taz.die tageszeitung

Udo Lindenberg: Der Rambo-Zambo wird 70
Die taz gratuliert dem Näsel-Rocker gleich sechsfach ▶ Seite 15
AUSGABE BERLIN | NR. 11019 | 20. WOCHE | 38. JAHRGANG
DIENSTAG, 17. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Union sagt Ja
zu Nein
heißt Nein
Glück auf!
H EUTE I N DER TAZ
CDU will
Sexualstrafrecht
deutlich verschärfen
VERGEWALTIGUNG
FRANKFURT/PARIS epd/dpa | Die
KLIMAPROTEST Tausende
POLITISCHES LIED
Die Ukrainerin Jamala
gewinnt mit einem Lied
über Krimtataren den
Eurovision Song Contest. Russische Politiker
­wittern Betrug ▶ SEITE 13
DemonstrantInnen
blockieren 48 Stunden lang
ein Braunkohlekraftwerk
in Brandenburg. Sie
fordern die sofortige
Energiewende, um aus
den Tiefen des CO2Zeitalters wieder
herauszukommen
▶ SEITE 2, 3, 9
HIN UND WEG Warum
ein nach Berlin geflüchteter Kurde zurück in
den Irak geht ▶ SEITE 5
AUSTAUSCH Die
Projekte von Berlin und
Breslau ▶ SEITE 21, 23
Große Koalition will das Sexualstrafrecht laut Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung noch
vor der Sommerpause verschärfen und den Tatbestand der Vergewaltigung deutlich ausweiten.
Das habe die rechtspolitische
Sprecherin der Unionsfraktion,
Elisabeth Winkelmeier-Becker,
angekündigt. Im Gegensatz zur
bisherigen Regelung solle als
Vergewaltigung auch gelten,
wenn ein eindeutiges Nein bei
der körperlichen Annäherung
missachtet wird. In Frankreich
haben derweil ehemalige Ministerinnen appelliert, sexuelle
Übergriffe von Männern offensiv anzuprangern.
▶ Portrait SEITE 2
▶ Inland SEITE 7
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Schlagabtausch
in Österreich
Fotos oben: dpa
VERBOTEN
WIEN dpa/taz | Eine Woche vor
Griaß Goddle midanandr,
liebe StuttgarterInnen!
Was dem Guardiola-Pep mit
seinen Bayern in drei Jahren
harter Arbeit nicht gelungen
ist, das legt ihr mal eben locker
an einem Wochenende hin:
das Triple! Erst besiegelt euer
VfB den Abstieg aus der Bundesliga. Dann kann sich dessen zweite Mannschaft nicht in
der 3. Liga halten. Schließlich
schaffen noch die Stuttgarter
Kickers in einem Herzschlag­
finale den Abstieg in die Viertklassigkeit. Respekt! Ihr könnt
halt alles, außer Fußball. Ausschlaggebender Erfolgsgarant
war laut verboten-Taktikanalyse aber etwas, was es bei den
Bayern nie geben würde:
Grün-Schwarz.
„Lasst es im Boden“: eine der Blockiererinnen, gezeichnet vom tagelangen Protest im Kohlestaub Foto: Paul Lovis Wagner
der entscheidenden Stichwahl
am 22. Mai haben sich die beiden Präsidentschaftskandidaten in Österreich in einem TVDuell einen unerwartet aggressiven Schlagabtausch geliefert.
Der von den Grünen unterstützte
Wirtschaftsprofessor
Alexander Van der Bellen, 72,
und der Rechtspopulist Norbert Hofer, 45, von der FPÖ traten ohne Moderator und Themenvorgabe gegeneinander an.
Politikberater, die den Auftritt
im österreichischen Privatsender ATV analysierten, sprachen
von einem „Schlamm-Catchen“.
Die Schriftstellerin Marlene
­Stree­ru­witz bezeichnet derweil
im taz-Interview den Austausch
des SPÖ-Kanzlers, der Mittwoch
vollzogen werden soll, als „Mobbinggeschichte“.
▶ Schwerpunkt SEITE 4
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KOMMENTAR VON MARTIN KAUL ZU DEN BRAUNKOHLEPROTESTEN
D
ieser Polizeieinsatz hat Maßstäbe
gesetzt. Man muss sich das vorstellen: Da marschieren Hunderte
Kohlegegner völlig ungehindert in einen Braunkohletagebau, tanzen zwei
Tage lang auf Schaufelradbaggern und
schneiden ein Energiekraftwerk von
der Versorgung ab, bis dieses die Leistung empfindlich drosseln muss. Polizei
und Justiz? Können darin weder Hausfriedensbruch noch Nötigung erkennen.
Das ist, kann man sagen, durchaus lässig gelaufen.
Bei den Anti-Kohle-Protesten, die am
Pfingstwochenende in der Lausitz stattfanden, konnten es selbst die rund 3.000
Klimaaktivisten kaum fassen. Sie waren
Tage der offenen Tür
aus ganz Europa gekommen, um zivilen Ungehorsam zu verüben. Doch die
Staatsgewalt legalisierte im Handumdrehen eine ganze Bewegung. So einfach kann das mit der Rechtsauslegung
also sein. Das zeigt, wie politisch Polizeieinsatztaktiken gelesen werden müssen.
Dass die Staatsgewalt so historisch
defensiv vorging, ist vor dem Hintergrund der politischen Lage verständlich. Die Energiewende ist beschlossen,
die Kohle ein Auslaufmodell, und der Vattenfall-Konzern, der der Lausitz bald den
Rücken kehrt, hat sich in der Region unbeliebt gemacht. Kurz: Dass die rot-rote
Landesregierung in Brandenburg den
schwedischen Konzern so allein daste-
hen lässt, vermittelt eine klare Botschaft:
Es ist nicht mehr selbstverständlich, sich
für eine Ideologie von gestern noch die
Finger schmutzig zu machen.
Die Entscheidung, bei Protesten, die
ebenfalls als historisch gelten dürfen,
einen Polizeieinsatz durchzuführen, der
über weite Teile den Namen gar nicht
verdient, ist außerdem mutig. Erstmals
war in der Lausitz zu beobachten, dass es
Keiner will sich für eine
Ideologie von gestern die
Finger schmutzig machen
eine Einsatzleitung wagte, den liberalen
Traum einer offenen Bürgergesellschaft
und einer zurückhaltenden Polizei radikal umzusetzen. Das ging nicht nur politisch auf, sondern auch einsatztaktisch:
Bilder von brennenden Barrikaden oder
Scharmützeln zwischen Demonstranten
und Beamten blieben aus – auch weil gar
keine Gegner in Sicht waren. Erst als die
Besetzer auf das innere Kraftwerksgelände vordrangen, griffen die Beamten
zu. Ja, was denn sonst?
Und so hat die Brandenburger Polizei
an diesem Wochenende ein neues Einsatzmodell in Deutschland eingeführt.
Als Diskussionsgrundlage für die nächste
Innenministerkonferenz taugt es allemal.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Schwerpunkt
DI ENSTAG, 17. MAI 2016
BraunkohleProteste
PORTRAIT
Nicht alle Lausitzer waren von den Blockierern begeistert.
Die Polizei jedoch verfolgte eine Deeskalationsstrategie
Friede den Hütten
SICHERHEIT Die brandenburgische Polizei reagiert mit bemerkenswerter Zurückhaltung
Schreibt gegen Sexismus an:
Roselyne Bachelot Foto: reuters
Die Frau, die
laut Nein sagt
D
er Skandal um den grünen
Vizechef der Nationalversammlung, Denis Baupin,
der von mehreren Kolleginnen
der sexuellen Aggression und
Belästigung beschuldigt wird,
hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Französische Frauen in
der Politik wollen nicht länger
schweigen. 17 ehemalige Ministerinnen aus allen Lagern haben
ein Manifest gegen den männlichen Sexismus in politischen
Kreisen publiziert, um das ungeschriebene Gesetz des Schweigens aus Scham zu brechen. „Die
Straflosigkeit ist zu Ende“ verkündet dieses Manifest.
Erstunterzeichnerin ist die
frühere Ministerin und Abgeordnete Roselyne Bachelot.
Wie die anderen Politikerinnen
spricht sie aus leidiger Erfahrung. Sie protestiert gegen die
Reaktion gewisser Kollegen, die
das Problem verharmlosen oder
meinen, so etwas komme nur
bei den „anderen“ vor. „Nichts
ist so gleichermaßen verbreitet
unter den Parteien wie der Sexismus“, unterstreicht sie. Und
darum müssten die Frauen solidarisch sein und, wenn nötig,
ein Exempel statuieren.
Als im Parlament einer ihrer
konservativen Parteikollegen
während der Rede von Ministerin Ségolène Royal in den Saal
schrie „A poil!“ (was so viel bedeutet wie „Ausziehen“), hatte
Bachelot den sexistischen Rüpel am Kragen gepackt und ihm
ins Gesicht geschleudert: „Verstehst du nicht, dass du auch
mich beleidigst, wenn du sie beschimpfst?“ Bisher wurden solche Vorfälle in allen Parteien
beschämt oder gar belustigt als
„Anekdote“ unter den Teppich
gekehrt.
Bachelot (69) hat die Politik
an den Nagel gehängt. Sie war
schon vorher auf Distanz zu ihrer Partei gegangen, in der sie
bei der Homo-Ehe gegen den
Strom schwimmen musste und
deswegen mit sexistischen Anspielungen angefeindet wurde.
Heute ist Bachelot vor allem
aus Talkshows bekannt, wo sie
gern mit frechen Sprüchen provoziert. Weil sie selbst alles andere als prüde ist, besteht sie auf
den kleinen, aber wichtigen Unterschied: „Wenn eine Frau nein
sagt, dann heißt das nein!“ –
was offenbar zahlreiche Politiker von links und rechts noch
immer nicht begriffen haben.
Zusammen mit den 16 anderen
Exministerinnen gibt sie diesen
gern den nötigen Nachhilfeunterricht.
RUDOLF BALMER
auf Proteste in der Lausitz. Wer Schienen oder Bagger blockiert hat, bleibt unbehelligt
AUS WELZOW MALTE KREUTZFELDT
UND MARTIN KAUL
Es war eine ungewöhnliche
Form der Zusammenarbeit, als
die Polizei am Sonntagnachmittag erstmals direkten Kontakt zu den Anti-Kohle-Aktivisten in der Lausitz aufnahm,
die seit mehr als 24 Stunden
die Gleise vor dem Kraftwerk
„Schwarze Pumpe“ besetzt hielten. Der Einsatzleiter, ein Mann
mit breitem Kreuz und kahlem
Schädel, fordert die Schienenblockierer freundlich auf, die
Gleise jetzt doch bitte zu verlassen – und eine junge Frau,
die die Proteste mit organisiert
hat, übersetzt seinen Wunsch
mit dem Polizeimegafon für
die ausländischen AktivistInnen ebenso freundlich ins Englische. Wer dieser Aufforderung
innerhalb einer halben Stunde
nachkomme, sagt der Einsatzleiter noch in ruhigem Ton, brauche keine Personalien anzugeben und könne unbehelligt abziehen.
Mit dieser Ansage machte die
Polizei wahr, was sie angekündigt hatte: einen extrem zurückhaltenden Einsatz, der auf Deeskalation zielte. „Wir halten uns
bei allen Grundrechtseingriffen
an rechtsstaatliche Grundsätze
und achten genau auf die Verhältnismäßigkeit“, sagte Polizeisprecherin Ines Filohn.
Die Staatsanwaltschaft in
Cottbus hatte im Vorfeld der
Massenproteste in der Lausitz
erklärt, dass ein Betreten des
Vattenfall-Tagebaus nicht als
Hausfriedensbruch gewertet
werde, weil das Gelände nicht
eingezäunt oder klar gekennzeichnet sei. Die Polizei unternahm darum keinerlei Versuch,
die Anti-Kohle-AktivistInnen
„Wir achten genau
auf die Verhältnismäßigkeit“
POLIZEISPRECHERIN INES FILOHN
auf ihrem Weg in den Tagebau
oder auf die Gleise aufzuhalten.
Selbst das Besetzen von Schienen oder Baggern wurde nicht
als Straftat gewertet. „Nötigungen durch Eingriffe in die Betriebsabläufe des Unternehmens wegen des Besetzens in
verschiedenster Form von Gleisanlagen oder Klettern auf Großgeräte sind ebenfalls nach erster
Bewertung durch die Staatsanwaltschaft nicht strafrechtlich
relevant“, teilte die Polizei Cottbus mit. Und zwar, weil Vattenfall den Betrieb vorsorglich ohnehin eingestellt habe.
Die meisten der über 2.000
Personen, die sich im Laufe des
Wochenendes an den diversen,
bis zu 48-stündigen Blockaden
im Tagebau oder auf den Schienen der Kohlebahnen beteiligten, blieben darum von der Polizei unbehelligt. Festnahmen gab
es nur, nachdem einige Aktivisten einen Zaun umgerissen hatten und daraufhin etwa 300 Personen ins innerste Kraftwerksgelände eingedrungen waren.
Ihnen wird L­ andfriedensbruch
vorgeworfen. Auch von etwa 270
BesetzerInnen, die Schienen
und Tagebau bis zum frühen
Sonntagabend nicht freiwillig
verlassen haben oder sich dort
angekettet hatten, versuchte die
Polizei, die Identität festzustellen, 36 von ihnen wurden in Gewahrsam genommen. Am frühen Montagmorgen waren alle
wieder auf freiem Fuß.
Innerhalb der brandenburgischen Landesregierung scheint
dieser zurückhaltende Kurs
der Polizei, die dem Innenministerium untersteht, und der
Staatsanwaltschaft, die in der
Zuständigkeit des Justizministeriums liegt, nicht unumstritten zu sein. „Die illegalen Aktionen in Form einer anmaßenden Form von Selbstjustiz sind
vollkommen inakzeptabel und
müssen mit der vollen Härte des
Rechtsstaats geahndet werden“,
forderte SPD-Wirtschaftsminister Albrecht Gerber am Sonntag.
Dieser Wunsch, das steht inzwischen fest, blieb unerfüllt.
„Keine
Übergriffe
gesehen“
SPD-Mann
Ulrich Freese lehnt
„Ende Gelände“ ab
REAKTIONEN
taz: Herr Freese, Sie haben am
Samstag in der Lausitz gegen
die Aktion „Ende Gelände“ demonstriert. Warum?
Ulrich Freese: Ich wollte zeigen,
dass ich an der Seite der Menschen stehe, die hier im Tagebau und im Kraftwerk Arbeit haben. Zudem finde ich die AntiKohle-Proteste nicht akzeptabel.
Die Veranstalter mussten wissen, dass sie Leute aus ganz Europa einladen, die nicht gewaltfrei protestieren wollen. Und so
ist es ja auch gekommen. Das
Werksgelände ist erstürmt worden, es gab Sachbeschädigungen. Die Veranstaltung war an
vielen Stellen gesetzeswidrig.
Das sah die Polizei offenbar anders. Sie hat die Besetzung von
Schienen und Baggern hingenommen und hält sie nicht für
strafbar.
Dass die Polizei zunächst eine
Deeskalationsstrategie an den
Tag gelegt hat, verstehe ich. Aber
als Landfriedensbruch begangen wurde, hat sie die notwendigen Aktivitäten entwickelt.
Aus Reihen der Teilnehmer der
Pro-Kohle-Demo hat es Attacken auf Anti-Kohle-Aktivisten
gegeben, auch Rechtsextreme
haben später Teilnehmer von
„Ende Gelände“ angegriffen.
Haben Sie sich in schlechte Gesellschaft begeben?
Nein, das muss man klar trennen. Bei der Kundgebung habe
ich keine Neonazis wahrgenommen und keine Übergriffe gesehen. Ob es später, nach dem offiziellen Ende der Kundgebung,
dazu gekommen ist, kann ich
nicht sagen.
Dafür gibt es Augenzeugen.
Wenn das so gewesen sein sollte,
verurteile ich das aufs Schärfste,
weil das den guten Eindruck unserer spontanen Veranstaltung
zunichtemachen würde. Ich begrüße auch, dass die Polizei später in Spremberg eine Ansammlung von bekannten Neonazis
unterbunden hat, um mögliche
Gewalt gegen die Klima-Aktivisten zu unterbinden.
INTERVIEW MALTE KREUTZFELDT
Ulrich Freese
Das blieb eine Ausnahme: Polizisten räumen die Bahnstrecke zum Kohlekraftwerk „Schwarze Pumpe“ Foto: M. Golejewski/Adora Press
■■Der 65-jährige Brandenburger
sitzt für die SPD im Bundestag.
Daneben ist er Mitglied im
Aufsichtsrat von drei VattenfallGesellschaften.
Bürgerprotest und Gewalt von rechts
ANTI-ANTI-KOHLE
Wiederholt werden die AktivistInnen von „Ende Gelände!“ von Kohlebefürwortern und Rechten angegriffen
WELZOW/PROSCHIM taz | Wäh-
rend es mit der Polizei kaum
Konflikte gab, mussten sich die
Klima-AktivistInnen in der Lausitz am Wochenende mit anderen Gegnern auseinandersetzen. Immer wieder kam es zu
Pöbeleien durch Anwohner sowie zu teils massiven Übergriffen durch Rechtsextreme.
Am Samstagabend hatten
sich nach einem spontanen
Aufruf auf Facebook über 1.000
Menschen vor dem Kraftwerk
„Schwarze Pumpe“ in Sprem­
berg versammelt, um gegen des-
sen Erstürmung durch KlimaAktivisten zu protestieren. Unter
ihnen waren viele Vattenfall-Arbeiter und Gewerkschafter mit
IG-BCE-Fahnen. Auch der SPDBundestagsabgeordnete Ulrich
Freese beteiligte sich (siehe Interview rechts). Als die Teilnehmer anschließend an Klimaaktivisten vorbeikamen, die nach
der Kraftwerkserstürmung in
einem Polizeikessel saßen, flog
nach Aussage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Annalena
Baerbock ein Knallkörper auf
die Kohlegegner.
Im Anschluss an die Demonstration kam es in unmittelbarer
Nähe zu einer Auseinandersetzung, als Rechtsextreme versuchten, zur Schienenblockade
vor dem Kraftwerk vorzudringen und Klimaaktivisten bedrohten. Auch das Fahrzeug
der taz, das als solches gekennzeichnet war, wurde von einer
Menschenmenge attackiert und
musste von der Polizei geschützt
werden. Später versuchte ein
Fahrzeug mit lokalem Kennzeichen, den taz-Bus von der Straße
zu drängen.
Auch im weiteren Verlauf des
Wochenendes kam es zu tätlichen Übergriffen durch Rechte.
Eine Mahnwache in Terpe, an
der die Fahrräder von Klimaaktivisten bewacht wurden, wurde
in der Nacht von etwa zehn Männern mit Eisenstangen angegriffen, berichten Augenzeugen.
Die Umweltaktivisten konnten im letzten Moment fliehen.
In der Nacht zu Montag griffen Rechtsextreme nach Aussagen des Bündnisses „Ende Gelände“ auch das Protestcamp
an. Mindestens zwei Klimaakti-
visten seien zusammengeschlagen worden, eine Person wurde
in die Klinik gebracht. Diese Aktion wurde – im Gegensatz zu
den anderen Vorfällen – auch
von der Polizei bestätigt.
Die Beamten hätten Platzverweise gegen 57 Personen erteilt, die überwiegend „der rechten Szene zuzuordnen und zum
Teil auch der Polizei als Straftäter rechtsmotiviert bekannt“
gewesen seien, teilte die Polizei
Cottbus mit.
MALTE KREUTZFELDT
MARTIN KAUL
Schwerpunkt
DI ENSTAG, 17. MAI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Eine Demonstration als logistisches Meisterstück: Wie mehrere tausend Menschen
den Braunkohleabbau von Vattenfall lahmlegen und dabei auch noch viel Spaß haben
Einfach mal abschalten: hier auf einem Kohleförderband im Tagebau Welzow Foto: Tim Wagner/350.org
Bisschen staubig das Ganze: besetzte Verladestation am Tagebau Foto: M. Golejewski/Adora Press
Ausnahmsweise Gegenwind: AktivistInnen prüfen die Großwetterlage Foto: Christian Mang
Stets in Uniform: „Ende Gelände“-Aktivisten unterwegs zur nächsten Besetzung Foto: Christian Mang
Im Vorwärtsgang, im Rückwärtsgang
DEUTSCHLAND Rund 3.000 Menschen besetzen zwei Tage lang Tagebauanlagen und ein Kohlekraftwerk in der Lausitz. Ihre
Infrastruktur ist beachtlich: Sie kommen mit Sprechfunkanlagen, mobilen Dixi-Klos und einem Shuttle-Service zur Blockade
AUS WELZOW MARTIN KAUL
UND MALTE KREUTZFELDT
Es ist Samstag, 10.32 Uhr, als ein
Mann in einem weißen Overall fast unbemerkt vor sich hin
spricht: „Hinten steht alles. Es
kann losgehen.“ Die Funkvorrichtung, die von seinem Ohr
am Kinn entlang zu einem
Funkgerät am Gürtel führt,
ist kaum sichtbar, aber doch:
Da steckt ein Knopf in seinem
Ohr. Ein kleines Mikrofon verbirgt sich abgeschirmt in seiner
rechten Hand. Er gibt den Startsignal an die Spitze des Besetzermarsches. Die Aktion beginnt.
Rund 400 Menschen in weißen Ganzkörperanzügen stehen jetzt, aufgestellt zu einem
Block, bereit. Ein Shuttle-Service
aus acht Reisebussen hat sie soeben in dem kleinen Ort Terpe
in Brandenburg, nahe dem Kohlekraftwerk Schwarze Pumpe,
abgesetzt. Und dann ziehen sie
los auf die Schienen, vorbei am
Ortsausgangsschild von Terpe.
Darauf steht: „Glückauf“. Der
Gruß der Kohlearbeiter.
45 Minuten später ist der zentrale Schienenknoten, über den
das brandenburgische Energiekraftwerk Schwarze Pumpe mit
Braunkohle aus den umliegenden Tagebauten beliefert wird,
von einer Blockade betroffen.
Zwei besetzte Schaufelradbagger. Eine besetzte Verladestation. Ein von einer Betonpyramide blockiertes Gleis. Eine
von Kletteraktivisten besetzte
Brücke. Und schließlich ein
Sturm auf das Kraftwerksgelände selbst, bei dem einige an
den Türen zur Schaltleitzentrale
rütteln: Insgesamt rund 3.000
Menschen haben am Wochenende das Kraftwerk vom Kohle­nachschub abgeschnitten.
Als am Samstagnachmittag die Blockaden seit teilweise
über 24 Stunden stehen, hat die
Anlage ihre Leistung bereits gedrosselt. Von den zwei Kühltürmen dampft nur noch einer. Betreiber Vattenfall wird später
vermelden: Nur die zusätzliche
Energieerzeugung durch starken Wind verhindert an diesem
Wochenende einen Energieengpass in der Region.
Erst am Sonntagnachmittag,
als die Aktivistinnen aus ganz
Europa ihre Blockaden nach
über 48 Stunden beenden und
die Polizei die letzten von ihnen
schließlich doch räumt, normalisiert sich die Situation. Es war
eine historische Kraftwerksblockade. Sie hat eine lange Vorgeschichte und wurde organisiert
von einer jungen europäischen
Klimabewegung, die sich vor allem auf eines versteht: Logistik.
Ebenfalls an diesem Samstag, einige Stunden später, setzt
wenige Kilometer vom Örtchen
Terpe entfernt ein großer Jubel
ein. Hier, an der Verladestation
zwischen Tagebau und Kohlekraftwerk, haben sich bereits
am Freitag Hunderte Klimaaktivisten eingerichtet.
Oben auf dem Turm der
Dutzende Meter hohen Anlage
haben französische Umwelt­
aktivistinnen ihr Quartier aufgeschlagen. Darunter ruhen
Besetzer aus Schweden, Tschechien und Polen, versteckt hinter provisorisch errichtetem
Windschutz und Transparenten.
Und unten, zwischen den Gleisen, wo sich am Boden zentimeterhoch feinster Kohlestaub
angesammelt hat, liegen einige
hundert auf Isomatten und
Strohsäcken im Staub. Sie tragen Mundschutz. In ihren Nasen- und Augenwinkeln, in ihren Ohrmuscheln hat sich porentief Staub abgesetzt.
Nun, am Samstag um
17.14 Uhr, klatschen und jubeln
sie alle. Gerade treffen zwei
frische Dixi-Toiletten ein. Ein
Transporter bringt sie auf einem Anhänger. Auch an Essen
mangelt es ihnen nicht. Alle
paar Stunden kommt das Logistikteam aus dem Protestcamp
mit Nachschub in großen Töpfen: Für all die Hunderte, die da
draußen irgendwo das Kohlekraftwerk blockieren, die Schienen oder den Tagebau gibt es
am Wochenende den Lieferservice frei Haus: warme Pastinakencremesuppe, Rote-Beete-Salat. Manche sagen, was hier geboten wird, tauge als Reisepaket
– bei Neckermann Adventures.
Denn es gibt ja nicht nur Angebote in Sachen Aktivurlaub, es
gibt hier für alle auch die Chillout-Arena: In einem hellblauen
Zelt in dem Protestcamp bei Proschim, wo es WLAN und Vollverpflegung gibt, hat das Welcoming-Team eine Lounge einge-
richtet. Dort liegen Kissen und
Decken auf dem Boden bereit,
der Empfangsschalter ist mit
frischen Blumen dekoriert. Es
fehlen hier nur die organisierten Fußmassagen, aber da legen die Aktivistinnen und Aktivisten gegenseitig Hand an. Entspann dich, du kannst das.
Dass die Stimmung an diesem Pfingstwochenende beim
mutmaßlich größten Basisgruppentreffen von Klimaaktivistinnen lange so außerordentlich entspannt war, hatte einen
Grund: Polizei und der Betreiber
Vattenfall ließen sie zwei Tage
lang bei fast allem, was sie taten,
gewähren (siehe Seite 2).
Offenbar sollte sich nicht wiederholen, was sich bei einer Vorgängeraktion im August 2015 im
Tagebau Garzweiler ereignet
hatte. Dort hatten sich der Werkschutz von RWE und die Polizei
mit den Besetzern heftige Auseinandersetzungen in der Tagebaugrube geliefert und sich damit viel öffentliche Kritik eingehandelt – auch weil die Polizei
sich teils in RWE-Fahrzeugen
durch die Gelände fahren ließ.
Und so empfing auch der Vattenfall-Konzern die Besetzer
dieses Mal mit liberaler Pose:
Die Betreiberfirma hatte die Arbeiten im Tagebau Welzow-Süd
bereits vorsorglich eingestellt
und ihre Mitarbeiter angewiesen, freundlich und kooperativ
mit den anrückenden Umweltaktivisten umzugehen. Das taten sie, sofern sie im Dienst waren, auch tatsächlich. Und doch
Weltweite Aktion
■■Break Free 2016 heißt die globale Kampagne, zu der als größte
Veranstaltung auch die Proteste
in der Lausitz gehören. Vom 3.
bis zum 15. Mai beteiligten sich
laut Organisatoren weltweit über
30.000 Menschen an 20 Aktionen auf sechs Kontinenten.
■■In Wales besetzten 300 Aktivisten letzte Woche Ffos-y-fran,
den größten Kohletagebau des
Vereinigten Königreiches.
■■Auf den Philippinen forderten
10.000 Demonstranten den
Ausstieg aus der Kohle.
■■In Neuseeland besetzten Hunderte die ANZ-Bank, die klimaschädliche Projekte finanziert.
■■In Australien blockierten
Kajakfahrer den weltweit größten
Kohlehafen in Newcastle.
■■In den USA, Brasilien, Indonesien und der Türkei liefen
weitere Protestaktionen.
■■Mehr Info:
http://de.breakfree2016.org (rr)
„Wir werden hier
einfach von allen im
Stich gelassen: von
der Polizei, von der
Landesregierung und
auch von Vattenfall“
EIN VATTENFALL-MITARBEITER
waren viele von ihnen offensichtlich fassungslos über den
Verlauf der Besetzung.
Stephan Kliesch, 32, arbeitet
als Hilfsgerätefahrer am Tagebau Welzow-Süd. Er steht an diesem Pfingstsonntag am Fuße einer besetzten Gleisbrücke und
blickt zu den Besetzern hoch.
„Wir“, sagt Vattenfall-Arbeiter
Kliesch, „werden hier einfach
von allen im Stich gelassen: von
der Polizei, von der Landesregierung und auch von Vattenfall.“
Sein Arbeitgeber will die Kohleförderung, von der in der Region Tausende Arbeitsplätze abhängen, beenden und das zunehmend unrentable Geschäft
mit dem fossilen Brennstoff
abstoßen. Dafür will Vattenfall
dem neuen Besitzer sogar noch
1,7 Milliarden Euro zusätzlich
zahlen. Kliesch sagt: „Diese Aktivisten pissen und scheißen hier
auf unsere Geräte. Die können
hier machen, was sie wollen. Da
bist du einfach verloren.“
Ein paar Meter hinter ihm
stehen noch andere Anwohner,
darunter ein Mann mit einer
Glatze, der einen Elektroschocker in der Hand hat. Ein Klimaaktivist will gerade mit seinem Auto den Parkplatz verlassen. Der Mann hält seinen
Elektroschocker vor das Auto
und betätigt ihn. Es surrt. Dann
sagt er zu dem Klimaaktivisten: „Leg den Rückwärtsgang
ein.“ Und das tut der Klimaaktivist in seinem roten Transporter dann auch. Schließlich ist ja
keine Polizei da.