Das deutsche EM-Team: Poldi und ... ... wer die offizielle DFB-Stimmungskanone diesmal begleiten darf ▶ Seite 2, 19 AUSGABE BERLIN | NR. 11020 | 20. WOCHE | 38. JAHRGANG MITTWOCH, 18. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Hollande: „Ich gebe nicht nach“ H EUTE I N DER TAZ Präsident will Arbeitsrecht trotz Protesten durchsetzen FRANKREICH Der Rinderwahnsinn KERN Österreichs neuer Kanzler: Sein „New Deal“ und seine Haltung zur FPÖ ▶ SEITE 2, 14 MILCH Die Preise sinken und sinken. Die deutschen ErzeugerInnen bekommen kaum noch 20 Cent pro Liter. Davon kann niemand leben. Was kann, was soll man tun? ▶ SEITE 3 FACEBOOK Wie der Konzern kurdische Symbole zensiert ▶ SEITE 13 KULTURKAMPF Stiere und Bildung in Spanien ▶ SEITE 18 BERLIN In vier Monaten ist Wahl. Und Wechselstimmung? ▶ SEITE 21 PARIS afp/taz | Gegen die ge- plante Reform des Arbeitsrechts haben in Frankreich erneut Tausende demonstriert – aber Präsident François Hollande hält an seinem Kurs fest. „Ich gebe nicht nach“, sagte er im Radio. Die Reformen seien überfällig. In mehreren Regionen protestierten Lastwagenfahrer mit Straßenblockaden, während in Paris und anderen Städten Protestzüge stattfanden. In Nantes, Rennes und Paris kam es zu Zusammenstößen von Gruppen mit der Polizei. Innenminister Bernard Cazeneuve verteidigte das Demonstrationsverbot gegen einzelne Autonome und einen Fotografen. ▶ Ausland SEITE 11 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 Schwesig muss für gleichen Lohn kämpfen Fotos oben: dpa, ap JEBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! verboten ist auch nur einer von 80 Millionen Bundestrainern und weiß nicht, wie Joachim Löw zu seinen Entscheidungen über die Aufstellung kommt. Sie sind sicher weise (schließlich sind wir Weltmeister und da war Podolski auch dabei), aber manchmal unergründlich. Bis gestern. Seit der Nominierung des EM-Kaders ist die Motivforschung einen Schritt weiter. Löw heißt Joachim – und die drei Neuen im EM-Kader: Julian Brandt, Joshua Kimmich und Julian Weigl. Aha! verboten will auch mal Europameister werden und benennt sich deshalb ab sofort um in jeboten. Zum Leben zu wenig, zum Trinken zu viel: Das Überangebot sorgt für niedrige Milchpreise und arme Bauern Foto: Emmanuel Pierrot/Agence VU/laif BERLIN taz | Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) will die eklatante Lücke bei den Gehältern zwischen Frauen und Männern schließen, stößt aber weiter auf Widerstand. Den Koalitionspartnern CDU/CSU gehen Schwesigs Vorschläge zu weit. Die Union fordert die Ministerin auf, Teile ihres Gesetzentwurfs zurückzunehmen, den sie im Dezember dem Kanzleramt vorgelegt hatte. Schwesig will unter anderem, dass U nternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten ihre Gehaltsdaten offenlegen. Außerdem soll bei Stellenausschreibungen künftig das vorgesehene Mindestentgelt angegeben werden. Deutschland weist laut Statistischem Bundesamt eine Lohnlücke von 21 Prozent auf und liegt im EU-Vergleich weit hinten. ▶ Schwerpunkt SEITE 4 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.854 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 30620 4 190254 801600 KOMMENTAR VON GEREON ASMUTH ÜBER ZU NIEDRIGE LÖHNE FÜR FRAUEN F rauen verdienen weniger als Männer. Das heißt: Verdienen würden sie den gleichen Lohn. Sie bekommen nur weniger. Weil sie in gleicher Position geringer bezahlt werden. Weil sie häufiger in Teilzeit arbeiten. Vor allem aber, weil sie in schlechter entlohnten Berufen beschäftigt sind. Daran werden Initiativen für mehr Lohngerechtigkeit nichts ändern, solange sie nur die Arbeitswelt der Frauen ins Visier nehmen. Deutschland braucht eine Männerquote. Jetzt! Bitte was? Eine Männerquote? Ja genau, eine Männerquote. Und zwar nicht für Toppositionen. Da haben sich die Geschlechtsgenossen schon viel zu Männerquote, jetzt! breitbeinig gemacht. Nein, es geht um eine Männerquote für alle Berufe – insbesondere für die, die als Arbeitsfelder für Frauen gelten: Krankenschwester, Altenpflegerin, Grundschullehrerin, Kindergärtnerin, Putzfrau. Für die letzten beiden gibt es zwar euphemistische Neubezeichnungen wie Erzieherin oder Raumpflegerin, doch eins ist geblieben: die extrem miese Bezahlung. Jedenfalls im Vergleich zu Männerberufen wie Automechaniker, Gymnasiallehrer, Installateur oder Hausmeister, die angeblich viel wichtiger sind und deshalb besser bezahlt werden. Genau hier hätte die Männerquote den größten Effekt. Sie würde nicht nur das Ansehen der bisher als unmännlich geltenden Berufe heben, sondern vor allem deren Gehaltsniveau. Denn Männer sind ja nicht doof. Sie werden einen Teufel tun und einen „Frauenjob“ übernehmen, wenn die Kasse nicht stimmt. Wenn aber Arbeitgebern vorgeschrieben wird, einen bestimmten Anteil aller Positionen mit Männern zu besetzen, bleibt ihnen nur eins übrig: Löhne rauf- Die Quote würde die Gesellschaft radikaler ändern als alle Aufsichtsrätinnen setzen. Schließlich leben wir im Kapitalismus. Und da regelt bekanntlich der Preis den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage. Und wie hoch soll die Quote sein? Berufspragmatiker dürfen gern mit einer 30-Prozent-Forderung einsteigen. Für Radikalfeministen aber ist klar: 50 Prozent. Darunter geht nichts. Die Frauenquote für Aufsichtsräte galt schließlich auch lange als Utopie – und wurde dennoch vor einem Jahr beschlossen. Sicher ist: Die Männerquote würde die Gesellschaft radikaler verändern, als es alle Aufsichtsrätinnen zusammen können. Denn von denen gibt es trotz Quote gerade mal eine paar Hundert. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN Ganz viele Ballkontakte D er SV Ostermünchen spielt in gelb-schwarzen Leibchen – und Julian Weigl trägt seit einem Jahr wieder die Farben des Vereins aus seinem Heimatdorf. Man könnte sagen: In einem gelben Hemd und einer schwarzen Hose ist der schmächtige Mittelfeldspieler groß herausgekommen. In dieser Saison hat er, vor allem in der Hinrunde, sehenswerte Auftritte im Trikot von Borussia Dortmund hingelegt. Demnächst trägt Weigl Schwarz-Weiß. Er ist gestern von Bundestrainer Joachim Löw in den vorläufigen Kader für die Europameisterschaft in Frankreich berufen worden. Als Neuling. In Frankreich könnte Weigl noch wichtig werden für Löw, denn Bastian Schweinsteiger hat es am Knie und Ilkay Gün doğan, der gar nicht erst nominiert wurde, auch. Weigl kann deren Rolle übernehmen. Für Weigl haben die Dortmunder vor dieser Spielzeit 2,5 Millionen Euro Ablöse an den Zweitligisten 1860 München gezahlt, und beim alten Verein hieß es dann schnell, dieser Weigl wird bestimmt nur ein Ergänzungsspieler, aber nie und nimmer eine Stammkraft im millionenschweren Ensemble des BVB. Der Scout der Dortmunder, Heiner Schumann, wusste es von Anfang an besser: „Ich habe damit gerechnet, dass er sofort spielen wird.“ Und er spielte. Der Scout wusste auch, dass Weigl ein Spieler ist, den Trainer Thomas Tuchel mag: passsicher, immer anspielbar, gut im defensiven Zweikampf. Die Statistiken belegen das. Von Weigls Pässen kommen 90 Prozent an, im Schnitt ist er über 100 Mal pro Spiel am Ball. Meistens landet der Ball noch öfter bei ihm: Neulich gelangen ihm im Spiel gegen den 1. FC Köln 214 Ballkontakte, obwohl er in der 83. Minute ausgewechselt wurde – ein Bundesligarekord. Weigl, 20, ist eine jüngere und dynamischere Ausgabe von Sebastian Kehl, der viele Jahre beim BVB ein Stratege und Meister des einfachen Passes war. Auch Julian Weigl bevorzugt den kurzen, flachen Pass mit wenig Risiko. Er gibt damit die Richtung vor, sichtet die Räume. Allerdings spielt er noch zu selten den „finalen“ Pass. In 50 Spielen hat er heuer nur eine Torvorlage hinbekommen – gegen den Wolfsberger AC in der Europa-League-Qual. MARCUS BARK DI E TAZ I M N ETZ MI N DESTLÖH N ER „Wir setzen auf eine starke Polizei“ taz.de/twitter Chefs verlangen mehr Know-how BERLIN | Mit einem Vorstoß für taz.de/facebook NÜRNBERG | Mit der Einführung BAGDAD GRÜN E Schwere Anschläge auf Schiitenviertel BAGDAD | Bei einer Serie von Für den EM-Kader ausgewählt: Julian Weigl Foto: dpa Der Tag M IT TWOCH, 18. MAI 2016 Anschlägen in der irakischen Hauptstadt Bagdad sind am Dienstag mehr als 60 Menschen getötet worden. Mindestens 147 Personen seien bei Angriffen auf Märkte in den schiitisch geprägten Stadtteilen al-Schaab und Sadr City im Nordwesten der Stadt verletzt worden, berichteten Krankenhausmitarbeiter und Augenzeugen. Die Beobachter identifizierten eine Frau in al-Schaab als Selbstmordattentäterin. Zudem explodierte eine weitere Bombe in dem Bezirk – insgesamt starben dort mindestens 45 Men- schen, wenigstens 90 wurden verletzt. In einer Botschaft im Internet bekannte sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu der Tat. Wenig später explodierte eine Autobombe auf einem Markt im Nachbarstadtteil Sadr City. Dabei starben mindestens 18 Menschen. Bei zwei Bombenexplo sionen südlich von Bagdad starben vier weitere Menschen. Öffentliche Plätze in schiitischen Vierteln werden vom sunnitischen IS immer wieder angegriffen. Die Extremisten lehnen den schiitischen Islam als falsche Glaubenslehre ab. (dpa) deutlich mehr Bundespolizisten forcieren die Grünen ihr Werben um die politische Mitte in Deutschland. „Wir setzen auf eine starke Polizei“, heißt es in einem Eckpunktepapier der Bundestagsfraktion zur inneren Sicherheit. Neben einer Stärkung und Neuorganisation der Polizei plädieren sie dafür, die Arbeit der Nachrichtendienste wirksamer als bisher zu kontrollieren. Für das Bundesamt für Verfassungsschutz streben die Bundestagsgrünen „eine echte Zäsur“ an. (dpa) des Mindestlohns sind nicht nur die Verdienste, sondern häufig auch die Anforderungen an Beschäftigte im Niedriglohnsektor gestiegen. Das ergibt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Dafür hätten die Betroffenen aber bessere Aussichten auf eine längerfristige Beschäftigung als früher, hieß es. Viele Firmenchefs hofften offenbar, mit qualifizierteren Mitarbeitern ihre mit dem Mindestlohn gestiegenen Lohnkosten wieder auffangen zu können. (dpa) taz.de/vimeo Folgen Liken Klicken www.taz.de New Deal fürs Alpenland ÖSTERREICH I Exbahnmanager Christian Kern ist seit Dienstag neuer sozialdemokratischer Bundeskanzler in Wien. In den Schlüsselfragen, die seine Partei an den Rand der Spaltung brachten, zeigt er sich pragmatisch AUS WIEN RALF LEONHARD Der neue Mann nimmt kein Blatt vor den Mund. Der Sozialdemokrat Christian Kern stellt sich seiner neuen Aufgabe, weil er dieses „Schauspiel der Machtversessenheit und Zukunftsvergessenheit“ nicht mehr mit ansehen konnte. Deutlicher kann man seinen Vorgänger nicht kritisieren. Gemeint ist aber auch der Koalitionspartner, dem Kern einen „New Deal für Österreich“ vorschlug. Man werde der Österreichischen Volkspartei einen Plan vorschlagen, der das Land bis 2025 wieder „auf die Überholspur“ bringen soll. Der Vorstand der SPÖ hat Christian Kern am Dienstagvormittag zum neuen Parteivorsitzenden bestimmt. Am Nachmittag vereidigte ihn Bundespräsident Heinz Fischer als neuen Bundeskanzler. Die einzige Gegenstimme im 70-köp- Gegen „Macht versessenheit und Zukunfts vergessenheit“ figen Parteivorstand kam von Fiona Kaiser, der Vorsitzenden der Sozialistischen Jugend, die grundsätzlich gegen einen Manager an der Parteispitze ist. Der 50-jährige Chef der Bundesbahnen (ÖBB) gilt gerade wegen seiner Managerqualitäten als Mann der Stunde, der die Sozialdemokraten aus ihrer Krise holen soll. In seiner ersten Pressekonferenz zeigte er sich darauf bedacht, die Stehsätze, mit den Politiker gerne ihre Ratlosigkeit kaschieren, zu vermeiden. Kern spricht nicht von einem „Flüchtlingsproblem“, sondern von der Asylfrage und macht damit anschaulich, was er verändern will. Es gehe darum, „den Menschen die Sorgen und Ängste zu nehmen“, nicht, sie zu verstärken. Der Schwerpunkt müsse auf Integration liegen, europäische Solidarität sei gefragt. Die umstrittene Obergrenze für Asylanträge stellt er aber nicht in Frage. Ähnlich sein Zugang zur Gretchenfrage „Wie hältst du’s mit der FPÖ?“. Statt Ausschluss jeder Koalition mit den rechtspopulistischen Freiheitlichen soll ein Kriterienkatalog gelten. Rassismus und Hetzen gegen Menschen oder Minderheiten seien Christian Kern, sozialdemokratischer Regierungschef in schweren Zeiten: „Grundsätze vor nacktem Machterhalt“ Foto: Heinz-Peter Bader/reuters Auf der Zielgeraden in die Hofburg ÖSTERREICH II jedenfalls Ausschlussgründe. „Am Ende werden Grundsätze vor nacktem Machterhalt gehen müssen.“ Wem Kern bei der Bundespräsidentenwahl am Sonntag seine Stimme geben wird, wissen wir jetzt auch: Alexander Van der Bellen. Mit der Kabinettsumbildung innerhalb des SPÖ-Teams hat Kern Akzente gesetzt, die auf eine Stärkung der eher links positionierten Wiener Landesgruppe hinausläuft. So wird Thomas Drozda, Generaldirektor der Vereinigten Bühnen Wien, neuer Kanzleramts- und Kulturminister. Seinen Stallgeruch holte er sich vor über 20 Jahren als Berater im Büro des damaligen Bundeskanzlers Franz Vranitzky. Sonja Hammerschmid kommt neu ins Bildungsministerium. Sie war mit ihrer Ernennung zur Rektorin der Veterinärmedizinischen Universität im Jahre 2010 die erste Frau an der Spitze einer Hochschule. Seit vergangenem Januar stand sie der Universitätenkonferenz vor, vertrat also alle Hochschulen des Landes. Die Quereinsteigerin hat auch ein intaktes Arbeitsverhältnis zur ÖVP. Die Frauenagenden wandern zu Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser, die ihr Amt behält. Die größte Überraschung ist die 37-jährige Muna Duzdar als neue Staatssekretärin im Finanzministerium. Die Tochter palästinensischer Einwanderer ist in Wien aufgewachsen und spricht Arabisch so gut wie Deutsch. Die Muslimin ist nicht nur ein Signal an den linken Parteiflügel, sondern auch an die Migrantengemeinde. THEMA DES TAGES Umfragen vor der Wahl zum Bundespräsidenten: Rechtspopulistischer Kandidat Hofer hat die Nase vorne WIEN taz | Vier Tage vor der Stichwahl um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten ist das Rennen immer noch offen. Die meisten Umfragen sehen leichte Vorteile für den Kandidaten der rechten Freiheitlichen Partei Österreichs, Norbert Hofer. Bei der ersten Runde am 24. April lag Hofer mit 35 zu 21 Prozentpunkten vor Alexander Van der Bellen, dem ehemaligen Grünen-Chef. Nach jüngsten Prognosen liegen beide Kandidaten Kopf an Kopf bei jenen, die ihre Wahlent- scheidung schon getroffen haben und am Sonntag sicher zu den Urnen gehen. Bei den Unentschlossenen werden Vorteile für Hofer gesehen. Bei den Anhängern der geschlagenen Kandidaten und der Unabhängigen Irmgard Griss kommt Van der Bellen deutlich besser an. Bei den Unpolitischen kommt der 45-jährige Hofer als jugendlichdynamisch rüber. Auf seinen Wahlplakaten präsentiert sich der 72-jährige Grüne Van der Bellen als freundlicher Opa, der die Natur und die Berge liebt. Schließlich ist er im Tiroler Kaunertal aufgewachsen. Er kehrt aber auch den Staatsmann hervor, der in aller Welt Ansehen genießt. Mit Hofer, so warnt der Wirtschaftsprofessor, würde Österreich international isoliert. Hinter Van der Bellen stehen Künstler, Intellektuelle, die höher Gebildeten, zahlreiche Politiker von SPÖ und ÖVP. Offizielle Wahlempfehlung gibt es von den Regierungsparteien aber keine. Hofer hat kaum prominente Fans. Deswegen inszeniert er sich als authentischer Vertreter des einfachen Volkes. „Das RECHT geht vom VOLK aus“, plakatiert er im Stil der Boulevardzeitungen. Und: „Nur ER ist kritisch gegenüber der EU“. Immer wieder trommelt er seine Botschaften: Mit mir gibt es weder das umstrittene transatlantische Freihandelsabkommen TTIP noch einen EU-Beitritt der Türkei. Kein Land ist so TTIP-kritisch wie Österreich. Und Erdoğans autoritäre Türkei hat wenige Freunde. Van der Bellen, der nach einem sehr zurückgenommenen Start in den Wahlkampf nun offensiver auftritt, warnt vor einer autoritären Wende in Öster- reich, falls Hofer in die Hofburg einzieht. Der Wahlkampf tobt nicht nur im Fernsehen und den Tageszeitungen. Für die Generation Facebook werden ständig Videoclips verschickt. Die Grünen fordern alle Van-der-BellenFans auf, in ihrer Umgebung für den Professor zu werben. Medialer Höhepunkt des Wahlkampf wird die Debatte im ORF am Donnerstag sein. Nach dem wilden Schlagabtausch im Privatsender ATV vergangenen Sonntag ist das Interesse daran auch im Ausland sprunghaft gestiegen. RALF LEONHARD Schwerpunkt Milch M IT TWOCH, 18. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Kleine Höfe gehen wegen der niedrigen Milchpreise pleite. Übrig bleiben die großen, die es dann umso härter trifft Warum die Milch zum Ramschprodukt wird LANDWIRTSCHAFT Zum Teil bekommen die Bauern nur noch 18 Cent für ein Kilogramm Milch. Das reicht nicht mal für das Futter der Kühe. Vom Niedrigpreis profitiert der Handel mehr als die Verbraucher. Einen realistischen Preis zahlt man nur für Biomilch. Noch Was kann die EU tun? Nicht viel. Zwar könnte sie theoretisch die Milchquote wieder einführen oder den Markt anderweitig regulieren, um die Menge zu verringern. Doch marktliberale Länder wie Deutschland sind strikt dagegen. Deshalb bleibt kaum mehr als Finanzspritzen für die Bauern. Im September 2015 einigten sich die EU-Agrarminister bereits auf ein Notprogramm in Höhe von 500 Millionen Euro. Im März hat die EU zudem den Weg für freiwillige, zeitlich begrenzte Mengenreduzierungen in den EU-Staaten für Milchprodukte freigemacht. Produzenten können sich nun absprechen, ohne kartellrechtlich in Schwierigkeiten zu geraten. Dieses Mittel werde aber nur unzureichend eingesetzt, kritisiert der European Milk Board (EMB). „Die jetzigen Maßnahmen der EU-Politik sind eher Ablenkung als Lösung“, kritisiert EMB-Präsident Romuald Schaber. Nötig sei ein freiwilliger Lieferverzicht nach Vorbild des Marktverantwortungsprogramms. Dieses sieht vor, dass in Krisenzeiten die Erzeuger ihre Produktion senken müssen. Dafür werden sie dann entschädigt. VON ERIC BONSE UND HEIKE HOLDINGHAUSEN Warum ist die Milch so billig? Die Antwort fällt unterschiedlich aus – je nachdem, wen man fragt. „Weil der Lebensmitteleinzelhandel die Preise diktieren kann“, sagt Milchbauer Sebastian Glaser aus Hessen. Schließlich stellten die Landwirte ein schnell verderbliches Gut her, in Verkaufsverhandlungen seien sie erpressbar. Der Handelsverband Lebensmittel (BVLH) verteidigt sich: „Es ist zu viel Milch am Markt. Die deutsche Milchwirtschaft ist viel stärker vom Weltmarkt abhängig als vor zehn Jahren. Geht die Nachfrage dort zurück, kann der stagnierende Inlandskonsum den Überschuss nicht auffangen“, so BVLH-Hauptgeschäftsführer Franz-Martin Rausch. Wer profitiert von den niedrigen Preisen? Vor allem der Handel. Laut Statistischem Bundesamt sind Milch, Quark oder Käse im Laufe des Frühjahrs durchschnittlich nicht billiger geworden, der Preis stagniert. Supermärkte und Discounter haben also ihre Gewinnmargen erhöht. Nur für die Butter zahlt auch der Verbraucher weniger. Wer leidet? Besonders die Bauern, die sich auf Milch spezialisiert haben. Es ist ein Teufelskreis: Die Preiskrise führt zum Höfesterben, es bilden sich immer größere Betriebe, die sich spezialisieren. Reine Milchhöfe mit Hunderten Kühen aber trifft es besonders, wenn, wie derzeit, teils nur noch 18 Cent pro Kilogramm Milch gezahlt werden. Diese Preise decken nicht einmal mehr die Futterkosten für die Tiere, geschweige denn Investitionen in Gebäude. Was hat die Krise mit Russland zu tun? Russland war noch vor wenigen Jahren ein wichtiger Absatzmarkt für europäische Milchprodukte. Durch die EUSanktionen im Ukrainekonflikt und das russische Importembargo sind dort wichtige Abnehmer verloren gegangen. Geht es den Biobauern besser? Ja, deutlich. Hier werden immer noch um die 50 Cent pro Kilo- „Es ist zu viel Milch am Markt“ Foto: Henk Wildschut/plainpicture gramm Milch gezahlt, sagt Friedhelm von Mering vom Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW). Anders als auf dem Markt für konventionelle Milch gibt es bei Bio kein Überangebot, im Gegenteil. Um die Nachfrage in Deutschland zu decken, sind sogar Importe nötig, etwa aus Dänemark oder Österreich. Zwar hat Aldi den Preis für Biomilch leicht gesenkt – dabei aber bislang keine Nachfolger gefunden. Verbraucher, die eine faire Entlohnung für Erzeuger wollen, kaufen also Biomilch. Ist mehr Export die Lösung? Nur bedingt. Die EU fördert zwar bereits den Export. Doch die USA, die Türkei und andere Länder tun dies auch. „Agrar- produkte um den Globus zu schippern kann nicht die Lösung sein“, sagt der grüne Europaparlamentarier Martin Häusling. Die Orientierung auf den Weltmarkt fördere die Produktion von Massenware und schade der Entwicklung einheimischer Märkte mit existenzsicherndem Einkommen in Drittländern. „Agrarprodukte um den Globus zu schippern kann nicht die Lösung sein“ MARTIN HÄUSLING, GRÜNER EUROPA PARLAMENTARIER Was plant der deutsche Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU)? Erst mal einen Gipfel. Ende Mai wird in Berlin über Auswege aus der Krise beraten, auch über Finanzspritzen oder Bürgschaften für notleidende Betriebe in einem Rahmen „von 100 Millionen + x“. „In dieser schwierigen Situation müssen alle Kräfte in der Wertschöpfungskette zusammenarbeiten, um eine leistungsstarke deutsche Milchwirtschaft zu erhalten.“ Das sagte Schmidt? Nein, es war Ilse Aigner (CSU) nach einem Milchgipfel 2008. Damals war sie die Landwirtschaftsministerin. Im Jahr darauf kippten die Bauern ihre Milch auf ihre Äcker, so niedrig waren die Preise. Der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter (BDM) will Agrarminister Schmidt bis zum Gipfel übrigens nicht mehr aus den Augen lassen: Landwirte haben sich vor seinem Wahlkreisbüro im bayerischen Neustadt/Aich postiert – samt Kuh. „Das System wendet sich gegen die Landwirte selbst“ MILCHPREIS Es ist menschlich, zur billigeren Butter zu greifen, sagt Robert Habeck, grüner Landwirtschaftsminister aus Schleswig-Holstein taz: Herr Habeck, auch in Ihrem Bundesland SchleswigHolstein sterben die Milchviehhöfe. Wie verändert das das Land? Robert Habeck: Dramatisch. Wenn das Höfesterben in diesem Tempo weitergeht, könnten in fünf Jahren die Hälfte der Milchbauern verschwunden sein. Familien verlieren ihre Existenz, wir kriegen Dörfer ohne Bauern, Kaufkraft geht verloren, die Entfremdung zwischen Verbrauchern und Bauern wird immer größer. Das Gesicht des Landes würde sich verändern. Ein solcher Strukturbruch kann politisch nicht einfach hingenommen werden. Was können Sie als Landesminister machen? Die Milchmenge muss runter, die Preise müssen rauf. Das geht nicht auf Landesebene. Deshalb habe ich mit meinen grünen Amtskollegen hart gekämpft, dass Bund und EU die Krise angehen. Bei der letzten Agrarministerkonferenz endlich mit unerwartetem Erfolg. Erstmals haben alle Agrarminister staatliche Maßnahmen zur Mengenreduzierung gefordert. Wenn das bis zum September nicht über freiwillige Maßnahmen funktioniert, muss der Bund dafür sorgen, dass es auf EU-Ebene zu obligatorischen Maßnahmen kommt. Jetzt kann der Bund die Krise nicht mehr ignorieren. Stark finde ich, dass mehr und mehr Bauern auch nicht mehr in diesem Hamsterrad arbeiten wollen. Es geht ja nicht nur den Milchbauern schlecht; die Schweinemäster etwa leiden auch unter Ramschpreisen. Haben wir eine Agrarkrise? Ja. Das System von „immer billiger, immer mehr“ hat sich überhitzt. Es wendet sich gegen die Landwirte selbst, gegen Tiere, Umwelt, Natur und Gewässer. Wir brauchen ein Umdenken und Umsteuern, und das ist im Interesse der Landwirtschaft, nicht gegen ihres. Dürfen sich denn wenigstens die Verbraucher über die niedrigen Agrarpreise freuen? Dass man zur billigeren Milch und billigeren Butter greift, wenn man an der Ladentheke steht, ist menschlich. Aber daraus wird kein Argument gegen eine andere Agrarpolitik. Der Handel sollte sich seiner ethischen Verantwortung stellen und die Landwirte gut bezahlen. In den vergangenen Jahren schwankte der Erzeugerpreis für Milch zwischen 46 und 23 Cent, der Absatz aber ist stets gleichgeblieben. Das zeigt doch, dass ein höheres Preisniveau möglich ist, ohne dass Supermärkte pleitegehen. Und bei den Verbraucherpreisen reden wir über Robert Habeck ■■Minister: Der 46-Jährige ist seit 2012 Landwirtschaftsminister und Vizeministerpräsident in Schleswig-Holstein. ■■Kandidat: Bei der Bundestagswahl 2017 möchte er als Spitzenkandidat seiner Partei antreten. Foto: dpa Centaufschläge. Wie lässt sich diese Krise langfristig lösen? Es hat sich ein System etabliert, in dem für immer weniger Geld immer mehr produziert werden muss. Aus diesem System müssen wir einen Ausweg finden. Dazu gehört, die EU-Agrarförderung zu reformieren. Sie muss Umweltschutz, Gewässerschutz, Tierschutz attraktiver machen und unbürokratischer werden. Wir geben Milliarden für die Landwirtschaft aus, ohne Effekt. Das Geld sollte zielgerichtet ausgegeben werden und an die Bauern und Bäuerinnen fließen, nicht an die Bodenbesitzer. INTERVIEW: HEIKE HOLDINGHAUSEN
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