich
denn da immer aus? – Also wenn die da z. B. Körperarbeit... da kann ich gar nix mit
anfangen, weil Körperarbeit habe ich hier im Garten - lacht – Also wie sie das auch
bezeichnen. Oder dann auch diese ausländischen Begriffe, wie sie die Seminare dann
auch bezeichnen, da kann ich mir mitunter überhaupt gar kein Bild drüber machen und
muss das nachfragen. Jetzt gibt es nicht nur das Klanghaus und den See, sondern es gibt
ja auch tausend andere Projekte z.B. dieses Camp, dieses Kindercamp. Da war ich zu
einer Theatervorstellung, und das war so liebevoll gemacht, und ich fand es total schön,
dass ich da mit dran teilnehmen konnte und hingefahren bin so nach der Arbeit. Ganz toll.
Aber das ist vielleicht auch ein guter Ort, um auch diese Ideen zu bekommen.
Sprecherin
Die ehemalige Melkerin, deren Betrieb längst nicht mehr existiert, schlug und
schlägt sich wie viele in der Region mit Maßnahmen des Arbeitsamtes durch. In
letzter Zeit merkt sie: Es tut sich was, Leute kommen her, die etwas Besonderes
suchen. Sanfter Tourismus im Hinterland der Ostsee. Sie hatte die Idee, Besuchern
in ihrem Garten das Filzen beizubringen, sie zimmerte einen Tisch zusammen und
legte los. Viele solcher kleinen Ideen sind inzwischen vereint in dem Netzwerk
„Kräuter, Kunst und Himmelsaugen“.
O-Ton Heimrath
Wie wir hierher kamen, war im Lassaner Winkel 80 Prozent Arbeitslosigkeit. Wenn man
ernst schaut, ist es jetzt nicht viel besser, also es ist nicht so, dass hier jeder Arbeit hat.
Die offiziellen Zahlen sind auch so bei 18-20 Prozent, aber wenn man weiß, wer alles in
Hartz IV gerutscht ist und damit raus ist oder in irgendeiner Maßnahme nach wie vor
steckt: Das ist keine sich selbsttragende Ökonomie hier, sondern das ist gepäppelt. Allein
durch unsere Initiative hier sind inzwischen 50 Arbeitsplätze entstanden. Unsere Idee, hier
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was für den Fremdenverkehr zu machen, die hat sich ausgezahlt. Ein Grund, die
Akademie zu machen, war, Menschen herzuholen, die einen anderen Hintergrund haben
und auch was anderes suchen. Das hat dazu geführt, dass einige Fremdenzimmer hier
entstanden sind. Mit dem Effekt, wir wollten hier in dem Schuppen, der da vorne steht, des
am Eck, das ist der Kornspeicher - da hatten wir gedacht, den bauen wir zum Gästehaus
aus, 32 Betten, wunderbar. Aber wenn wir das jetzt machen würden, würden wir einfach
vielen Leuten die Grundlage nehmen. Also können wir kein Gästehaus mehr bauen - lacht
- jetzt muss uns was Neues einfallen.
Musik
Sprecher
Nächster Satz: Improvisieren und Wachsen
O-Ton Heimrath
Schon vor drei, vier Jahren hat sich angekündigt, dass die Generation 30 da vier
Menschen Neuland suchen werden.
Sprecherin
Zwei erwachsen gewordene Kinder der Jasedower Ursprungs-Familie verließen das
Projekt. Eine Tochter verliebte sich im Emsland und zog dorthin. Ein Sohn probt mit
Frau und Kindern das Leben als Kleinfamilie, gehört aber als Musiker und mit
seinem erlebnispädagogischen Segelschulschiff „Ernestine“ weiterhin zum Projekt.
O-Ton Heimrath
Nun war zum ersten Mal wirklich die Chance da, zu sagen: Gut, wir können ganz andere
Beziehungen eingehen. Was würde das von uns fordern? Das würde von uns fordern,
dass wir uns auch selber wieder neu erfinden. Dass wir nicht sagen: Wir haben das hier
alles gemacht, alles ist toll, ihr könnt mitmachen. Sondern lasst uns gemeinsam
herausfinden, wohin das Projekt dann gehen will. Und genau das findet jetzt statt.
Atmo Bauplatz, Klopfen, Lehmbau, Frauen
… So, was machen wir jetzt? Erstmal auf einen Haufen und das Feuchte hier weg…
Sprecherin
Auf der Wiese, wo im Sommer die Kindercamps stattfinden, entsteht ein Haus. Ein
Lehmhaus. 15 Freiwillige arbeiten mit. Lernen nicht nur den Lehmbau kennen,
sondern auch die Gemeinschaft. Nach diesem Prinzip funktionierten die vier
Lernortfeste. Leute, die sich vorstellen konnten, hier zu leben, prüften, ob das ginge
- für beide Seiten. Andere stießen hinzu, die schon lange an einzelnen Projekten
mitarbeiteten. So wuchs die Gemeinschaft in Klein Jasedow von 16 auf 26
Menschen.
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O-Ton Terwitte
Wir sind auf Menschen getroffen, wo wir gemerkt haben, die haben ähnliche Werte wie
wir, leben auf eine Art und Weise, wie wir leben wollen, kommunizieren miteinander, wie
wir kommunizieren wollen. Ich glaub, das ist es.
Sprecherin
Anne Terwitte ist in Vorpommern aufgewachsen und lebte in Berlin. Als sie mit ihrer
Familie die Via Baltica, den baltisch-westfälischen Jakobsweg, entlang wanderte,
kam sie nach Klein Jasedow, zu der Gemeinschaft, die sie schon aus der Zeitschrift
„Oya“ kannte. Die Familie machte bei den Lernortsfesten mit und merkte: Das ist es.
O-Ton Terwitte
Wir sind beide naturnah aufgewachsen und es ist einfach herrlich hier. Es ist ein sehr
herzliches und offenes Miteinander. Das wär gar keine Option in einer hierarchischen
Gemeinschaft zu leben. Das würde uns gar nicht entsprechen. Wir haben zwei Kinder, fünf
und drei Jahre, und dadurch haben wir auch einfach gemeinsam das Thema
Werteentwicklung und so, das war in den letzten Jahren sehr viel dran bei uns, so dass
uns da sehr viele Dinge bewusst geworden sind. In diesen Prozess ist auch das
Herkommen gefallen und das passt eben.
Sprecherin
Die Physiotherapeutin ist in einer Praxis in Lassan angestellt - Schulmedizin, betont
sie, die alternativen Heilmethoden schließen ihrer Meinung nach zu viele aus, die
das nicht bezahlen können. Ihr Mann ist Freiberufler und organisiert Kongresse, das
ist, zumindest in Teilen, genauso gut von Vorpommern aus möglich wie von Berlin.
Matthias Festerer, Anfang 30, fand durch einen Übersetzungsauftrag für den Klein
Jasedower Drachenverlag zu der Gemeinschaft. Jetzt ist er Lektor des kleinen
Verlags, der vor allem Bücher aus dem englischsprachigen Raum als deutsche
Erstausgaben herausbringt. Die Hauptthemen: Bildung, Naturphilosophie und
alternative Therapien.
O-Ton Festerer
Das egalitäre Zusammenleben, dass es eine wirkliche Gleichberechtigung gibt. Nicht nur
zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen den Generationen. Dass die Stimme
eines Kindes grundsätzlich nicht weniger wert ist als die eines Erwachsenen. Man sieht
jetzt hier diesen schönen Garten und dahinter den Jasedower See. Manche Besucher
sagen, das ist ja eine regelrechte Idylle hier. Das ist auch schön, war aber nicht immer so.
Mist und Gülle wurden in den See gekippt über Jahrzehnte. Wenn man so die
Erzählungen der ersten Jahre hört, dann kann man sich schon vorstellen, wie dieser Ort
aufgeatmet hat durch diese Widmung, die er erfahren hat von Neu-Zugezogenen. Nicht
allein, sondern im Verbund mit den Menschen, die hier waren.
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Sprecherin
Auch Ältere gehören zu den Neu-Jasedowern. Der Tanztherapeut Thomas
Schallmann unterrichtet schon seit einigen Jahren an der Akademie der Heilenden
Künste. 2015 ist er ins Dorf gezogen.
O-Ton Schallmann
Was ich hier noch mehr spüre ist, als das eigene Vermögen etwas beitragen zu können.
Also ich kann an einem Organismus mitarbeiten, den ich allein so nie etablieren könnte.
Nicht so – also kurz vor der Rente - denken: Na ja, okay, paar Jährchen mach ich noch,
dann aber chill` ich nur noch die Basis - lacht - ist ein Ausdruck unserer Kinder - sondern:
Ich fang noch mal was Neues an.
Musik
Sprecher
Finale: Lebhaft!
Atmo Kinder vor Klanghaus
Sprecherin
Vor dem Klanghaus spielen Kinder, drinnen sitzen 60 Leute besprechen, was
ansteht. Selbstversorgung, Kooperative, Bio-Laden. In den umliegenden Dörfern hat
sich ein Netzwerk gebildet. Klaus Holsten, der Flötist, schaut sich um und staunt,
was aus der Idee geworden ist, die er und seine Freunde vor 40 Jahren in Bayern
hatten.
O-Ton Holsten
Es sind in der letzten Zeit in Pulow 25 und in Klein Jasedow 14 Menschen hinzugezogen.
Die meisten alle unter 35 und bringen einfach ganz viele Kinder mit. Ganz schönes
Gefühl, dass hier Nachwuchs herumläuft. Ob er nun hier bleibt oder nicht, aber er wächst
hier auf. Wir haben viel initiiert und dieses Netzwerk irgendwo erträumt, aber mit Leben
füllen müssen es doch die, die hierher kommen und es tun.
Musik
Zitator
In meiner Vision sind Commonien egalitäre Konsensgesellschaften. Muße ist die
Voraussetzung für den informellen Prozess des Palavers, in dem der Konsens
heranwachsen kann, ohne dass eine Entscheidung in einer bestimmten Zeit gefällt
werden müsste. Jede Stimme wird gehört und bedacht. Alle spüren den Moment, in
dem einem das Gemeinsame, das zu tun ist, scheinbar mühelos zufällt.
(Die Post-Kollaps-Gesellschaft ,S. 239)
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O-Ton Seemann
Es gibt vielleicht als roten Faden, was uns verbindet: Die Wahrheit, dass man nicht nur für
sich selber sorgt, sondern dass man begriffen hat, dass es wichtig ist, dass es den
Menschen um einen herum auch gut geht und nicht nur einem selber. Das ist ja eigentlich
eine Binsenweisheit. Aber das im täglichen Leben immer wieder mit einzubeziehen in
alles, was man tut, das ist auch etwas, was viel Wachsamkeit braucht. Was einfach nicht
so normal ist in unserer Kultur.
O-Ton Schallmann
Ich bin ja aus dem Osten, aus der DDR, und ich bin hier quasi umgeben von Wessis lacht - ist ja auch ein Lernprozess. Und dann aber sind ja die Jasedower sind für mich
nicht die typischen Westler, die Kraft ihres Geldes hier den Reibach machen im Osten,
sondern gucken, wo finden sie einen Platz für sich, um ein ganz anderes Sozialmodell und
Gesellschaftsmodell zu entwickeln - ganz anders, als es die West-Bundesrepublik war und
auch ganz anders, als es die DDR war. Es gibt schon Ansätze, die mich erinnern an
Ur-Ideen der sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaftsidee. Und insofern fühle
ich mich hier gut zuhause. - lacht -
Sprecherin
Wird in Klein Jasedow, Vorpommern, eine neue Zeit eingeläutet? Das, was hier
probiert wird, passiert andernorts ähnlich. Die Öko-Dorf-Bewegung gibt es weltweit.
Menschen, die sich ausklinken aus dem Hamsterrad. Die Frage ist also nicht:
Funktioniert dieses Lebenskonzept auch woanders? Es funktioniert, wenn auch auf
ganz unterschiedliche Weise. Und es funktioniert am besten dort, wo die größte
Verlassenheit herrscht. So wie im letzten Zipfel Vorpommerns. Dort fällt die Idee auf
fruchtbaren Boden, weil es schon lange keine Idee mehr gab.
O-Ton Heimrath
Ich merke, dass ich großen Frieden darin finde einfach zu sehen: Ja, okay, du hast das
und das aufgebaut und jetzt kannst du das auch total loslassen. Und es gibt Menschen,
die mit dem umgehen und diese Saat aufnehmen und in ihrem Sinn weiter arbeiten. Das
erfüllt mich mit großer Befriedigung. Hier entsteht etwas, was ein Zuhause schafft. Also
das Gefühl, dass es nicht mehr weiter zusammenbricht, ist für viele schon ein enormer
Fortschritt. Das Gefühl, dass der Abwärtstrend in irgendeiner Form angehalten wurde, da
haben wir mit Sicherheit einen Beitrag dazu geleistet.
Musik
O-Ton Heimrath
Das war mit dir gemeint, du hast es gemacht.
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Sprecher
Klein Jasedow
Leben vor dem Kollaps
Sie hörten eine Sendung von Alexa Hennings
Es sprachen: Sigrid Burkholder, Walter Gontermann und Lars Schmidtke
Ton und Technik: Ernst Hartmann und Jens Müller
Musik: Das Now!-Ensemble mit Beata Seemann, Christine Simon, Laura Mallien,
Klaus und Tillmann Holsten und Johannes Heimrath
Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.
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