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A. Karla: Revolution als Zeitgeschichte
Karla, Anna: Revolution als Zeitgeschichte. Memoiren der Französischen Revolution in der Restaurationszeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. ISBN: 978-3-525-36845-9; 366 S.
Rezensiert von: Helena Toth, Otto-FriedrichUniversität, Bamberg
Die erste Memoirensammlung von Teilnehmern der Französischen Revolution, die
„Collection des Mémoires relatifs à la Révolution française“, präsentierte unterhaltsame
Lektüre, die mit einem Anmerkungsapparat
versehen einen wissenschaftlichen Anspruch
erhob und zugleich eine äußerst erfolgreiche
Geschäftsidee darstellte. Sie verkörperte einen in der Spätaufklärung formulierten Modus der Geschichtsschreibung und leistete politische Bildungsarbeit, denn die Revolutionsmemoiren nahmen eine besondere Position
auf dem aufblühenden Memoirenmarkt der
Restaurationszeit in Frankreich ein. Die einheitlich gebundenen Bände, die der Verlag
Baudoin Frères zwischen 1820 und 1830 auf
den Markt brachte, waren nicht billig, wurden aber dennoch breit rezipiert. Sie wurden
in den Lesekabinetten von Paris mit genauso viel Aufmerksamkeit gelesen wie in der
Provinz, und fanden europaweit eine begeisterte Leserschaft. Anna Karla nimmt die Geschichte der „Collection des Mémoires“ als
Ausgangspunkt für ihre faszinierenden Studie über eine grundsätzliche Frage der Geschichtsschreibung, nämlich „wie [sich] Memorialistik und Historiographie [sich] zueinander verhalten“ (S. 215).
Das ausgesprochen gelungene Buch können Zeithistoriker mit genauso viel Gewinn
lesen wie Historiker der Restaurationszeit
und der Buchgeschichte im Allgemeinen.
Anhand von Archivquellen des Verlagshauses Frères Baudoin, persönlicher Korrespondenzen, Zeitungsquellen aus der Zeit, literarischer Quellen und der Memoirenbänder
selbst untersucht Karla die „Collection“ in Bezug auf drei Zusammenhänge. Der erste Teil
der Analyse ist dem ‚Geschichtsmarkt‘ und
der Gedächtniskultur in Frankreich um 1820
gewidmet. Im zweiten Teil geht die Autorin
anhand von zehn Beispielen aus der Sammlung den narrativen Strategien der Memoiren nach, um anschließend, im dritten Teil,
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die Rolle der Herausgeber in der Gestaltung
der Memoiren und die Rezeption der „Collection“ nachzuzeichnen. Indem sie überzeugend darlegt, wie die Revolutionserfahrungen und -erinnerungen erst durch den Buchhandel der Restauration, dem ihm zugrundeliegenden spezifischen Leseverhalten bzw.
seiner eigenen Marktdynamik und ihrer Geschichtspolitik historisiert werden konnten,
gelingt es der Autorin zwei Epochen zu verbinden. Es zeigt sich, dass „die Frage nach
den Wechselwirkungen von Restauration und
Revolution [. . . ] geeignet [ist], die Restaurationszeit aus ihrer unrühmlichen Zwitterstellung zwischen den Revolutionen herauszuführen“ (S. 11).
Diese erste Memoirensammlung über die
Französische Revolution umfasste über sechzig Bände und bewegte sich mit ungefähr
2000 Exemplaren pro Band am oberen Rand
der damals üblichen Auflagen. Die Herausgeber versprachen ein neutrales Bild über die
Revolution zu vermitteln, indem sie in der
Sammlung eine Vielfalt der politischen Positionen zu Wort kommen ließen und die Texte mit erklärenden Fußnoten versahen. Ein
Garant der versprochenen Neutralität sollte
der Verlag selbst sein. Das Verlagshaus sah
auf eine lange Familientradition sowohl im
Buchgeschäft als auch in der Revolutionsgeschichte zurück. Der Vater François-Jean Baudoin erbte den Verlag, der vor der Revolution unter anderem Werke von Rousseau
veröffentlicht hatte, er war unter den Unterzeichnern des Ballhausschwurs und wurde von der Nationalversammlung zum „imprimeur national“ gewählt. Die vorrevolutionären Anfänge des Verlagshauses begründeten die Glaubwürdigkeit des Unternehmens
für Jahrzehnte und sicherte auch das Wohlwollen der Literaturbehörde während der Restaurationszeit. Das revolutionäre Erbe hingegen garantierte, dass ehemalige Revolutionsteilnehmer und ihre Familienmitglieder bereit waren, den Herausgebern bei der Betreuung der Texte zusätzliche Informationen zur
Verfügung zu stellen. Die Verlagsgeschichte
und die Entstehungsgeschichte der „Collection“ waren aufs engste verbunden.
Kaum ein Viertel der Bände waren Neuveröffentlichungen. Neuauflagen von bereits veröffentlichten Memoiren und thematische Bän-
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de (um den Sturm der Bastille oder die Flucht
der Königsfamilie) machten den Rest der Serie aus. Ein beeindruckender Anmerkungsapparat verband die Bände und verlieh der Serie inhaltliche Kohärenz. Albin Berville, ein
Anwalt, der sich besonders für die Pressefreiheit einsetzte, und Jean-François Barrière, ein
begeisterter Hobby-Historiker, der neben seinem Beamtenberuf leidenschaftliche Archivrecherchen über die Geschichte der Französischen Revolution betrieb, schrieben die Fußnoten und betreuten die Texte.
Eine der Stärken von Karlas Buch ist die
Konsequenz, mit der die Autorin die selbstinszenierte Neutralität der Sammlung an
der Schnittstelle von Geschichtsphilosophie
der Spätaufklärung, Marktlogik des Buchmarkts und Geschichtspolitik der Restauration kontextualisiert. Memoiren als historische
Quellen wurden am Ende des 18. Jahrhunderts aufgewertet, da unter anderem JeanFrançois Marmontel, André Morellet und
Jean-François de La Harpe argumentierten,
dass die Subjektivität der Memoiren, die sie
früher in den Augen der Historiker als Quelle
diskreditiert hatten, zu ihren Stärken zählte.
„Nicht die Skepsis ob der Parteilichkeit sollte
überwiegen, sondern das Interesse am individuellen Standpunkt des jeweiligen Verfassers. Nicht auf die tendenzielle Unwahrheit
der Memoiren sollte sich der Fokus richten,
sondern auf die ihnen eigene Wahrhaftigkeit.“
(S. 87) Statt Memoiren als historische Quellen aufzugeben, sollten Historiker sie seriell
lesen, um die unterschiedliche Sichtpunkte
miteinander vergleichen zu können und die
Fähigkeit zu entwickeln, sich in die Position ihres Untersuchungsgegenstands zu versetzen. Den notwendigen emotionalen Inhalt,
die „Zuneigung (affection)“, könnte der Historiker am besten aus Memoiren erlernen.
Diese Aufwertung als historische Quellen, die
im Kreise der Académie Française am Ende
des 18. Jahrhunderts diskutiert wurde, verstärkte sich ab 1816 und wurde institutionell durch die Wiedereröffnung der Akademien untermauert. Baudouin Frères war an der
Wiederbelebung der spätaufklärerischen Traditionen direkt beteiligt, indem sie unter anderem Werke von Voltaire und La Harpe veröffentlichten.
Die serielle Lektüre der Memoiren wur-
de nicht nur als Methodik der Geschichtsschreibung postuliert, sondern bot auch ein
lukratives Geschäftsmodell. Die Querverweise in den Fußnoten der „Collection“ zu weiteren Bänden der Sammlung sollten nicht nur
gründliche Editionspraxis belegen, sondern
die Leser auch zur Lektüre bzw. zum Kauf
weiterer Bände der Serie anregen. Wenn die
Gebrüder Baudoin in der Werbebroschüre zur
„Collection“ den Wunsch aussprachen, dass
ihre Sammlung als Fortsetzung „der bereits
veröffentlichen Textsammlungen“ diene, besonders als Fortsetzung von Claude Bernard
Petitots hochangesehener Quellensammlung,
bekannten sie sich zugleich zu etablierten
historisch-philologischen Standards der Editionsarbeit und nutzten den guten Ruf der
„Collection Petitot“ als Gütesiegel für ihr eigenes Unterfangen. Angesichts des großen Interesses an Büchern zu historischen Themen,
von historischen Romanen bis zu Alphonse
Thierrys Geschichte der Revolution, gelang es
den Frères Baudoin etwas Einzigartiges anzubieten, indem sie „Vertreter verschiedener politischen Richtungen zur Mitarbeit bewegen
konnten [. . . ] die sich sonst unversöhnlich gegenüberstanden.“ (S. 105) Die Aneinanderreihung unterschiedlicher Positionen unterstrich
die scheinbare Neutralität der Herausgeber,
sprach die größtmögliche Leserschaft an, füllte die Sammlung mit Manuskripten und garantierte wirtschaftlichen Erfolg.
Die Memorialisten selber, so argumentiert
Karla im zweiten Teil des Buches, schrieben
bewusst als Historiker der Revolution. Sie
begründeten ihre Glaubwürdigkeit als Zeugen mit einer genauer Unterscheidung zwischen Selbsterlebtem und Weitervermitteltem
und dem Verweis auf eigenen Erfahrungen,
die konkret belegt waren. Sogar „Wissenslücken und Gedächtnisschwächen“ verwandelten sie in „eigenwertige Formen der Beglaubigung“ (S. 211). Viele von diesen Beglaubigungsstrategien sind dem Genre der Memoiren eigen. Die Memorialisten folgten den
Konventionen eines etablierten Modus der
Vergangenheitsbewältigung, indem sie „beanspruchten mit ihren Texten, das Revolutionsgeschehen nicht nur darzustellen, sondern es auch zu erklären und zu beurteilen“
(S. 181). Verständlicherweise setzten die Gewinner und Verlierer der Revolution jeweils
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A. Karla: Revolution als Zeitgeschichte
andere Akzente. Revolutionsbefürworter personalisierten die Revolutionschronologie oft,
und beschrieben die Ereignisse in Verbindung
mit der eigenen Biographie, während Revolutionskritiker auf „subjektive Zäsurrhetorik“
in der Regel verzichteten (S. 152). Was die Memoiren aber qualitativ von ihren Vorgängern
unterschied, war die extensive, explizite Reflexionen über Wortwahl, denn eine prägende Erfahrung der Revolution selbst war die
Macht der Revolutionssprache. Politische und
soziale Bezeichnungen waren handlungsstiftend und „um Missverständnissen vorzubeugen, bedurfte es teils langwieriger Erläuterungen“ (S. 198). Die Memorialisten „erhoben die
Sprache, die eigentlich nur Werkzeug hatte
sein sollen, zum Gegenstand der Reflexion“
(S. 199). Der Kampf um die Begriffe war auch
ein Ringen um die Deutung der Revolution,
und die „Collection“ bot einen Rahmen, in
dem dieser Kampf ausgetragen werden konnte.
Im dritten und letzten Teil des Buches betrachtet Karla die Sammlung wieder als Ganzes und zeigt, dass sie nicht nur als Rahmen für „individuelle Revolutionserzählungen“ diente, sondern „auch selbst Revolutionsgeschichte“ schrieb (S. 214). Damit ist der
in der Sekundärliteratur häufig zitierte vermeintliche Gegensatz zwischen memoire und
histoire angesprochen. Die Forschung übernimmt oft mit wenig Kritik die Selbstinszenierung der sogenannten „Generation von 1820“,
die als erste nachrevolutionäre Generation in
der Lage war, die Revolution zu historisieren. Die Rolle der Memoiren übernahm nun
die Geschichtsschreibung (Histoire) der Revolution, wie Adolphe Thiers’ „Histoire de
la Révolution française“ (1823–1827). In der
Darstellung der Entstehungsgeschichte der
„Collection“ weicht Karla die starken Konturen dieser Kategorien auf. Die Herausgeber der Sammlung arbeiteten mit den Methoden der Zeitgeschichte, indem sie Zeugen befragten, Experten rekrutierten und in
den Fußnoten „eine quellengestützte kritischkomparatistische Lesart der Revolution in
Szene“ setzten (S. 230). Adolphe Thiers diente die Sammlung als wichtiger Quellenfundus (rund ein Drittel der Fußnoten der ersten Band seiner Revolutionsgeschichte beziehen sich auf sie). Dazu übernahm er die Er-
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zähltechnik, samt langer Zitate in direkter
und indirekter Rede, und baute Spannungsbögen wie die Memorialisten es auch getan hatten. Indem er unterschiedliche Positionen und Meinungen miteinander kontrastierte, leistete er eine kritische Quellenarbeit
zu der Memoirenleser seit der Spätaufklärung
aufgefordert wurden. Karla resümiert daher:
„Die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, die für die Restaurationszeit im Allgemeinen und für die frühe Historiographie
der Revolution im Besonderen landläufig angenommen wird, bestätigt sich anhand der
zeitgenössisch umfangreichen Memoirenedition nicht“. (S. 258)
Die „Collection“ bewegte sich geschickt
zwischen den Prinzipien der Geschichtspolitik der Restaurationszeit sowie der Revolution, Einheit (union) und Vergessen (oubli ).
Indem die Sammlung eine Vielfalt an politischen Positionen zu Wort kommen ließ, inszenierte sie die Einheit der Restauration, und sicherte sich gleichzeitig eine breite Leserschaft,
die insgesamt ein Bedürfnis nach politischer
Stabilität hatte. Andererseits, indem sie einen
Raum für die Deutungskämpfe um die Revolution öffnete und dabei einen breiten Personenkreis an Autoren miteinbezog, arbeitete sie gegen die Devise des „Vergessens“. Die
Editionspraxis reflektierte insgesamt die Konsensbereitschaft der Restraurationszeit, die
zum Teil auch in den positiven zeitgenössischen Rezensionen abzulesen ist. Gleichzeitig
betont Karla, dass die wohlwollenden Rezensionen auch auf persönliche Netzwerke der
Herausgeber zurückzuführen sind, und also
die Verlagsgeschichte auch in der Rezeptionsgeschichte der „Collection“ eine zentrale Rolle spielt. Insgesamt war die Sammlung alles
andere als neutral. Die politischen Sympathien der Herausgeber ließen sich an Anmerkungsapparat und Textauswahl ablesen. Die
gleiche Sammlung, die am Anfang der 1820erJahre noch für den Wunsch nach politischer
Stabilität und Konsenserzeugung über die Revolution stand, wurde so in der Zweitauflage
am Ende des Jahrzehnts zum Sprachrohr der
liberalen Opposition.
Insgesamt löst Karlas Buch ihren Anspruch
Memorialistik als soziale Praxis darzustellen
trotz gelegentlicher Wiederholungen auf äußerst überzeugende Weise ein. Die grundsätz-
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liche Frage, wie Revolutionserfahrungen historisiert worden sind, also wie Zeitgeschichte
entstand, schwingt konsequent mit, weshalb
die Lektüre anregt, über die Dynamik der Entstehung einer Zeitgeschichte im Allgemeinen
nachzudenken.
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